Schließt die Debatte über die G20-Gipfelproteste ab

Gegen deutsche Verhältnisse

Die nahezu reflexhafte Distanzierung von den linksradikalen G20-Protesten endet im positiven Bezug auf den deutschen Staat und das kapitalistische Weltsystem. Das ist weder aufklärerisch noch subversiv.

Die Debatte über die Gipfeltage in Hamburg ist von vielen offenen Fragen und Unklarheiten gekennzeichnet. In dieser Zeitung wurde sie von einem Beitrag der Gruppe »Roter Salon« aus Leipzig eröffnet. Noch bevor das Hamburger Spektakel begann, bezeichnete sie das Treffen von Staatschefs samt Entourage und Polizei als ein »Moment pragmatischer Vernunft« (Jungle World 26/2017). Um Polizeigewalt ging es in mehreren Beiträgen, unter anderem im Text von Paulette Gensler, die die Polizei als »besonders bedroht« sah (Jungle World 31/2017). Führten die Proteste zu einer »affektiven Politisierung«, die »positiv, geradezu zärtlich« war, wie die Gruppe TOP Berlin schwärmerisch schreibt (Jungle World 32/2017) Das ist eine ebenso gute Frage wie die nach der Sinnhaftigkeit und Vermittelbarkeit der teilweise martialischen Sprache der Protestankündigungen und der gewählten Formen von Militanz bis hin zum Umgang mit dem Eventcharakter des kleinen Schanzenkrawalls. Die kraftmeierische Sprache der Gruppe klingt wie das Pfeifen im Walde einer gesellschaftlich weitgehend marginalisierten radikalen Linken, die es mit einer enormen Kraftanstrengung bei der Mobilisierung, den Blockaden und der Militanz kurzzeitig ins Licht der Öffentlichkeit schaffte, jedoch als Gegenstand einer massiven, stigmatisierenden Ausgrenzungskampagne.

Es ist ebenso bizarr wie oberflächlich, wenn die Gipfelproteste von der Gruppe »Roter Salon« und Paulette Gensler kritisiert werden, ohne die politischen, auch durch die Hamburger Polizeiführung gesetzten Rahmenbedingungen und die gesellschaftliche Situation auch nur ansatzweise zu berücksichtigen. So wird Ideologiekritik selbst zur ressentimentgeleiteten Ideologie, zum Bashing. Der »Rote Salon« schweigt zur Rolle der unkontrolliert handelnden Hamburger Polizeiführung. Diese hatte bereits Wochen vor Erscheinen des Textes der Leipziger Gruppe die größte Demonstrationsverbotszone in der Geschichte der Bundesrepublik verhängt und verkündet, militante Demonstranten stünden »nicht unter dem Schutz von Artikel 8« des Grundgesetzes, weshalb die Beamten »hart durchgreifen« würden, wie es ein Polizeisprecher vor dem Gipfel formulierte. Bislang gibt es keine endgültige Zahl der verletzten Demonstranten und keine abschließenden Erkenntnisse über den unglaublichen Umfang der Grundrechtsverletzungen. Die Lektüre des am 16. August veröffentlichten Berichts des Komitees für Grundrechte und Demokratie, der sich auf die Schilderungen von 43 Beobachterinnen und Beobachtern stützt, bietet einen ersten Überblick und ist von größerem Nutzen für die Beurteilung der Vorgänge als viele polemische Kommentare. 

Zudem fand nicht nur der Protest statt, sondern auch der Gipfel selbst, was gelegentlich vergessen wird. Als »Gruppe der 20« trafen sich am 7. und 8. Juli in Hamburg die Chefs der 19 Staaten mit den weltweit höchsten Bruttoinlandsprodukten und der Präsident der EU-Kommission. Nächstes Jahr richtet Argentinien den G20-Gipfel aus. Der Präsident des Landes, Mauricio Macri, will sich für seine Politik der Demontage des Sozialstaates, des Abbaus der Arbeitnehmerrechte und der Abschottung gegen die Armutsmigration feiern lassen. Dies und die radikale linke Opposition in Argentinien zur Kenntnis zu nehmen, wäre eine sinnvolle Vorbereitung auf den Gipfel 2018.
Dieses Jahr war es Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich für die Abschottung gegen die Armutsmigration feiern ließ. Bei der Demontage des Sozialstaats und dem Abbau der Arbeitnehmerrechte hat die rot-grüne Vorgängerregierung bereits einiges vorgelegt. Deutschland ist führend bei der Absenkung der Lohnquote am Gesamteinkommen und bei der Steigerung der Unternehmergewinne. Die Lohnstückkosten sinken seit Jahren und Deutschland ist es mit seiner ökonomischen Macht gelungen, die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union an eigenen Interessen auszurichten.

