Über die Kritik an Facebook

Das Ende der Debatte

Die Kritik an Facebook konzentriert sich auf Datenschutz und Hassreden. Das greift zu kurz.

Leserbriefe waren ehemals eine Form der Vermittlung zwischen Redaktion und Leserschaft, aus denen teils ausführlichere Korrespondenzen zwischen Autor und Leser hervorgegangen sind. Das Sympathische am Leserbrief erwuchs nicht zuletzt aus den Umständen, die er dem Schreiber machte. Schon das eher handwerkliche Schreiben mit Stift oder selbst Schreibmaschine gehörte dazu. Aber auch darüber hinaus musste man investieren: Geld für die Marke und Zeit, um den Brief zur Post zu bringen. Dies bildete zusammen eine Hürde, die die Mehrzahl der Zeitungsleser davon abhielt, überhaupt einen Leserbrief zu schreiben, eine Minderheit jedoch dazu anhielt, bemerkenswerte Mühe auf diese Meinungsäußerung zu verwenden. Alte Exemplare zeugen noch deutlich davon, dass Stunden, wenn nicht Tage an Überlegungen und Formulierungsversuchen in solchen Briefen stecken. Einige solcher Briefe waren besser als die Artikel, auf die sie sich bezogen, weshalb man sie schlichtweg nicht ignorieren konnte. Sie drängten sich qualitativ nahezu auf. Nicht geleugnet werden soll, dass eine gute Anzahl dieser Briefe gewollt intelligent und somit unglaublich schwülstig daherkam. Mit dem Fax wurde es zwar deutlich einfacher, kostete aber noch ein paar Pfennig. Die E-Mail berührt schon eine Grenze, der Kostenfaktor wegfällt.

Natürlich wäre es völlig anachronistisch, an den früheren Formen festzuhalten, wobei nach einer E-Mail zu verlangen, keine allzu große Anmaßung sein dürfte. Was diese Mitteilungsformen nämlich alle gemein haben, ist, dass es sich um individuelle Akte handelt, die nicht schon der Form nach zur Gruppenbildung führten oder diese nur sehr vermittelt über Beifall außerhalb der »Medien«, wie im Kaffeehaus, erlaubten.

Der Leserbrief war immer ein Stiefkind der journalistischen Gattungen; die digitale Kommentarfunktion hingegen bedeutet den Ruin einer Gattung. Der Kommentar war eine der ältesten journalistischen Darstellungsformen, und vor allem jene, welche eine bürgerliche Zeitung potentiell vor der bloßen Hofberichterstattung bewahrte. Indem er zu einer Funktion degradiert wird, fällt dies auf die Gattung selbst zurück. Eine Funktion ist jenseits von Zweck und Mittel. Das mathematische Moment sollte sich als praktisch werdende Mengenlehre bald ebenso durchsetzen wie die dazugehörigen Funktionäre der bloßen Meinung. Im selben Maße wie hierbei der trennende, spaltende Kommentar zur verbindenden Kommunikation verkommt, wird zu vermittelnder Inhalt, über den sich streiten ließe, zum zu teilenden und zu verwaltenden Content und somit zur bloßen Information, auf die nurmehr reagiert wird. Content ist bloßer Container für all das, was schon der Form nach zur Bewerbung des Ganzen und somit der sozialen Befriedung dient.

In zahlreichen Online-Auftritten herkömmlicher Medien werden die Kommentarfunktionen seit einiger Zeit abgeschaltet oder zumindest erheblich eingeschränkt, da man die Moderation nicht mehr in den Griff bekommt. Nun ist dies nicht unbedingt Grund zur Empörung, denn die Kommentarfelder waren so gut wie nie ein Ort der Debatten und Reflexionen. In diesem Fall hätte es also tatsächlich einmal sein können, dass aus der Not eine Tugend geboren wird, von der man sich leider auch nicht allzu viel versprechen dürfte.

Die momentane Entwicklung weist jedoch in eine andere Richtung, denn die meisten Redaktionen ziehen mit ihren Meinungsstammgästen ausgerechnet zu Facebook. Anstatt die Leser zu zwingen, analoge oder digitale Leserbriefe zu schreiben, wenn sie etwas wollen, hat man aufgegeben. Die Kapitulation davor ist nachvollziehbar, sie gehorcht der Marktlogik. Eine notwendig effektive Vermarktung erfolgt heute über eine Facebook-Seite; selbst bei kleinen Handwerksbetrieben, die sich früher noch auf die Gelben Seiten verließen. Auf Verweigerung steht hier der ökonomische Untergang.

