Ein Überblick über die 67. Berlinale

Außerirdische, Lost in Politics

Eine Übersicht über die 67. Berlinale.

Den Auftakt macht »Django« (F 2017): Der Eröffnungsfilm über Django Reinhardt, den Vorreiter des europäischen Jazz, stellt die ständige Bedrohung, seine Flucht und fürchter­liche Gräueltaten an seiner Familie in den Mittelpunkt. 17 weitere Wettbewerbsfilme tanzen um den Goldenen Bären, darunter Werke von Aki Kaurismäki und Stanley Tucci. In einer Spezialgala wird gar »Der junge Karl Marx« (D/F/B 2017) in einem zweistündigen Porträt von Regisseur Raoul Peck wiederauferstehen.

Die internationale Jury, die über die Preisvergabe zu entscheiden hat, wird von Paul Verhoeven geleitet – einem Meister des drastischen Kinos, der passend (am 16. Februar) einen angeblichen Tabubrecher ins Kino bringt: Sein Film »Elle« (D/F/B 2016) handelt von einer Frau, die vergewaltigt wird und damit einen kreativen Umgang findet. Ob 78jährige Regisseure dafür den richtigen Blick haben? Hauptdarstellerin Isabelle Huppert meint: ja. Nach einer ersten Sichtung möchte man hingegen Folgendes vorsichtig formulieren: Früher ist Verhoeven eine treffendere Beschreibung der Auswirkung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse auf Einzelne gelungen.

Berlin bereitet dem Jury-Vorsitzenden im Übrigen einen recht seltsamen Empfang. Die halbe Stadt ist plakatiert mit zwei zugeneigten Robocops – Figuren aus Verhoevens klassischen Polizeifilm von 1987. Das Plakat wirbt für ein Konzert im neu eröffneten Festsaal Kreuzberg; neben den beiden Polizisten-Automaten steht der Name der Band, die spielen wird: Friends of Gas. Die in Indie-Kreisen heiß gehandelten Sportsfreunde dürften einen besonders guten Tag gehabt haben, als sie sich ­ihren Namen gaben. »Bewusst uneindeutig«, schrieb ein Popkritiker dazu, in Englisch stehe »gas« schließlich auch für Benzin. Aha, na dann versucht es doch mal etwas moderner mit »Friends of Elektromobilität«, ihr Amigos of Uneindeutigkeit!

Internationale Besucher, die vielleicht von der Debatte über den AfD-Landesvorsitzenden Björn Höcke und seine Auslassungen zur deutschen Erinnerungskultur gehört haben, könnten jedenfalls auf die Idee kommen, in Deutschland seien gerade Holocaust-Wochen.

Gute Momente hat die Berlinale immer in ihren Sektionen. Zwei verrückte Filme präsentiert die Reihe Panorama, die immer schon für ein Kino der Extreme offen war. Da ist zum einen der spanische Newcomer des Jahres mit dem schönen Namen Eduardo Casanova, ein 25jähriger Soap-Darsteller, der seinen ersten Film »Pieles« (Häute, E 2017) zeigt. Ein kurzes Drama über Menschen mit Besonderheiten: Einen Jugendlichen, der meint, seine Beine gehörten nicht zu ihm, diverse Kleinwüchsige und als Hauptfigur eine junge Dame, die das Arschloch im Gesicht hat und den Mund im Hintern. Casanova stellt mit seinem Film wie weiland Schlingensief alles Mögliche auf den Kopf, es ist eine knallbunte Welt, in der Gewalt, Trauer, Lebensfreude und Anarchie aufeinandertreffen. Andere werden diesen Film sinnlos bescheuert finden, erste Unmutsbekundungen gab es bereits bei den Previews.

