Der Rekonstruktionismus in Dresden und Potsdam ist populistisch

Ästhetischer Populismus

In Potsdam und Dresden sollen ikonische Bauten der Ostmoderne aus dem Stadtbild entfernt werden. Der stattdessen grassierende Rekonstruktionismus ist Sinnbild einer konservativen Revolution in der Architektur und ihres Ressentiments gegen Reflexion und Erfahrung.
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Nach dem Anschluss der DDR setzte sich im konsumorientierten Alltagsbewusstsein rasch das Stereotyp fest, wonach die sozialistische Architektur trist, grau, monströs, einfallslos, gar unmenschlich sei. Statt »Arbeiterschließfächer« mit Fernheizung, Balkon und privatem Bad galten plötzlich Eigenheime und sanierte Altbauwohnungen als Wohntraum im Osten. Mit der überstürzten Flucht aus dem realsozialistischen Alltag ließ sich, meist üppig subventioniert, durch Abriss und Neubau viel Geld verdienen.

Wo bei einem unvoreingenommenen, aufmerksameren und vergleichenden Blick oft die mit detailreicher Kreativität und Sinn für städtebauliche Ensemblegestaltung, Proportionen und Blickachsen geplante Beton-Moderne einer abwertenden Einschätzung zu stark widersprochen hätte, halfen ungünstige Graustufenfotografien und auf Video gebannte Regentage bei der Diskreditierung der kurz zuvor noch weitgehend akzeptierten und beliebten Architektur. »In den grauen Novembertagen tritt die gruselige Tristesse des Schandflecks am Pirnaischen Platz besonders deutlich an die Oberfläche. (…) Unästhetisch, städtebaulich grotesk, ist es schäbiges Wahrzeichen einer untergegangen Diktatur«, heißt es bei »StadtbilDD«, einer Dresdner Bürgerinitiative für kulturelle Identität und regionaltypische Formensprache, die mit kolonialem Blick auf den Postsozialismus schaut. Doch die Behauptung, dass die DDR einen ausschließlich sorglosen Umgang mit dem historischem Bauerbe gepflegt und intakte Gebäude aus reinem Ideologiedrang gesprengt sowie die »gewachsene, kleinteilige Bebauung« am Reißbrett durch »in­spirationslose Funktionsbauten« ersetzt habe, gehört in die Reihe der Mythen, deren Suggestivkraft weiterhin wirkt.

Tatsächlich war der Städtebau der DDR durch zahlreiche Ambivalenzen geprägt und ihre Architektur einem stetigen politisch-ideologischen, aber auch technologischen Wandel unterworfen, der sich in der Vielfalt der Stile und Interessenkonflikte ausdrückte. Städtebauliche Direktiven bewegten sich dabei stets in einem Spannungsfeld von ideologischen Vorgaben, gestalterischer Utopie, sozialen Notwendigkeiten, politischem Legitimationsdruck, ökonomischen Sachzwängen und technischen Pfadab­hän­gigkeiten. Vor allem die zeitaufwendige Konstruktion zentraler Funktionsbauten wie des Dresdner Kulturpalasts oder des Palasts der Republik in Berlin durchliefen angesichts der schnellen Abfolge von Doktrinen langwierige Planungsphasen, in denen fortgeschrittene Entwürfe nicht selten aufgegeben und mehrfach neu konzipiert werden mussten. In den ehemaligen Bezirksstädten der DDR manifestieren sich diese politischen Brüche auffällig in der zentralen Bebauung der großen Magistralen. Drängender Aufbruchsgeist und kleinbürgerliche Behaglichkeit standen in der Architektursprache oft unvermittelt nebeneinander. Doch im Kontrast zu dieser Vielschichtigkeit dominierten in den Debatten um das architektonische Erbe der DDR lange Zeit vereinfachende und vielfach ideologisch überformte Erzählungen, die den sozialistischen Städtebau ebenso holzschnittartig zeichneten wie das zusammengebrochene Gesellschaftssystem.

 

Architektur als Auftrag und Konfliktfeld

Zu Beginn der fünfziger Jahre führte die Doktrin der »nationalen Tradi­tion« in allen Bezirken der DDR zu einer an regionalen Stilen und lokalen Baustoffen orientierten Gestaltung nach den »16 Grundsätzen des Städtebaus«, in der die »Berücksichtigung der historisch entstandenen Struktur der Stadt« und »das Prinzip des Organischen« ausdrücklich hervorgehoben wurden. Ein Resultat dieser Prinzipien ist das Leipziger Zentrum, das trotz großflächiger Zerstörung weitgehend dem alten Stadtgrundriss nachempfunden ist. Neben den bekannten und oft skandalisierten Sprengungen kriegsbeschädigter Kirchen wurden vielerorts auch Sakralbauten wiederaufgebaut. Die zu dieser Zeit als »formalistisch« geschmähte klassische Moderne und der sozialistische Konstruktivismus wurden erst 1955 politisch rehabilitiert, als man unter der Losung »Schneller, besser und billiger bauen« die forcierte Industrialisierung der Architektur vorantrieb und die utopischen Entwürfe der sozialistischen Stadt mit dem Ideal einer kollektiven Lebensweise in Wohnkomplexen die ornamentalen »Arbeiterpaläste« des Spätstalinismus ablösten.

