Eine Kritik der Luther-Kritik

Alles in Luther?

Die antideutsche Kritik an dem Theologen aus Wittenberg begeht drei große Fehler: Sie überhöht seine religionsgeschichtliche Bedeutung, schwächt damit die Kritik am Protestantismus und kommt nur selten ohne eine Idealisierung des Katholizismus aus.

Auf das deutsche Luther-Jahr mit all seinen erwartbaren Grotesken antworten ideologiekritische Linke mit Veranstaltungen unter dem sinn­gemäßen oder wörtlichen Titel »Von Luther zu Hitler«. Wo diese Ableitung mit »logischer Konsequenz« doch zu gewagt erscheint, behilft man sich mit Assoziationen. Die hier zitierte Ankündigung einer Veranstaltung in Kassel legt nahe, dass die »Jenseitsverbundenheit« Luthers dem »islamischen Todeskult« ähnele. Als Gegenbild zu dieser Engführung von Protestantismus und Islam fungiert die ebenso phantasievolle »jüdisch-katholische Objektivität«, deren Erbe praktischerweise die Kritische Theorie sein soll.

In der Tat: Die Erosion der – allerdings auch stets umkämpften – mittelalterlichen Ordnung und Luthers Bündnis mit der weltlichen Obrigkeit spielten eine Rolle im Übergang vom universalen Gottesgnadentum zur Begründung von Herrschaft aus partikularer Volkssouveränität. Der Versuch, Luthers Theologie eine Schlüsselposition im Rahmen dieser Dialektik des Fortschritts zuzuweisen, fällt aber auf die deutsche Mythologisierung Luthers herein. Die Geschichte der Verflechtung des Protestantismus mit dem Nationalismus und dem Judenhass ist lang und blutig, wie ein Blick auf historische Daten zeigt. Beim Reformations­jubiläum 1817 – dem gemeinhin als Geburtsstunde der deutschen Demokratie bezeichneten Wartburgfest – wurde Luther zum Vorkämpfer der deutschen Nation; an seinem 400. Geburtstag 1883 dann zum germanischen Heros. Je nach Laune und politischer Opportunität verkaufte man ihn als staatstragend oder empörerisch. Die linke Luther-Kritik übernimmt diese nachträgliche Überhöhung, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen.

Selten geraten die Abgründe von Luthers Ideologie dabei ganz in den Blick. Wer sich dem Verhältnis seiner Judenfeindschaft zur entfalteten ­Paranoia des modernen Antisemitismus widmen wollte, müsste beispielsweise auch seine Ansichten über Hexen und »Teufelshuren« berücksichtigen, die er gern höchstselbst zur Strecke gebracht hätte. Im Gegensatz zu den verstockten Juden verfügten in seinen Augen diejenigen, die mit dem Leibhaftigen verschworen waren, über schrecklich große Macht. Die überkonfessionelle Kontinuität des neuzeitlichen Hexenwahns – als Institution, die affektiven Hass auf die Herrschenden in herrschafts­sichernder Weise einband – zeigt, wie leichtfüßig Schlagworte wie »Verinnerlichung« an der wüsten äußeren Barbarei vorbei­gehen, die das christliche Zentraleuropa prägte.

Um die widersprüchliche Geschichte des Protestantismus zu kritisieren, darf man Luthers Bedeutung nicht überschätzen. Wichtig war allenfalls seine Übersetzungstätigkeit, worauf Christoph Türcke 2016 abermals aufmerksam gemacht hat. Theologisch fügte Luther den Diskussionen seiner Zeit kaum Bedeutendes hinzu. Auch Max Weber muss in »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« sehr schnell von dem wenig ergiebigen Luther zur Konstruktion von diversen »puritanischen Sekten« in späteren Jahrhunderten übergehen. Die gesuchte Ethik – zumal die »innerweltliche Askese« – hätte Weber andernorts oder früher in katholischen Orden finden können: Ora et labora. Darauf haben einsame Kritiker wie Heinz Steinert hingewiesen, der »Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen« einer so zornigen wie folgenlosen Polemik unterzog. Fehlkonstruktionen, die kaum haltbarer werden, wenn man sie in die »materialistische« These wendet, wonach das Kapital die protestantische Ethik hervorgebracht habe.