Anders als bei Unternehmen, die Facebook gezielt als Werbeplattform verwenden und dem stummen Zwang der Verhältnisse folgen, kann man den Facebook-Aktivismus der meisten Privatpersonen wahrlich nicht einfach als notwendig falsches Bewusstsein rechtfertigen. Facebook ist in gewisser Weise eine verallgemeinerte Kommentarfunktion. Dabei plätschert jede Debatte über hate speech nur an der Oberfläche des Grauens, denn Facebook selbst ist bis in seine Grundstruktur das Problem. Vom Justiz­ministerium initiierte Löschungen durch private Unternehmen sind nur eine Facebook entgegenkommende Aufweichung des Rechts, durch die  man Leute, die strafrechtlich relevante Dinge schreiben, wie ein kleines Kind für eine gewisse Zeit in die Ecke verweist, bis sie sich beruhigt haben und eventuell darüber nachdenken, was sie falsch gemacht haben. Dass dies sogar noch viel mehr Leute trifft, die nichts strafrechtlich Relevantes verfasst hatten, ist das eigentliche Drama.

Facebook ist kein neutrales Feld, das es nur richtig zu nutzen gilt. Jeder Begriff, der hier irgendetwas bezeichnet, verdeutlicht das Ideologische dieses Mediums. Die Kritik an Facebook kreist jedoch um den Datenschutz – als sei der Mensch nicht mehr als ein Datenträger (zu dem man sich im Benutzerprofil ja wirklich macht). Seiner Herkunft nach ist der sogenannte User weder Citoyen noch Bourgeois, sondern ein Kleinbürger, der von seinem virtuellen Fensterbrett aus die Welt betrachtet und kommentiert, ohne sein Heim physisch verlassen zu müssen. Er meint, auf der Bühne der großen Welt oder zumindest in der Öffentlichkeit, die ihm nie recht behagte, mitspielen zu dürfen. Die alte Marketing-Weisheit, dass ein Unternehmen ohne Werbung schon so gut wie tot ist, gilt längst auch für die Subjekte, zumal für die Angehörigen bestimmter Berufsgruppen wie Journalisten, Politiker, Wissenschaftler, Künstler, Designer und viele andere mehr. Wer nicht bei Facebook ist, scheint kaum mehr zu existieren. Face­book ist zwar nur eins von vielen sozialen Medien, aber wahrlich kein beliebiges, und das hat nicht nur etwa mit den Nutzerzahlen zu tun. Während zahlreiche andere Foren ­einen bestimmten Zweck (Musik, Karriere oder Sex) definieren, der irgendwie außerhalb ihrer selbst liegt, entfällt diese Zweckbestimmung bei Facebook und Twitter. Bei Facebook gibt es alles (und nichts) für alle im schlimmsten Sinne. Die »Freunde« sind nicht Zweck, sondern Mittel der verselbstständigten Kommunikation.

Facebook gratuliert dem Kunden zu seinen Jahrestagen der »Freundschaften« und erstellt ein persönliches Video mit unvergesslichen Momenten, die aus diversen Postings bestehen, also den Kontext von Facebook nie verlassen. Face­book ist Kommunikation sans phrase, an der das Soziale nur als Maske haftet. Der sogenannte Content ist vor allem aufbereitetes Material der Werbung und Kulturindustrie; jeder Post ist ein verkappter Slogan. Hier offenbart sich der Fetisch-Charakter der Kommunikation. Der Kunde wird zum »Nutzer« erklärt, um ihm zu suggerieren, Facebook habe tatsächlich ­einen Gebrauchswert, als sei es nicht nur die sich selbst kommunizierende Kommunikation. Facebook ist die Auflösung von Gesellschaftlichkeit in Algorithmen, deren Funktionsweisen von ihren eigenen Produzenten oft selbst nicht mehr verstanden werden. Am ehesten entspricht dies der Verwirklichung der post­modernen Philosophien. Der Begriff »Benutzerkonto« beschreibt treffend die Ansammlung des vermeintlich sozialen und kulturellen Kapitals. Das »Benutzerprofil«, das jeder erstellen muss, um zu partizipieren, verwirklicht das Lacan’sche Spiegelstadium. Hier kann sich jeder anschauen und zu dem idealisierten Bild seiner selbst sagen: »C’est moi!« Das Profil erscheint als authentisches Ich. Dabei ist Facebook wie der See, indem sich Narziss spiegelt und verliebt in seinem Bild untergeht. Anders als der mythologische Narziss braucht das Ego des Facebook-Nutzer das Echo jedoch, denn es bestätigt ihn in seinem Treiben.

Besonders erfolgreich wurde Facebook schließlich aufgrund der Like-Funktion, die 2009 freigeschaltet wurde. Spätestens seitdem ist auf Facebook der – bei Privatpersonen meist bewusstlose – Kampf um die Statistik entbrannt. Was nicht gelikt wird, hat keinerlei Wert, deshalb geht es bei Facebook vor allem um die Anzahl und das Engagement der eigenen Claqueure. Für die beteiligten »Freunde« ist der »Like«-Button das Ausdrucksmedium schlechthin, für den Gelikten ist es wie eine Belohnung. Es geht in erster Linie um Gefolgschaft – »Leuten folgen« heißt es bei Twitter. Die Meutebildung ist strukturell angelegt. Likes sind vir­tuelles Prestige. Es ist symptomatisch, dass man bei Facebook zunächst nur Zustimmung äußern konnte, womit man aber schnell bloße Aufmerksamkeit signalisierte; das »­gefällt mir« wurde im Sinne einer Kenntnisnahme verwendet.