Bei den nun entstehenden Hochhäusern griff man auf Stahlbeton­skelettbauweise und Elemente des internationalen Stils zurück, deren Weltläufigkeit und Leichtigkeit noch auf das zwiespältige politische Klima der frühen DDR hinweisen. Die Planung der für diese Epoche besonders bezeichnenden Prager Straße in Dresden, die 1962 bis 1978 erbaute erste sozialistische Einkaufsmeile, orientierte sich an der Rotterdamer Lijnbaan (1954) und der kurz zuvor von Oscar Niemeyer entworfenen Stadt Brasilia. Mit den Prämissen privatwirtschaftlichen Städtebaus sollte jedoch explizit gebrochen werden, so dass mitten im neuen Stadtzentrum der mit 240 Metern längste Wohnblock Europas mit mehr als 600 Wohn­einheiten entstand. Wenig später manifestierte sich das Selbstbild der DDR in Jena, Leipzig und Berlin in markanten Höhendominanten aus Stahl und Glas, die das Stadtbild bis heute prägen.

1970 gelang mit der Entwicklung von Baukastensystemen, wie dem verbreiteten WBS 70, ein Durchbruch beim industrialisierten Bauen. Vorgefertigte Teile konnten innerhalb von Stunden per Kran montiert werden und ließen Gerüste überflüssig werden, weshalb das monochrome Grau der verbreiteten Kieselplatten dominierte. Nachdem Erich Honecker erfolgreich gegen die Wirtschaftsreformen Walter Ulbrichts geputscht und die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« zur Chefsache erklärt hatte, wurde 1972 schließlich ein staatliches Wohnungsbauprogramm aufgelegt. 90 Prozent der Wohnungen wurden seitdem industriell gefertigt – mit dem ambitionierten Ziel, bis 1990 den Wohnungsnotstand in der DDR zu beseitigten. Aufgrund des Mangels an modernem Wohnraum erfreuten sich die neuen Plattenbauten großer Beliebtheit. Die Zuweisung einer Wohnung war in der Regel mit Hunderten Arbeitsstunden in den neuen Stadtteilen verbunden, um die die zukünftigen Bewohner in die Gestaltung ihres Wohnumfeldes einzubeziehen. Positive Erfahrungen des kollektiven Miteinanders in dem sozial durchmischten Wohnumfeld gingen dabei mit einer deutlich erhöhten sozialen Kontrolle einher, weshalb vor allem avantgardistische Milieus und Subkulturen die verfallenden Altbauten als Freiräume neu entdeckten und gemeinsam mit konservativ-bürgerlichen Kräften gegen Flächensanierungen kämpften. Aller Standardisierung in den Neubaugebieten zum Trotz begannen auch dort bald behutsame Individualisierungsprozesse, wie die farbliche Gestaltung von Balkonen, ­Wünsche nach veränderten Wohnungsgrundrissen und die eskapistische Flucht in die Kleingarten­anlagen zeigten.

Die politische Entscheidung für die Plattenbauweise erforderte hohe Investitionen in Produktionswerke und Bautechnik, die sich erst nach langen Laufzeiten amortisiert hatten und daher eine systematische Vernachlässigung anderer Bauarten nach sich zogen.

Die politische Entscheidung für die Plattenbauweise erforderte hohe ­Investitionen in Produktionswerke und Bautechnik, die sich erst nach langen Laufzeiten amortisiert hatten und daher eine systematische Vernachlässigung anderer Bauarten nach sich zogen. Für Instandhaltungsarbeiten an Bestandsbauten fehlten Geld, Material und Know-how. Weil die raumgreifende Technologie der Plattenbauweise in den engen Altstadtgebieten nicht eingesetzt werden konnte, wurden Flächensanierungen für die zunehmend dem Verfall ausgesetzten Innenstädte unvermeidlich. Zunächst wurden die ambitionierten Gestaltungspläne für die Innenstädte jedoch zugunsten der Möglichkeit, kostengünstig und schnell zusammenhängende Wohngebiete auf der grünen Wiese zu errichten, aufgegeben. Zur Beliebtheit der Neubaugebiete trug auch die dichte Abdeckung mit sozialer Infrastruktur wie Kindergärten, Schulen, Kauf-, Schwimm- und Sporthallen sowie Kinos und Grünflächen bei. ­Immerhin 0,5 Prozent der Planungskosten waren für baubezogene Kunst und komplexe Umweltgestaltung vorgesehen, heute selten wahrgenommen wird und mangels Instandhaltung verrottet.

