Der Verfall der Ölpreise und die Folgen für die venezolanische Wirtschaft

Die Krise des Ölrentensozialismus

Der globale Verfall der Ölpreise betrifft nicht nur Venezuela. Dass seine Folgen dort so heftig zu spüren sind, liegt an der strukturellen Schwäche der Wirtschaft im Land.

Fast prophetisch mutet angesichts der jüngsten Entwicklungen in Venezuela ein Artikel aus der sozialrevolutionären Zeitschrift Kosmoprolet aus dem Jahr 2007 an, der in gekürzter Version als Dossier auch in dieser Zeitung veröffentlicht wurde. »Während eine gut platzierte Minderheit die Erdölrente anzuzapfen vermag und eine rasante Reichtums­entwicklung erfährt, schauen alle auf die kleinen Verbesserungen fürs Volk, auf die diese Minderheit frenetisch hinweist«, schrieb der Autor Sergio López: »Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts? Eine karitative Kleptokratie! Und zwar eine, die das Land auf die nächste wirtschaftliche Krise zusteuert.« Das war noch während der Präsidentschaft von Hugo Chávez.

Es ist vor allem der Klassen­kompromiss des Chavismus mit den traditionellen Führungs­schichten, der die Krise verschärft hat.

Mittlerweile befindet sich das Land mit den größten Erdölreserven der Welt am Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Wie konnte es so weit kommen? Das Bruttoinlandsprodukt Venezuelas ist im vergangenen Jahr um 16 Prozent gesunken, die Inflationsrate lag in den ersten zwei Monaten diesen Jahres bei 800 bzw. 720 Prozent im Verhältnis zu den entsprechenden Vorjahresmonaten und der Mangel an den elementarsten täglichen Gebrauchsgütern und Lebensmitteln ist für viele längst zum Dauerzustand geworden.

Als Ursache für diese Misere beschwören die Regierung von Nicolás Maduro und seine Unterstützer immer wieder den geringen Ölpreis und den »Wirtschaftskrieg«, den die USA und die heimische Oligarchie gegen den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« führen würden. Obwohl diese beiden Kräfte nicht eben wenig tun, um den Sturz des Regimes herbeizuführen, so kann dies doch nur aufgrund der strukturellen Defizite der venezolanischen Nationalökonomie Wirkung ­zeigen. Da wäre zunächst die fehlende Industrialisierung des Landes, die ­Venezuela so abhängig von den Erdölexporten gemacht hat wie noch nie ­zuvor. Derzeit werden 96 Prozent der Exporterlöse durch den staatlichen Erdölkonzern Petróleos de Venezuela, S.A. (PDVSA) erzielt. Dieser muss wegen seiner weitgehend maroden Infrastruktur das Öl zu immer höheren ­Kosten fördern, die kaum noch unter dem durch das Fracking gefallenen Weltmarktpreis für Erdöl liegen.

Aber auch auf anderen zentralen Feldern dessen, was die Regierung als »Wirtschaftskrieg« bezeichnet, zeigen sich wirtschaftspolitische Defizite. Die chavistische Ökonomin Pasqualina Curcio hat in ihrer Untersuchung über diese Konflikte für die Jahre zwischen 2012 und 2016, die unter dem Titel »La Mano Visible del Mercado« (Die sicht­bare Hand des Marktes) unlängst erschienen ist, zwei Strategien der konservativen Gegner des Regimes ausgemacht: die »durch die Manipulation des Wechselkurses auf dem parallelen und illegalen Markt induzierte Inflation« und die »planmäßige Unterversorgung durch die Manipulation der Verteilungsmechanismen für Grundbedarfsgüter«. Beide fußten, so Curcio, auf der großen Abhängigkeit von Importen sowie auf der »Konzentration der Produktion, der Importe und der Verteilung in wenigen Händen«. Ersteres verweist nicht nur auf die fehlende industrielle Entwicklung, denn auch die landwirtschaftlichen Kooperativen sind von der stets propagierten »Ernährungssouveränität« weit entfernt. Aber es ist vor allem der Klassenkompromiss des Chavismus mit den traditionellen Führungsschichten, der die Krise verschärft hat. Nach wie vor befinden sich etwa 70 Prozent der Wirtschaftstätigkeit Venezuelas in privater Hand. Über 94 Prozent der Importe, die bei privaten ­Unternehmern landen, bilden – gepaart mit dem System staatlich fest­gelegter, unterschiedlicher Dollarumtauschkurse – die Basis des Schwarzmarktes, der die Preise immer weiter steigen lässt.

Hinzu kommt die allgegenwärtige Korruption der staatlichen Bürokratie und der mit ihr verbundenen neuen boli-burguesía, der »bolivarischen Bourgeoisie«, die unter Chávez entstanden ist.

Auf dem aktuellen Korruptions­index von Transparency International landet Venezuela gleichauf mit dem Irak auf Platz 166 von 176 Staaten. Dahinter befinden sich ausschließlich Staaten im Kriegszustand wie Somalia, Jemen, der Südsudan, Afghanistan und Libyen. So bleibt von der »karitativen Kleptokratie« fast nur noch das Substantiv übrig.

Während der Realwert des in diesem Jahr mittlerweile bereits zum dritten Mal angehobenen Mindestlohns derzeit wenig mehr als 23 US-Dollar pro Monat beträgt – hinzu kommen noch Lebensmittelgutscheine im Gegenwert von an­nähernd 100 Dollar – und damit weniger als ein Drittel seines Wertes im Jahr 2013 beträgt, kämpft die herrschende Bürokratie nur noch um das eigene Über­leben und ihren Zugriff auf die Ölrente. Ihre Auslandsschulden bezahlt die ­Regierung bisher immer pünktlich.

Die Washington Post wunderte sich zuletzt über diese »selbstmörderische Zahlungsmoral«. Für kleptokratische Führungsschichten in Rentenökonomien aber ist dieses Verhalten durchaus typisch.