Was wäre heute aus Rudi Dutschke geworden?

Der Genscher der Grünen

Rudi Dutschke wäre mittlerweile 77 Jahre alt. Unser Autor stellt sich vor, was aus dem damaligen Wortführer der Studentenbewegung geworden wäre.

Es ist enttäuschend. Er stapft durch den Berliner Winter. Es ist alles so enttäuschend. Er ist wütend, es ist ein sehr kalter Januar, dieser Januar 2018. Noch immer steht die Regierung nicht, noch immer weiß seine Partei nicht, wie und wen sie wo attackieren kann, noch immer nutzt die neue rechte Partei, die AfD, das Parlament nur, um auf sich aufmerksam zu machen, verweigert sich zugleich aber der parlamentarischen Arbeit. Das geht doch nicht.

Rudi Dutschke murmelt vor sich hin, während die Sohlen seiner Winterstiefel vereiste Schneereste zermalmen.
Er versteht diese Verweigerung nicht. Er ist nun neben Wolfgang Schäuble der dienstälteste Parlamentarier im Bundestag. Er hatte sich nicht mehr aufstellen lassen wollen, Gretchen hatte auch abgeraten, die Kinder eh, denn obschon seine Anfälle nachgelassen hatten in den vergangenen Jahrzehnten, wirkten die Schüsse von Bachmann noch nach. Spätfolgen, jaja. Aber Gregor ist nach seinen diversen Erkrankungen auch immer wieder zurückgekehrt in den Reichstag, und da kann er doch nicht…

Er, Dutschke, ist schließlich in einer ähnlichen Position. Ohne ihn gewinnen sie nicht, er ist das Rückgrat der Partei, der Brückenbauer, die Berühmtheit, der Genscher der Grünen.

Und es stimmt ja, sie brauchen ihn. Immer noch. Dabei hat er eigentlich keine Funktion mehr inne. Er hat den Parteivorsitz abgegeben, alle parlamentarischen Posten, er ist nun einfacher Abgeordneter. Bisschen Kulturausschuss, ja. Und Schiedsmann, immer wieder, in allen möglichen Auseinandersetzungen. Egal, ob Bernd wieder mit seinem nationalgrünen Flügel versucht, auf die AfD zuzugehen, was den Trittin regelmäßig »Rabehl, du Hund« schreien lässt, oder ob es darum geht, eine Realo-Doppelspitze durchzusetzen: Immer muss er ran. Immer muss er schlichten.

Er sitzt da, erzählt wie der Opa vom Krieg, lächelt alle Anfeindungen weg oder droht mit einem Interview, einem Kommentar in der Taz oder der FAZ, und schon geht es, schon werden sie sich einig. Die Jungen eh, die sind konstruktiv, die wollen auch Karriere machen, aber auch die Alten. Dabei sind die Alten ja alle deutlich jünger als er.

Was für eine Berühmtheit er jetzt wieder sein wird, wieder die ganzen Einladungen, Plasberg, Maischberger, Lanz, Schöneberger, mal Boulevard, mal knallhart politisch. Aber die Gegner fehlen.

Er muss das alles machen, seitdem Joschka sich verdrückt hat. An neue Fleischtöpfe. Warum tut er sich das an? Fischer war doch wie er ein Revolutionär, wenn auch nie ein so klarer theoretischer Kopf, aber ein interessanter Machtpolitiker. Jünger halt, nicht durch die ganzen Debatten im SDS verdorben, Krahl, je, was vermisst er ihn. Manchmal. Denn, andererseits, immer diese Debatten, dieses Gerede, Gerede, keine Taten.

Mein Gott, er wird bald 78. Was hat er nicht alles hinter sich. Er sieht den Savignyplatz durch den Nebel seines Atems, grau, grau ist alles. Er fragt sich schon, was er hier macht. »Wir sollten ’68 wieder zu unserem Thema machen«, hatte Bernd gesagt, »das ist ein grünes Thema, das sind wir, die Grünen«. Aber das stimmte nicht. Claudia, Renate, Cem, die waren alle nicht dabei, Anton eh nicht, Robert, pah!, und Katrin war im Osten, sowieso, und zu jung ist sie auch. Bahro ist weg, Fritz ist weg, Rainer ist verrückt. Dieter unausstehlich.

Wer kapiert denn noch, was damals abging? Auch die inneren Widersprüche. Gewalt… heute heulen sie, wenn ein Ei fliegt, aber damals, das war anders.

Dabei hat er sich immer nur für Deutschland interessiert. Schah war böse, ja, Mao gut, ja – das kann man heute auch niemandem mehr klar machen, was der für eine Aura hatte – aber ihm ging es eigentlich immer um unser Land, unser Volk.

Der Mauerfall war schon grandios. Schön war es mit Willy Brandt auf dem Rathausbalkon zu stehen, am 9. November, kalt war’s auch, aber ihm war ganz warm, weil das was anderes war, das hatte er damals, in Luckenwalde, in der Gemeinde schon gewollt. Dafür hatte er gekämpft, der Faschismus hatte es ja hinter sich gehabt, hatte er gedacht, das bisschen, was da noch im Parlament überlebt hatte, starb ja auch bald. Warum also kein einiges Deutschland?