Parallel zum europäischen Denkmalschutzjahr begann um 1975 ein Paradigmenwechsel in der Stadtbaupolitik der DDR. Im selben Jahr wurde ein Denkmalgesetz verabschiedet und die »städtebauliche Rekon­struktion« als eigenständiges Lehrgebiet der staatlichen Architektenausbildung eingeführt. Im Rahmen von Stadtjubiläen hatte nun auch die Sanierung und der Wiederaufbau von repräsentativen Altbauten Priorität, wie Semperoper, Schloss und Palais in Dresden, die Nikolaikirche in Potsdam und der Berliner Dom. In Rostock, Greifswald, Halle, Erfurt, Gera, Cottbus und Berlin wurde mit modifizierten Plattenbausortimenten versucht, historische und ortstypische Baustile kostengünstig zu zitieren, wofür die WBS 70 mit geknickten Fassaden, Mansarddächern, Erkern und Türmen versehen wurde. Im Berliner Nikolaiviertel entstanden von 1984 bis 1986 neben modifizierten Plattenbauten erste Rekon­struk­tionen mit historisierenden Fassaden in handwerklicher Bauweise, die aufgrund ihrer hohen Kosten kon­trovers aufgenommen wurden. Die Bebauung in der Innenstadt von Halle stieß sogar in der westdeutschen Presse auf Zustimmung und steht heute zum Teil unter Denkmalschutz. Der freie und eklektizistische Umgang mit Formen und Dekoration markierte den Übergang zur sozialistischen Postmoderne, die in der DDR deutlich später als in ihren Nachbarländern einsetzte.

Paradoxerweise hat die systematische Vernachlässigung der Altbausubstanz in der DDR dazu geführt, dass viele Mittelstädte und das von großen Kriegsschäden verschonte Erfurt oder Halle heute noch intakte Altstadtkerne aufweisen. Während die lukrativen Zentrumslagen in der BRD dem Geist der Aufbauzeit folgend nach dem Paradigma der autogerechten Stadt umgestaltet wurden und Investoren dabei meist weniger zimperlich mit Bestandsbauten umgingen als die DDR, wurden die ostdeutschen Innenstädte erst dann privatwirtschaftlich erschlossen, als vergangenheitsorientierte Leitbilder das Lebensgefühl bestimmten und Sanierungen erschwinglich waren.

 

»Vernichtung« und »Wiedergewinnung« städtischer Identität

Dieser kurze Abriss der Architekturgeschichte der DDR ist notwendig, um die Argumente zu widerlegen, die heute in Dresden und Potsdam gegen zentrumsnahe Relikte der DDR-Architektur vorgebracht werden. In beiden Städten wurden nach der politischen Wende rasch Beschlüsse zur weiteren städtebaulichen Entwicklung gefasst, die den postmodernen Historismus aus der Spätphase der DDR mit kompromissloser Borniertheit radikalisierten und apodiktisch die Wiederannäherung an ein »historisches Stadtbild« verlangten. Während dafür im Dresdner Zentrum noch große Freiflächen bereitstanden, sollten in Potsdam die vorhandenen, modernen Gebäudekomplexe weichen. Bagger rückten dort bereits 1991 an, um den Rohbau eines zwei Jahre zuvor begonnenen Theaters wieder abzureißen. An gleicher Stelle steht heute der Nachbau des einstigen Stadtschlosses, das den Brandenburger Landtag beherbergt – mit der ironischen Inschrift »Ceci n’est pas un château«.