Max Horkheimer neigte dieser Behauptung zu. Der neuen Wirtschaftsordnung habe es nicht mehr ausgereicht, die Menschen durch äußeren Zwang zur Arbeit anzutreiben, sie sollten ihn verinnerlichen und sich von selbst die letzten sinnlichen Impulse versagen, die der Katholizismus noch zugelassen habe. So schreibt Horkheimer 1942 an den evangelischen Theologen Paul (»Paulus«) Tillich: »Die europäischen Arbeiter sind durch die Hungerpeitsche und andere Schrecken in die Manufakturen und Fabriken getrieben worden. Das duldet keinen Zweifel. Daß sie aber nicht immer wieder wegliefen, sobald die Milderung der drakonischen Gesetze eine Chance dazu ließ, (…) daran hat (…) die neuere Religiösität ihren mächtigen Anteil.«

Die Verinnerlichung der  Versagung darf als gefährlich gelten, weil nicht mehr nur die Taten zählen, sondern schon der Wunsch selbst. Wie Freud in »Das Unbehagen in der Kultur« gezeigt hatte, kann der verinnerlichten Autorität nicht mehr durch äußerlichen Gehorsam Ge­nüge getan werden. Nichts bleibt dem Gewissen verborgen, jede Triebregung geht mit Schuldbewusstsein einher. Der Antisemitismus bietet die Möglichkeit, das aufgestaute Strafbedürfnis an denen auszuagieren, die angeblich nicht hart genug gegen sich sind, und zugleich den Zweifel darüber abzutöten, ob der Verzicht wirklich nötig ist.

Der religiöse Subjektivismus und die »objektlose Innerlichkeit«, wie sie Adorno von Kierkegaard zu dem evangelikalen Radioprediger Martin Luther Thomas verfolgte, bleibt ein Kernstück der Kritik von Protestantismus und Neuzeit. Es ist aber unnötig, gegen die Verinnerlichung eine »jüdisch-katholische Objektivität« zu konstruieren. Man kann den Protestantismus trefflich kritisieren, ohne sich dabei dessen Behauptung zu eigen zu machen, im Katholizismus gehe es nur um das Befolgen äußerlicher Vorschriften. Luthers Kampf gegen die Werkgerechtigkeit, also die Vorstellung, dass die Gnade Gottes durch bestimmte Handlungen gewonnen werden kann, knüpft an Paulus’ theologische Begründung des Christentums an. Da Jesus stellvertretend für alle Menschen die Vorschriften des jüdischen Gesetzes ­erfüllt habe, sei die Befolgung der einzelnen Vorschriften – Speiseregeln, Beschneidung und so weiter – aufgehoben. Angesichts dieser Gegenüberstellung von innerem Glauben und äußerem Tun mag es naheliegen, sich in analoger Weise gegen Luther auf die Seite des Katholizismus zu schlagen wie gegen Paulus auf die des Judentums. Zu erkennen, dass sich das Christentum in ähnlicher Weise vom jüdischen Gesetz abgrenzte wie der Protestantismus von der Werkgerechtigkeit, ist eine Sache – durchaus etwas anders ist es, die diffamierende Fremdbeschreibung als eine adäquate Darstellung der historischen Realität des Judentums ­respektive des Katholizismus zu akzeptieren und bloß die Bewertung umzukehren. Derartige Aussagen Horkheimers darf man nicht für religionsgeschichtliche halten. Sonst macht man sich leichtfertig das christliche Vorurteil einer pharisäisch-jüdischen Werkgerechtigkeit ­zueigen – sei es auch in antisemitismuskritischer Absicht.
Die Behauptung, das bloße Tun sei dem »innerlichen« Glauben vorzuziehen, bietet sich zu einer Apologie von Fremdbestimmung an. Religiöser Praxis wird aber nichts von ihrer Erklärungsbedürftigkeit genommen, wenn man gar nicht erst versucht, sie zu begründen. In den »Studien zum autoritären Charakter« lässt sich nachlesen, was davon zu halten ist, Religion instrumentell als ethisch-sozialen Kitt zu begreifen. Dort betont Adorno übrigens, der Nationalsozialismus habe gerade in seinen süddeutschen Ursprungsregionen als Ersatz für die katholische Autorität fungiert. Die widersprüchlichen Affinitäten von Religionen und Politik sind Gegenstand, nicht Identifikationsobjekt Kritischer Theorie. Dabei wäre es fahrlässig, eine gewisse Nähe des modernen Judentums zum Protestantismus unbeachtet zu lassen, die zuweilen tollkühn formuliert wurde. Heinrich Heine etwa lobt in seiner »Geschichte der Religion und der Philosophie in Deutschland« die Reformation enthusiastisch dafür, gegen das »indisch gnostische Element« des Katholizismus das »judäisch deistische Element« gestärkt zu haben. Dass den Juden als »Schweitzergarde des Deismus« der Protestantismus näher ist, steht für ihn außer Frage. Im Gegensatz zu Horkheimer hält Heine auch »die Vernichtung der Sinnlichkeit« primär für ein Merkmal des katholischen Christentums.