Ähnlich rabiat tritt Berlinale-Dauergast Bruce LaBruce auf mit seinem Film »The Misandrists« (D 2017). Komplementär dazu gehört der Film »Ulrike’s Brain« (D/CA 2017), der in der Sektion Forum läuft, warum auch immer. Im Gespräch mit der Jungle World teilt der Regisseur mit, in beiden Filmen spiele das Gehirn von Ulrike Meinhof eine tragende Rolle. Und: »A group of lesbian separatist essentialist feminist terrorists who want to bring down the patriarchy by making revolutionary lesbian porn.« Die Sektion Forum legt dieses Jahr besonderes Gewicht auf den Formenreichtum des Dokumentarfilms. Institutionenporträts, Langzeitbeobachtungen, Experimentalarbeiten, Hybride. Die Devise: Lebensnah und surreal. Das ist kein Widerspruch in der heutigen Welt, sondern eher lo­gische Konsequenz – wer würde da nicht mitziehen. Paradebeispiel ist »Motherland« (US/PHL 2017), ein Film über die größte Geburtsstation der Welt in Manila. 150 Mütter und mindestens ebenso viele Neugeborene sorgen für reichlich lebensnahe Surrealität.

In der Retrospektive legt man Wert auf fremde Welten und Maschinenmenschen. Nicht zum ersten Mal gilt die Aufmerksamkeit daher dem Science-Fiction-Kino. Schön, die zum Teil rekonstruierten Filme auf der großen Leinwand zu sehen, und damit eines der spektakulärsten Genres der Filmgeschichte. Nebenbei ist die ganze Reihe ein Appell, alte Filme zu erhalten. Denn das analoge Material fällt in den Archiven auseinander und müsste dringend digitalisiert werden. Der Bund steht hier eigentlich in der Pflicht und hat die Rettung des kulturellen Erbes zur »Jahrhundertaufgabe« erklärt. Hoffentlich ist damit nicht gemeint, dass es noch hundert Jahre dauern werde, hier tätig zu werden – möglich ist das, die Mittel werden zum Teil sogar reduziert.

Die Reihe präsentiert dieses Jahr 27 internationale Spielfilme, darunter Klassiker, Kultfilme und weniger ­bekannte Produktionen etwa aus Japan sowie Mittel- und Osteuropa.

Der Headliner – aktuell wie eh und je – ist der US-Film »Soylent Green«, der sich nicht mit Raumschiffen, sondern mit der Nahrungsmittelknappheit auf der Erde beschäftigt. Der Film von 1973 entwirft ein Jahr 2022 mit großen Umweltproblemen und Riesenstädten. Es herrscht Mangel an allem, außer bei den Reichen.

Ein Nahrungsmittelkonzern kon­trolliert sämtliche Prozesse rund ums Essen, mit »Soylent Grün« hat er ­einen Stoff auf den Markt gebracht, der angeblich aus Meeresgetier hergestellt wird und im Gegensatz zu den bisherigen Varianten Gelb und Rot noch halbwegs genießbar ist. Bei der Essensausgabe kommt es regelmäßig zu chaotischen Szenen, Demonstranten werden dann einfach mit Baggern aus dem Weg geräumt. Lange Rede, kurzer Sinn: Soylent Grün ist aus Menschenfleisch, warum auch nicht. Wundert einen das noch, wenn man sich mit der heutigen Nahrungsmittelkette in der Landwirtschaft beschäftigt? Die kostet auch so schon jede Menge Leben: Der Regenwald wird abgeholzt, um Mais und Soja für Rinder und Schweine in Europa anzubauen. Das Fleisch wird exportiert und den Leuten, die jetzt keine Anbaufläche mehr haben, verkauft und damit der heimischen Produktion der Rest gegeben. Und da wundern sich welche über Flucht­bewegungen. Näheres regelt die Berlinale-Programmschiene Kulinarisches Kino.

»Soylent Green« ist in dem Sinne ein überspitzter Thriller – von einem Mann namens: Richard Fleischer. In der Hauptrolle brilliert Waffennarr Charlton Heston, die irrste Szene des ganzen Films ist die, in der er mit seinem Mitbewohner von einem »richtigen Steak« schwärmt.

Dystopien sind auch »1984« (GB 1956) oder George Lucas’ »THX 1138« (US 1971). In einigen Filmen ist die Erde schon erledigt: In » O-Bi, O-Ba: Koniec cywilizacji« (O-Bi, O-Ba: Das Ende der Zivilisation«, PL 1985) haben sich die Überlebenden einer atomaren Katastrophe unter die Erdoberfläche zurückgezogen, die alte Ordnung ist hinüber. Das muss nichts heißen, es herrscht das, was es vorher auch schon gab: Gewalt und Chaos.