Vergleicht man die Debatten anhand der Verlautbarungen ihrer lautesten Interessenverbände wie die Bürgerinitiativen »Mitteschön!« in Potsdam und »StadtbilDD« in Dresden, fällt zunächst eine stereotype und ideologisch überfrachtete Metaphorik auf, wie man sie aus den konservativen Verdikten gegen Planung, Konstruktion und Offenheit kennt. Stets ist vom »Maßstabs­losen«, »Struktursprengenden« und »Überdimensionierten« der DDR-Moderne die Rede. »Eingriffe an der gewachsenen Bausubstanz« und »Vernichtung« hätten »klaffende Wunden«, »offene Flächen« und einen »verwundeten Stadtraum« erzeugt, weshalb es nun gelte, mit »Stadtreparaturen« »Lücken zu schließen«, zu »heilen« und eine »städtische Identität wiederzugewinnen«. Als probate Form dieser »Rückkehr zu den Wurzeln« wird notorisch eine reichlich dekorierte, kleinteilige, »menschliche« Blockrandbebauung in Parzellen vorgeschlagen und gegen »gesichtslose Stahl- und Glasfassaden« und freistehende »Funktionsbauten« mobilisiert, durch deren Umsetzung die »historischen Zentren« zum »Spielball moderner Architekten« würden. In Dresden fürchtet man sich besonders vor »austauschbarer globalisierter Investoren­architektur«, die auf »traditionsfremde Großblöcke« und »regionalun­typische Materialien, Farben, Dächer und Stilmittel« zurückgreift, wozu bereits Sichtbeton und Flachdächer gezählt werden: »Vor allem ortsfremde Investoren überziehen (…) die Innenstadt so stringent mit Globa­lisierungs-Architektur, dass mittlerweile von einer 3. Zerstörung gesprochen werden kann«, schreibt »StadtbilDD« in einem aktuellen Flyer. Die Tatsache, dass gerade die DDR-­Moderne einen wesentlichen Bestandteil der regionalen Bauformen ausmacht und zur historischen Tradition gehört, weshalb Neubauten eine auch dazu passende Formensprache finden müssen, will man nicht wahrhaben.

So ist es sicher kein Zufall, dass die organische Semantik bis in die Wahl ihrer Beispiele hinein einer antisemitischen Codierung folgt, die städtebauliche Moderne abgelehnt und regelmäßig von Vernichtung fabuliert wird, wo Zerstörung und Wiederaufbau beschrieben werden. Ersichtlich ist dieser psychologische Mechanismus der Projektion unterdrückter Begierden auch in den Verdikten gegen die vermeintliche »Sprengwut« der DDR, die ausgerechnet von den Befürwortern der städtebaulichen Revisionen am lautesten kritisiert wird. Statt eine notwendige und nüchterne Sachdebatte über zeitgemäße Stadtgestaltung zu führen, ­regieren Hegemonie- und Distinktionskämpfe eines dezidiert bürger­lichen Milieus, in denen Klassengeschmack und unbewältigter Antikommunismus zu einer Fassaden­ästhetik verschmelzen. Die Flanke zum Geschichtsrevisionismus ist dabei weit geöffnet, weshalb es kaum überrascht, dass die »Wiederaufbauwut« in der Neuen Rechten prominente Fürsprecher hat. Im neuen Magazin Cato ist die Forderung nach traditionellen Formen ein thematischer Anker. Björn Höcke lobte in seiner Dresdner Rede explizit die ­Rekonstruktionen in Dresden und Potsdam als »deutschen Selbst­behauptungswillen«, bevor er im unmittelbaren Anschluss das Holocaust-Mahnmal als »Denkmal der Schande« bezeichnete.

Ähnliche, kalkulierte rhetorische Entgleisungen mit Rückgriff auf die nationalsozialistische Sprache prägen auch in Potsdam die Debatte. Als »Schandfleck« gilt Politikern von SPD, Grünen und CDU das ehemalige ­Institut für Lehrerbildung, das einem von Mies van der Rohe entworfenen Versicherungsgebäude in Des Moines nachempfunden wurde und bis vor kurzem die Fachhochschule beherbergte. Wer die vielfältigen gestalte­rischen Details des Gebäudes beachtet, erkennt in den vertikalen Stahl­betonlamellen Referenzen an Potsdamer Bauformen. Das markante Gelb zitiert das Schloss Sanssouci. In unmittelbarer Nähe stehen das Wohnensemble Staudenhof und die Höhendominante des einstigen Inter­hotels, die einigen ebenfalls ein Dorn im Auge ist. Um die Sichtachse zwischen einem dahinterliegenden Park und dem Landtagsneubau herzustellen, plante der Potsdamer Stadtrat lange Zeit den millionenschweren Kauf und anschließenden Abriss des sanierten und gut ausgelasteten Hotels. »Nur mit einem Um- oder Abbau des Gebäudes könnten Sicht­beziehungen und Proportionen der Potsdamer Mitte und der Stadt­silhouette wiederhergestellt werden«, hieß es aus dem Baudezernat. Da sich eine Mehrheit der Potsdamer eine sinnvollere Verwendung ihrer Steuergelder wünschte, sind die Pläne vorerst wieder in der Schublade verschwunden. Der Staudenhof genießt Bestandsschhutz bis 2022, danach sollen die günstigen Wohnungen und seine Bewohner – größtenteils Rentner, Studierende und sozial Abgehängte – aus dem Zentrum verschwinden. Eine Vertreterin von »Mitteschön!« entfaltete kürzlich in einer Dokumentation des RBB ihre Vision einer »vielfältigen Einwohnerstruktur« im Zentrum, bestehend aus »jungen Menschen, Studenten und Gutsituierten.« Man müsse sich nichts vormachen, ein bisschen teurer werde es schon werden.