Mit der Ansicht, der Protestantismus habe als aufklärerische Religion eine Affinität zum strengen Monotheismus des Judentums, ist Heine repräsentativ für eine namhafte Tradition des deutschen Judentums von Mendelssohn zu Horkheimer. Sie ging auch in die liberaljüdische Hoffnung auf »Bildung« und einen aufgeklärten Staat ein, deren Scheitern Thema der ersten These der »Elemente des Antisemitismus« ist – wobei vor allem einer ihrer Autoren lebensgeschichtlich den utopischen Gehalt dieser Vision kannte: Der Universalismus des Unternehmersohns Horkheimer, seine spezifische Verarbeitung des Ersten Weltkriegs und selbst seine Wende zum Marxismus sind unverkennbar von diesem kulturprotestantischen Hintergrund gefärbt. Im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer forderte er noch in seinen letzten Lebensjahren, das Judentum müsse sich durch Beseitigung des Hebräischen und »der meisten Rituale« ­reformieren. Kants Kritiken und das biblische Bilderverbot bezeugten ihm die zivilisatorische Affinität von deutscher Philosophie und jüdischer Religion. Nachzulesen ist das etwa im Nachwort Horkheimers zu einem Band »Porträts zur deutsch-jüdischen Geistesgeschichte«.

Jürgen Habermas steuerte zu diesem einen offensiv-philosemitischen Artikel bei, den er später selbst als naiv bezeichnet hat. Bei allem Pathos, mit dem dort eine Nähe von Judentum und deutscher Philosophie beschrieben wurde, klang immerhin die Ahnung durch, dass ­solche Konstruktionen oft mehr mit einem selbst als mit dem Gegenstand zu tun haben: »Gäbe es nicht eine deutschjüdische Tradition, wir müßten sie heute um unseretwillen erfinden.«
Wenn deutsche Ideologiekritiker heute eine Affinität von Kritischer Theorie, Judentum und Katholizismus behaupten, lassen sie jede Reflexion darauf vermissen, was für ein Bedürfnis dem zugrundeliegen könnte. Dass im frühen 20. Jahrhundert auch manche Juden mit einer Konversion zum Katholizismus liebäugelten, nimmt Carl Wiemer als Beleg für die Nähe von Judentum und Katho­lizismus (Jungle World 36-37/2011). Dabei beruft er sich auf die nach dem Vorbild Georg Lukács’ gezeichnete Figur des Leo Naphta aus Thomas Manns »Zauberberg«, laut dem »die Konversion eines Juden zur ­römischen Kirche entschieden einen geistlich zwangloseren Vorgang bedeutete als die eines Protestanten«. Ob man die Ansichten dieser Figur über das Judentum übernehmen sollte, ist aber mehr als fraglich: Wie noch im 1947 erschienenen »Dr. Faustus«, wo die Figur des jüdischen ­Privatgelehrten Chaim Breisacher der erste Vorbote des Nationalsozialismus ist, ist Naphta im »Zauberberg« Repräsentant totalitärer, ja faschis­toider Tendenzen – und Antisemit. Ihm erscheinen »alle Greuel des modernen Händler- und Spekulantentums« in der »Satansherrschaft des Geldes, des Geschäfts« verwirklicht.