Freiheit und Emanzipation gibt es nicht geschenkt, der Kapitalismus funktioniert auch ohne sie.

Der G20-Gipfel brach nicht mit der Deregulierung und Flexibilisierung sowie der Entrechtung der Armen, die anstatt der Armut bekämpft werden. Die soziale und existentielle Verunsicherung nützt sozialdarwinistischen, nationalchauvinistischen Ideologien und Parteien, die sich beim Treten nach unten hervortun. Abschottung und Protektionismus sind aber keineswegs Gegensätze zu Grenzöffnung und Freihandel, sondern Alternativoptionen in der Flickschusterei nationaler Wettbewerbsstaaten. Diese überbieten sich gegenseitig darin, noch bessere Akkumulationsbedingungen für das Kapital zu schaffen, und bauen zugleich ihre Repressionsapparate, die kontrollierte Integration von Opposition und ihre rigorosen Grenzregime aus. In den linksradikalen Aufrufen von »Ums Ganze« und »Welcome to Hell« wurde dies klar benannt. Dabei ging es vermutlich nicht darum, Unterschiede zwischen liberalen und diktatorischen Akkumulationsregimen zu nivellieren, sondern eine grundsätzliche Ablehnung des Kapitalismus zu artikulieren. 

Auf diese analytische Schwäche wies der »Rote Salon« zu Recht hin: Es gibt unterschiedlich verfasste Staaten, von sozialliberal bis islamistisch-diktatorisch, und die bürgerlich-liberale Variante wäre gegen Schlimmeres zu verteidigen. Doch der »Rote Salon« verliert den kritischen Blick von links: Staaten sind keine Gebilde, in denen natürwüchsig entweder die bürgerlich-liberale Demokratie oder die Diktatur herrscht. Man muss die jeweils herrschenden Zustände als aus Klassenkämpfen entstandene Kräfteverhältnisse analysieren. Denn Freiheit und Emanzipation gibt es nicht geschenkt, der Kapitalismus funktioniert auch ohne sie.

Zur Kritik am Kapitalverhältnis und an der deutschen nationalen Formierung gehört es, praktisch zu werden, sich nicht als antideutsche und akademische Linke auf das reine Kommentieren zurückzuziehen: Lesekreis und Gipfelprotest – zwei Termine, ein Ziel. Es ist notwendig, einen antagonistischen Standpunkt einzunehmen: sich nicht mit einer Kapitalfraktion gemein machen, sondern die entfremdeten Verhältnisse bekämpfen, aus denen Ausbeutung, Patriarchat, Islamismus, Antisemitismus, Nationalchauvinismus entstehen und reproduziert werden. Es gibt keinen »freien Westen« zu retten, sondern es gilt die weltweiten Ausbeutungsverhältnisse abzulehnen.
Der »Rote Salon« verspricht sich dagegen vom Kapitalismus einen Fortschritt und weist darauf hin, dass sich »die Bevölkerungsmehrheiten in den abgehängten Regionen nichts sehn­licher als eine kapitalistische Durchdringung wünschten, die wenigstens die Aussicht auf sozialen und politischen Fortschritt böte.« Die dahinter stehende naive Vorstellung, Kapitalismus sei das, was in den Metropolen des Weltsystems an Reichtum vorhanden ist, während die zur Schaffung dieses Reichtums ausgebeuteten Regionen des globalen Südens einfach nur zu wenig am Kapitalismus teilhaben könnten, ist pure Ideologie.

Immanuel Wallerstein geht in seiner Geschichte des kapitalistischen Weltsystems davon aus, dass nach und nach alle Regionen der Welt von Nordwesteuropa aus in den Kapitalismus integriert wurden. Eines von vielen Symbolen hierfür ist der Cerro Rico in Potosí in Bolivien: Der Berg ist durchlöchert, die Umgebung ärmlich. Früher  – nachdem Bolivien durch die conquista Teil des Weltsystems geworden war – wurden hier im großen Stil Gold und Silber abgebaut. Der Aufschwung des frühen Kapitalismus wurde in dem brutalen Minenregime mit den Knochen der Indigenen erkauft.

Der Text der Gruppe »Roter Salon« weist neben einigen brauchbaren Versatzstücken einen Grad an Affirmation und positiver Bezugnahme auf Deutschland und das Kapitalverhältnis auf, der in einen Abgrund blicken lässt. Nicht alles, was gegen bewegungslinke Globalisierungskritik vorgebracht wird, ist nützlich für den Kampf gegen die deutschen Verhältnisse und deren Events wie G20 in Hamburg.