Paradoxerweise hat die systematische Vernachlässigung der Altbausubstanz in der DDR dazu geführt, dass viele Mittelstädte und das von großen Kriegsschäden verschonte Erfurt und Halle heute noch intakte Altstadtkerne aufweisen.

Die Abrissarbeiten für die Fachhochschule sind bereits angelaufen und sollen im Herbst 2018 abgeschlossen sein, ungeachtet des zuletzt wachsenden Protestes zumeist jüngerer Einwohner, der von namhaften Architekten und Stadtplanern unterstützt wurde und sogar in der FAZ auf Sympathie stieß. Dort schreiben Niklas Maak und Claudius Seidl von der bürgerlichen Kultur, die zu Zeiten ihrer Selbstgewissheit noch Respekt vor denen bedeutet hatte, die vor ­einem da gewesen sind: »Was man am Alten Markt versucht, ist die komplette Auslöschung all dessen, was zu Zeiten der DDR gebaut wurde, und das ist nicht nur ein Akt der Herzlosigkeit gegenüber denen, die hier in den siebziger und achtziger Jahren ihre Zeit verbracht und vielleicht ein paar schöne Erinnerungen an den Ort haben; es nimmt auch denen, die nach Potsdam kommen, die Chance, seine Geschichte zu ­verstehen.« Ein Bürgerbegehren ­gegen die Abrisspläne wurde von den Stadtverordneten abgelehnt. Mit dem Rechenzentrum soll zudem bald ein weiterer Bau der DDR-Moderne verschwinden, um Platz für den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonskirche zu schaffen – jener ­Pilgerstätte der Weimarer Antidemokraten, an der Hitler und Hindenburg 1933 per Handschlag die Herrschaft der Nationalsozialisten be­siegelten.

Respekt für die sonst großmundig gelobten Lebensleistungen der Altvorderen sucht man auch im konservativen Dresden vergeblich. Einer ähnlichen Argumentation wie in Potsdam folgend, wünschen sich  städtebauliche Interessenverbände dort Schutzvorkehrungen für die ­barocke Stadtsilhouette und fordern den Abriss eines abgewohnten Hochhauses aus den sechziger Jahren am zentralen Pirnaischen Platz, das das Schicksal vieler Relikte der Ostmoderne teilt. Notwendige Bestandsreparaturen wurden nach dem Zusammenbruch der DDR lange Zeit aufgeschoben, bis der Putz bröckelte und die öffentliche Wertschätzung verschwand. Dabei ist das ikonische Gebäude mit seiner Loggienfassade, der optischen Auslagerung auf ­Betonstützen und einem Flügeldach beispielhaft für die Rezeption des ­internationalen Stils in der DDR und markiert einen optischen Schlusspunkt des innerstädtischen Aufbaus. Bis 1987 wurde das exponierte Hochhaus mit dem weithin lesbaren Schriftzug »Der Sozialismus siegt« propagandistisch aufgeladen, bis dieser über Nacht kommentarlos demontiert wurde und einen emblematischen Schattenwurf zurückgelassen hat, der die politische Wende überdauerte. Seitdem verfällt das in der Presse abschätzig als »Assi-Hochhaus« titulierte Gebäude. Künstler klebten vor einigen Jahren in zweideutigem Sächsisch und großen ­Lettern den Slogan »Der Kapitalismus siecht« an die Fassade. Wer heute ­erfahren möchte, wie die öffentlichen Plätze und Paradestraßen der DDR zur Selbstrepräsentation des politischen Systems und propagandistischen Inszenierung der Werktätigen aufeinander abgestimmt wurden, kann das am Pirnaischen Platz noch erahnen. Doch die manifestierte ­Geschichte stört den rein ästhetisch-konsumierenden Blick auf die Sky­line der »historischen Altstadt«. Geflissentlich ignoriert wird ebenfalls, dass bereits in den zwanziger Jahren ambitionierte Pläne für ein Hochhaus an gleicher Stelle bestanden, an die die DDR-Planer anknüpften.

 

Nachgeahmte Substantialität

Die Evokation des Historischen hat seit Jahren Hochkonjunktur, gerade weil der Begriff unspezifisch ist und ursprüngliche Authentizität suggeriert. Er blüht dort, wo die bloße Menge der Geschichte über ihre spezifische Qualität triumphiert. So bezieht das Historische seine unvermittelte Autorität kraft des verbürgten Alters. Es verspricht harmonische, gewachsene Einheit, wo sie so nie existierte. Im Dresdner Disneyland und dessen preußischer Kopie entsteht »das unheilvolle Wunschbild einer heilen Welt« (Adorno), die im Prestigebegriff des Barock zu sich kommt. Der Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen nannte diese stereotypen Reduktionsbegriffe, die Geschichte verdinglichen und Bedürfnisstrukturen ­erzeugen, einmal »Plastikworte«. Der Verheißungscharakter des bloß quantitativ Historischen ist nachgerade eine Sehnsuchtsvorstellung der modernen Konsumgesellschaft und als solcher dem Rekonstruktionismus immanent.