Ein weniger perfides Beispiel wäre da noch Adorno selbst, der zwar katholisch getauft war, sich aber nach der Jugendbegegnung mit einem beeindruckenden Pfarrer aus eigenem Entschluss konfirmieren ließ. Mitte der zwanziger Jahre spielte er wiederum mit dem Gedanken, doch zum »katholischen ordo« zurückzukehren, um »die aus den Fugen geratene Welt zu rekonstruieren«, wie er 1934 Ernst Krenek mitteilte: »Ich habe es nicht vermocht – die Integration der philosophia perennis scheint mir unrettbar romantisch und in Widerspruch zu jedem Zug unserer Existenz.« Sein Weg führte stattdessen mit Kracauer zu »Kierke­gaards Meinung, daß durch die Sünde der Mensch höher stehe als zuvor«. Wenn die »seligen Zeiten« (Lukács) vorüber sind, muss die Kritik »durch das Ornament der Masse hindurch« (Kracauer). Die »schuldhafte Natur« bewegt nur »zerfallend der Versöhnung sich zu, und ihre Fragmente tragen die Risse des Zerfalls als verheißende Chiffren«. Kritische Theorie kann nicht das Verlorene restituieren, ihr Gegenstand ist der historisch konkrete Status quo des Zerfalls.

Eine theologische Reflexion dessen versuchte Adornos Habilitationsbetreuer Paul Tillich. Er verstand Protestantismus als Religion, deren »Formen bezogen sind auf eine sie in Frage stellende Profanität«. Adorno spitzte die These zu: Es sei möglich, dass die »Funktion des Protestantismus sich (…) geschichtlich zugleich erfüllt und erschöpft hat« und die christlichen Formulierungen nurmehr »leere Hülsen« historisch überholter Probleme darstellten. Der späte Adorno vermochte eher in den Häresien der Gnosis und des Sabbatianismus Verwandtschaften zu erkennen. Fasziniert lauschte er Gershom Scholems Erzählungen darüber, dass die Sabbatianer – durch ihre unter dem Motto »Erlösung durch Sünde« betriebene Umkehrung des jüdischen Religionsgesetzes – der »Haskalah«, der jüdischen Aufklärung zuarbeiteten. Auch das lässt sich historisch bestenfalls punktuell belegen. Überdies sah Scholem in den Sabbatianern ein jüdisches Äquivalent zu Webers »puritanischen Sekten«. Adornos Verweise auf die Tendenz »der Mystik« zur Aufklärung wären somit unwissentlich kryptoprotestantisch.

Wer versucht, die wechselhaften Gestalten religiösen Bewusstseins philosophisch zu deuten, entdeckt leicht vage Ähnlichkeiten. Affinitäten christlicher Strömungen zur Kritischen Theorie lassen sich aber ­immer nur im Hinblick auf bestimmte Konstellationen herstellen: da, wo die Gehalte der Traditionen plötzlich – meist ironisch verzerrt und schon im nächsten Augenblick schief – als Kommentar zur Gegenwart erscheinen. In diesem Sinne sind die Rückgriffe Horkheimers und Adornos auf die Religionen als Modelle zur Erhellung der Realität zu verstehen. Nur in diesem Bewusstsein ­ließe sich die Kritik an der evangelischen »Innerlichkeit« oder der ­Kontinuität des Antisemitismus seit der Reformation angehen.