Die »Ausdifferenzierung« der Like-Funktion stellt sogar eine noch weiter­gehende Regression dar. Musste man sich vorher ab und an schriftlich rechtfertigen, wieso man etwas Widerliches likte, reicht nun das Einschnappen mithilfe der zur Verfügung gestellten Emojis. Facebook ist vor allem aufgrund seiner Like-Funktion ein weiterer oder sogar der Nagel zum Sarg der Urteilskraft. Es zeigt nun die jeweils akkumulierten Likes an, welche man auf dem vir­tuellen Persönlichkeitskonto angesammelt hat: »Hallo XY, deine Freunde haben deine Beiträge 98 000 Mal mit »Gefällt mir« markiert! Kaufen kann man sich mit dieser symbolisch-neurotischen Währung nichts; vielmehr ahnen alle, dass man Facebook nie verlassen darf und sich dort sogar noch stärker engagieren muss, will man nicht irgendwann ­erfahren, dass alles umsonst war. Man ist nun aber zu einer Suche nach der verlorenen Zeit charakterlich gar nicht mehr in der Lage, da man schon jede Fähigkeit zur Beobachtung, Erfahrung und Erinnerung eingebüßt hat.

Man kann bei Facebook nicht gewinnen, wenn man nicht mitmacht, sich nicht gleichmacht. Das notwendige Erheischen von Aufmerksamkeit braucht die Provokation. Wer höflich bleibt, geht unter. Netiquette werden die Verhaltensregeln genannt, an die sich niemand hält, da schließlich auch keiner mehr weiß, was Etikette einmal bedeutete.
Die »Sphäre« von Facebook ist schwer zu fassen. Es ist im Allgemeinsten eine der Halb- oder besser Scheinöffentlichkeit. Die meisten Ähnlichkeiten hat sie mit der Sozialsphäre. Tendenziell umfasst das ei­gene Profil jedoch eine Spannweite von Tagebuch bis Bühne, von Beichte bis Kanzel sowie von Therapie bis Marschbefehl. Jan-Hinrik Schmidt prägte dafür im affirmativen Sinne den Begriff der »persönlichen Öffentlichkeit«. Deren Vorteil sei, dass es nun einen Dialog statt eines Monologs gäbe und dass die Konversation an die Stelle der Publikation getreten sei. In der Vorliebe für Konversation drückt sich jedoch vor allem die Angst vor dem Abgeschlossenen aus, das eine Publikation darstellen würde, da man sie aus der Hand gibt und sie sich schließlich materialisiert.

Facebook hat die Trennung des Sphären, die nie absolut war, völlig abgeschafft. Diese neue Form der ­Öffentlichkeit ist gekennzeichnet durch eine krude Melange aus Exhibitionismus, Voyeurismus, Verrohung einerseits und Dünnhäutigkeit andererseits. Das fügt sich in eine Takt- und Schamlosigkeit, die von dem Wissen lebt, dass man, sofern man einmal über die Stränge schlug, alles bearbeiten oder löschen kann.

Die Bedeutung der Like-Funktion sorgt dafür, dass man niemanden mehr anredet, sondern nur noch über Abwesende schimpft oder sich hämisch erhebt. Ein Mindestmaß oder wenigstens Restbestand an Anstand und Höflichkeit würde hingegen verlangen, dass man Geschmähte über den Akt und vielleicht sogar den Grund informiert. Alles andere ist bloße Denunziation des Blockwarts, welche durch den symbolischen Beifall der Likes die Legitimation bezieht. Diese Art des Umgangs fällt natürlich auch aufs Lob zurück, das restlos schal zu werden droht, vor ­allem, wenn es als inhaltsleere Begeisterung daherkommt, die eben nur die Kehrseite der ebenso be­schädigten Empörung ist.

Mittlerweile werden Postings schon in journalistischen Texten zitiert. Sie gelten somit als eigene Textgattung und das leider mit einem gewissen Recht, denn ihre Relevanz in der »öffentlichen Meinungsbildung« kann kaum überschätzt werden. Deshalb ist es vielleicht sogar zu begrüßen, dass alles, was im Netz passiert, nicht automatisch dort verbleibt. Zu hoffen ist, dass einigen Leuten bewusst wird, was sie online fabrizieren, wenn sie das Geschriebene in Print-Form gespiegelt bekommen. Natürlich ist das eine trügerische Hoffnung, denn was auf dieser Plattform für Multiplikatoren in erster Linie eingeübt wird, ist ­Unansprechbarkeit. Aufgrund der ­zunehmenden Feigheit im Angesicht des Autors verkommt das Handgemenge der Kritik zu digitalem Schattenboxen.