In Dresden und Potsdam, wo die »historische Altstadt« und die »historische Mitte« mit besonderem Nachdruck besetzt werden, ist das Historische sogar ein zweifacher ­Mythos. Keine dieser Städte verdankte ihre markante Vorkriegsstruktur ­einem jahrhundertelangen Entwicklungsprozess, sondern der brutalen Barockisierungswelle zur Zeit des aufgeklärten Absolutismus im 18. und 19. Jahrhundert. Davor wurde Dresden im Siebenjährigen Krieg zu einem Drittel zerstört. Auch die Nationalsozialisten konnten der dunklen Enge in den baufälligen »Elendswohnungen« der Innenstadt wenig ­abgewinnen und rissen in den dreißiger Jahren große Teile der Bestandsbauten ab. So ist kaum ein Gebäude der »barocken« Dresdner Stadtsilhouette in seiner heutigen Form älter als 150 Jahre, viele waren zum Zeitpunkt ihrer Zerstörung infolge der Bombardierungen jünger als die Hinterlassenschaften der DDR, um die heute gestritten wird. Auch der Wiederaufbau des Potsdamer Zentrums bezieht sich selektiv auf eine kurze Episode, deren imaginierte Stil­einheit als ultima ratio innerstädtischer Gestaltung verklärt wird.

 

Das populistische Ressentiment gegen die moderne Kunst spiegelt den Rekonstruktionismus, der in diesem Milieu auf breite Begeisterung stößt und nicht ohne Grund hochgradig suggestiv und mit populistischen Argumenten begründet wird. Ihm ­eignet das Urteilen nach rein subjektiven Lust- und Unlustempfindungen, das Einsicht in Zusammenhänge, Formen und Gestaltungskonzepte suspendiert.

Die Renaissance des Barock markiert zugleich einen architektonischen Formenwandel in der Berliner ­Repu­blik und ist mit einer auffälligen, organischen Semantik der Mitte verbunden. Das in der Hauptstadtdebatte produzierte Bild von Berlin als historischem Zentrum und Herz der Republik wird in Potsdam unter Rückgriff auf den gleichen Bedeutungsraum von Gleichgewicht, Heilung und geschichtlicher Normalität aktualisiert. Die »Zurückgewinnung der Mitte« im städtischen Raum ­gehört zur Kollektivsymbolik einer selbsternannten politischen Mitte, die sich an repräsentativer Stelle immer noch ihres Triumphs über ein zusammengebrochenes Gesellschaftssystem vergewissern will, das ihr als Störfall geschichtlicher Normalität gilt und deshalb auch aus der Erinnerung verschwinden muss. Höhepunkt dieses Umgangs mit der DDR-Vergangenheit, die durch eine neobürgerliche Ästhetik verdrängt wird, markiert der revisionistische Abriss des Palastes der Republik. Auch der jüngste Vorstoß des sachsen-anhaltinischen AfD-Landeschefs André Poggenburg, einen Schlussstrich unter die Stasi-Vergangenheit zu ziehen, fügt sich konsequent in eine Geschichtspolitik, die nicht auf Erfahrung und kritische Auseinandersetzung, sondern affektive Identitätsstiftung zielt. Damit das gelingen kann, muss eine neue Kontinuität rekonstruiert werden, die zum un­gewollt Bestehenden in maximalem Kontrast steht und gleichsam in sich harmonisch aufeinander bezogen ist. Kein Erinnerungsmarker darf die Sichtbeziehungen stören. Dieser konsequente Historizismus ist der ­adäquate Ausdrucksstil einer konservativen Revolution, die geschichtliche Brüche ausschließlich als Ursprungsverlust wahrnimmt und in gleichsam subjektiver Willkür eine neue Tradition erbauen will. Deshalb ist die nostalgische Orientierung, die Uwe Tellkamp im Falle Dresdens so treffend als »süße Krankheit Gestern« beschrieben hat, in den ostdeutschen Residenzstädten zu ornamentaler Maßlosigkeit gesteigert und mit den Rekonstruktionen von Bürgerhäusern im Frankfurter Dom-Römer-Quartier, dem Braunschweiger Hybridschloss oder dem Wiederaufbau der Warschauer Altstadt in den fünfziger Jahren nur bedingt vergleichbar.