Blühende Landschaften, beinahe hätte er Kohl gemocht dafür, für die Formulierung, also, nicht dass er daran geglaubt hatte, aber diese Vision, das war schon gut. Dann hätte man natürlich Geld herüberschieben müssen, nicht so einen Ausverkauf veranstalten…

Dutschke schaudert’s, wenn er sich an Kohl erinnert, den er warnen wollte vor einer ungebremsten Marktwirtschaft im Osten, doch Kohl war da immer ganz kalt ihm gegenüber, der hat ihm ’68 nicht verziehen, Kohl kannte Feinde, wirklich, mit dem konnte er nicht später noch bei einem Wein…

Jetzt Halt an der Kantstraße! Er steht, obwohl kein Auto kommt, aber man weiß nie, wo die Fotografen… Überhaupt, was für eine Berühmtheit er jetzt wieder sein wird, wieder die ganzen Einladungen, Plasberg, Maischberger, Lanz, Schöneberger, mal Boulevard, mal knallhart politisch. Aber die Gegner fehlen. Er muss sich ja heutzutage schon mit Ströbele streiten um irgendwas, weil alle so langweilig sind, unterfordernd, oder wie man das nennen soll. Wer kennt sich denn mit Sozialismus aus, bitteschön? Klar, wenn Brumlik da ist, aber der schreibt ja nur noch und macht Akademie. Der Angriff von Broder war so daneben, »Spät-Stalinist«, er, wo er doch nur gesagt hatte, eine Verstaatlichung der Internetkonzerne wäre das Beste. In der Talkshow, als ob der da nicht auch manchmal… Und dann sowieso, wie stellen die den Revolutionär jetzt plötzlich dar? Also den von damals, wer will heute noch… ?

Dutschke muss sich schnäuzen, Gott sei Dank ist er gleich da im Warmen.

Aber damals, auch dass sie ihm nun die ganzen Palästina-Geschichten vorwerfen… klar, auch er… aber wer nicht? Und später dann hat er, Dutschke, ja zur Staatsräson gestanden, logisch, auch wenn die besetzten Gebiete … Aber in der Gemeinde ist er in der jüdisch-christlichen Aussöhnung aktiv, da kann ihm keiner…

Joschkas »Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg! Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz!«, das war schon genial damals, er war ja, ist ja auch Pazifist, bis ins Mark. Aber das ging dann zu weit mit dem kämpferischen Kommunismus, man muss auch loslassen können, hat er auch…

Mao, auch wenn er manchmal noch gern… Das ist aber eine andere Sache, was da abends in der Pizzeria passiert, das sagt man nicht mehr öffentlich. Und Bernd ist da zu radikal, das ist ihm dann doch zu antisemitisch, auch wenn man damals schon gewusst hat, wer da in der Wall Street… Aber solche Argumentationen muss man auch mal hinter sich lassen.

Ein bisschen mehr hätten sie dem Establishment schon in den Arsch treten können, damals, dann träte man ihm heute nicht so moralisch überlegen entgegen, so besserwisserisch, wie er das hasst, dann wünschte er manchmal, er wäre tot wie Ohnesorg oder so.

Dutschke ist nun an dem Lokal angelangt, in dem das Treffen stattfinden soll, er tritt sich den Dreck von den Stiefeln und streift sie zudem am Treppenabsatz ab. Sauber, das hat er gelernt, immer sauber.

Und dann haben sie ihn ungewaschen genannt! Die neue Autobiographie läuft gut, sagt Rowohlt, schon 20 000, und auch das Frühwerk soll Wagenbach wieder gut verkaufen, sagt die Agentin. Gut, denn da war er ehrlich, da hat er nichts umgeschrieben, wie die anderen, auch die ganzen »Der Kampf geht weiter«-Sachen sind drin, die »Zur-Sache«-Aufsätze. Sollen die Jungen mal sehen, wie es damals war, da hat Bahman ganz recht.

Oh, das wird nerven, jetzt in diesem Jahr, wenn sie ihm wieder damit kommen, dass erst die Lastwagen von Springer brannten und dann Schleyer erschossen wurde, als ob das wirklich so war, so linear, aber das kam immer, schon ab 20 Jahre ’68. Und er ist ja letztlich nicht darauf eingestiegen, als ihm die von drüben Sprengstoff besorgen wollten, damit sie die Scheiße aus den Klos wieder ins Springer-Hochhaus hochsprengen. Das wäre schon gut gewesen, Bachmann, die Hetze, aber eben – und Gretchen und die Kinder, nein, das hat er richtig gemacht, auch vor seinem Gewissen, vor Gott, das war gut.

Ein bisschen mehr hätten sie dem Establishment schon in den Arsch treten können, damals, dann träte man ihm heute nicht so moralisch überlegen entgegen, so besserwisserisch, wie er das hasst, dann wünschte er manchmal, er wäre tot wie Ohnesorg oder so. Meinhof, jedenfalls nicht das, das nicht mehr anhören müssen.

Er wendet sich dem Tisch zu, grüßt in die Runde, Bernd ist natürlich schon längst da. Er dreht sich zur Kellnerin, »Ja, für mich auch Taramosalata, und Fasolakia bitte«, er isst heute kein Fleisch, das tut ihm auch ganz gut, da haben die Jungen schon recht.