Das Kollektivsymbol der wiederzugewinnenden Mitte bildet so das diskursive Gegenstück zu jenem »Verlust der Mitte«, den Hans Sedlmayr 1948 beklagte. Darin kritisierte Sedlmayr das in seinen Augen ­Totalitäre und Exzentrische der Moderne, ihre »Verleugnung des Tek­tonischen« und ihr Streben nach Dissonanz und Chaos in den Ausdrucksformen. Die Kunst strebe weg von der Mitte und ersetze Gott durch die Idee des autonomen Menschen, der sich das Material experimentierend gefügig mache. Die kulturkonservative Abrechnung mit der modernen Architektur rief bei Kritikern Assoziationen an den Vorwurf der »entarteten Kunst« hervor.

Alexander Gauland würdigte ­Seldmayr zum 60. Jahrestag seiner Schrift: »Die Kunst, so Sedlmayr, ist Ausdruck der Zeit nur nebenbei und wesentlich außerzeitlich: Epiphanie des Zeitfreien, des Ewigen in der Brechung der Zeit. Die Leugnung dieses Ewigen ist essentiell auch Leugnung der Kunst.« Nicht ästhetische Er­fahrung also, sondern Ehrfurcht vor der bloßen Mimesis des Ewigen prägt das konservative Kunstverständnis. Die gleichen Motive der Rekonstruktionsbefürworter finden sich bereits bei Sedlmayr verdichtet, der neue Werkstoffe und Formen schlechterdings ablehnte, weil sie »in einer Art Wahlverwandtschaft zu den neuen Ideen« stehen: »Die Tendenz zur Loslösung von der Erdbasis. Die Möglichkeit, unten und oben zu vertauschen, womit die Vorliebe für das glatte Dach zusammenhängt. Die Neigung zu homogenen glatten Flächen ohne Durchbrechungen, ohne plastische Elemente, ohne Profil. Die Verwandlung der Wände in abstrakte Grenzflächen; daraus folgt später das Ideal einer Raumhaut aus purem Glas. Eine neue Art des Zusammenfügens der einzelnen Grundformen, die man unverbunden zusammenstellt oder aufeinanderlegt wie Schachteln. (…) Das Fehlen jedes organischen Übergangs zwischen Architektur und Landschaft; wie vom Himmel heruntergefallen erscheinen diese ›reinen‹ Architekturen in der ›reinen‹ Natur, oft tragen sie auf ­Terrassen unvermittelt Gewächse.« Die moderne Architektur markiert wie die abstrakte Kunst einen Bruch mit mimetischer Erfahrung und den Beginn einer Deontologisierung und Entzauberung der Welt, die die Gralshüter holistischer Weltanschauungen aufschreckte. Eine reflexive Mimesis ist nicht möglich, weshalb Jürgen Habermas den bemühten Versuch als »nachgeahmte Substantialität« bezeichnet hat, die zum politischen Stammtisch neige.

 

Entfesselte Harmoniesucht

Ein handfester Kunstskandal in Dresden zog zu Beginn des Jahres 2017 ­erstaunlich wenig bundesweite Aufmerksamkeit auf sich, obwohl er die konservative Grundstimmung der Stadt wesentlich besser verdeutlicht als die notorisch fremdenfeindlichen Proteste gegen die Busmonumente des syrisch-deutschen Künstlers Manaf Halbouni wenige Wochen zuvor. Seit April wird auf dem Neumarkt unweit der Frauenkirche das »Denkmal für den permanenten Neuanfang« einer Hamburger Künstlergruppe gezeigt, das die Komplexität der historischen Bezüge der Stadt aufgreift. Das Denkmal besteht aus mehreren auf einem Edelstahl­gerüst montierten Elementen, die als symbolische Zitate Epochen der Dresdner Stadtgeschichte darstellen und den lokalen Fassadenfetisch kri­tisieren. »Der Fixateur ist ein Heilgerät für vergangene Beschädigungen. Am Neumarkt findet etwas Ähnliches statt: die architektonische Therapie von Zerstörungen, optisch möglichst bruchlos«, heißt es in der Ankündigung der Stadt. Bei der Eröffnung wurden Künstler und Kuratoren von ­einem wütenden Mob niedergebrüllt, später flogen Töpfe und Pfannen auf das Kunstwerk. Von Seiten der Protestierenden hieß es, das Denkmal sei Schrott, gewollte Provokation und Verschandlung eines historischen Ortes. Ein AfD-Landtagsabgeordneter twitterte »Mülldeponie Dresden«. Weniger Enthemmte kritisierten den optischen Bruch von barocker Kulisse und moderner Kunst und forderten eine Verlegung in andere Stadtteile. Für die Bewerbung Dresdens als europäische Kulturhauptstadt 2025 war das sicher ein gelungener Auftakt.

Das populistische Ressentiment gegen die moderne Kunst spiegelt den Rekonstruktionismus, der in diesem Milieu auf breite Begeisterung stößt und nicht ohne Grund hochgradig suggestiv und mit populistischen Argumenten begründet wird. Ihm ­eignet das Urteilen nach rein subjektiven Lust- und Unlustempfindungen, das Einsicht in Zusammenhänge, Formen und Gestaltungskonzepte suspendiert. Das Rekonstruierte ist bestenfalls ästhetische Dekoration, die gefallen und möglichst keine Reibungspunkte bieten soll. Städtebauliche Erfahrungen sind in den »historisierten Innenstädten« nur negativ möglich, nämlich als Blick in die hinter den Fassaden versteckten Konsumtempel und teilnehmende Beobachtung der ehrfürchtigen Touristenmassen, deren Interesse an den ästhetisierten Orten auf kurzweilige Anekdoten über Könige und Mäzene beschränkt bleibt.

Was der Populismus hingegen am meisten fürchtet, sind gesellschaft­liche Aufklärung und individuelle Erfahrungsfähigkeit, wozu eine Architektur anregen kann, die gewohnte Sichtmuster irritiert. Das schließt die Forderung ein, gesellschaftliche Debatten nicht unter der suggestiven Fragestellung eines ästhetischen Empfindens – im Grunde nur eine codierte Form des »gesunden Menschenverstandes« – zu führen, sondern Gebäude und Raumgestaltung als materialisierte Aussagegefüge einer Gesellschaft wahrzunehmen, in denen sich abstrakte Funktionsmechanismen offenbaren können. Der baugeschichtliche Wert eines Gebäudes ist somit nicht losgelöst von seinem historischen Kontext zu bestimmen und weniger eine Frage norma­tiver Einschätzung als der Bereitschaft, sich auf die Wahrnehmung gestalterischer Details einzulassen. Die Abwehr von sichtbaren stilis­tischen Brüchen und städtebaulichen Kontrasten neigt nicht nur zum ­Geschichtsrevisionismus, sondern macht interessante Details in einem Harmoniebrei unsichtbar.

 

Vom »Schandfleck« zum Denkmal

In diesem Sinne ist der zögerliche Neubewertungsprozess des Denkmalwerts von DDR-Relikten, der mittlerweile auch außerhalb von Fachkreisen offener diskutiert wird, zu begrüßen. Städtisch kuratierte Ausstellungen in Leipzig und Dresden, wie »Plan! Leipzig, Architektur und Städtebau 1945–1976« und »Der Kulturpalast Dresden – Architektur als Auftrag«, wären vor wenigen Jahren wohl noch unter den Verdacht realsozialistischer Propaganda gestellt worden. Noch 2003 wurde in Dresden ernsthaft über einen Abriss des zentralen Kulturpalastes diskutiert. Als Argument diente schon damals, was in aktuellen Diskussionen in identischer Wortwahl wiederkehrt: Der Kulturpalast sei einfallslos, ähnliche Gebäude gäbe es in jeder Stadt, ein Abriss des »Schandflecks« sei zur Rückgewinnung der historischen Altstadt unvermeidlich und diese einmalige Chance dürfe nicht vertan werden. Wenige Jahre später wurde das Gebäude zunächst unter Denkmalschutz gestellt und anschließend für über 100 Millionen Euro saniert. Seit der pompösen Wiedereröffnung feiert die Stadt das einmalige Bauwerk und wagt gar Vergleiche mit der Hamburger Elbphilharmonie.

Auch die Plattenbauviertel werden in den wachsenden ostdeutschen Großstädten nicht mehr länger nur als Hypothek betrachtet, sondern auch als gestaltungsfähiger Sozialraum, der mit überschaubaren Kosten an wandelnde Nutzungsformen ­angepasst werden kann. Sogar über den Denkmalwert einiger Ensembles wird bereits nachgedacht. Diese ­Beispiele zeigen, dass sich die gesellschaftliche Wahrnehmung der zeit­genössischen Architektur immer wieder verändert und die Suggestivkraft ästhetischer Argumente schwindet. Entgegen anderslautenden Einschätzungen funktioniert die äußerst funktionale DDR-Architektur auch heute noch ausgesprochen gut, wenn sie gepflegt und in neue Stadtbaukonzepte integriert wird. In Potsdam will man davon freilich noch nichts wissen und betreibt mit der Umgestaltung des Zentrums eine systematische Verdrängung ungewollter Bevölkerungsgruppen. Dass die Straße der Jugend dort längst wieder Kurfürstenstraße heißt, ist in diesem Sinne konsequent.