Da können nur noch Außerirdische helfen, die sind gut drauf! Der dänische Stummfilm »Himmelskibet« (Das Himmelsschiff, DK 1918), einer der frühesten Science-Fiction-Filme überhaupt, beschreibt das freundliche Zusammentreffen von Erd- und Marsbewohnern. Auch die Seesterne in »Uchûjn Tôkyô ni arawaru« (Die Außerirdischen erscheinen in Tokio, J 1956) machen einen auf gute Laune. Nicht zu vergessen Steven Spielbergs ­Wesen in »Close Encounters of the Third Kind« (Unheimliche Begegnung der dritten Art«, US 1977), die orgelmusikalisch kommunizieren.

Außerirdische, ihr wärt besser mal früher bei uns vorbeigekommen! Heute gibt’s nur noch Hass für euch. Kritik an der Retrospektive gibt es auch. 2017 ist 100 Jahre UFA, das Jubiläum der deutschen Filmfabrik. Dazu wäre vielleicht auch ein Rückblick gut gewesen. Berlinale-Experten munkeln, dass die Science-Fiction-Filme nur aufgelegt wurden, weil im Filmmuseum eine Ausstellung zum Thema läuft.

Zum guten Schluss sei noch auf die Veranstaltungsreihe »Woche der Kritik« verwiesen, die zwar zur Berlinale gehören könnte, es aber nicht tut. Die Filmkritiker selbst veranstalten sie. Im Zentrum steht nicht nur das Kino, sondern auch die Debatte. »Lost in Politics« heißt das Motto der Eröffnungsveranstaltung. Die findet statt, kein Witz jetzt, am 8. Februar im Silent Green Kulturquartier (Gerichtstraße 35, Berlin).

»Müssen Filme politisch sein?« fragen die filmkritischen Außerirdischen, die auf der Erde leben, dieses Jahr. Denn ein paar von ihnen sind genervt vom Programm der Filmfestivals. Der Kritikpunkt: Alles, was irgendwie nach Content aussieht, werde gezeigt. Aber die Filmkunst spiele keine Rolle mehr. »Filme, die die Schwächeren verteidigen und die Gerechten zu Helden machen, haben Konjunktur«, schreiben die Organisatoren. Vielleicht gebe es ja gerade ­einen besonders dringlichen Bedarf an solchen Filmen. Immerhin werde ein betont engagiertes Kino mit Preisen bedacht, man denke an den Cannes-Gewinner von 2015, »Dheepan« (F 2015), in dem ein Flüchtling seine Nachbarschaft niedermetzelt. Wie da wohl die Premierenparty war? Oder auch »I, Daniel Blake« (GB 2016) von Ken Loach über einen vom System verarschten kranken, alten Mann.

Angepriesen werden diese Filme als richtig und wichtig. »Die politische Schlagzeile verdrängt den ästhetischen Diskurs«, mahnen die Filmexperten.

Na, ist doch super, oder? Besser ein Film über einen arbeitslosen Handwerker als den x-ten Arthouse-Mumpitz!

Aber nein: »Das bringt die Filmkritik in Schwierigkeiten, weil sie diesen Filmen und ihren ApologetInnen zu oft nur ins politische Argument folgt und aufhört, über das Kino zu sprechen. Wir fragen nach dem Wert der Politik im Kino und danach, wie man politisch Kino machen kann, statt aus Kino Politik.«

Wer auf Basis dieser Fundamentalkritik reflektieren will, möge sich im Kino Hackesche Höfe einfinden, wo die Woche der Kritik allabendlich ihre Streifen präsentiert.

Mike Otts »California Dreams« (US 2017), in dem Deutschland zur Sehnsucht eines amerikanischen Schauspielers wird, feiert seine Weltpremiere im Film- und Debattenprogramm und es läuft auch »I Am Not Madame Bovary« von Feng Xiaogang (CHN 2016). Ein Film, wie man der Ankündigung entnimmt, »in dem sich alles um handfeste Politik und die Sorgen einer betrogenen Ehefrau dreht«. Als einer der parteikritischsten und erfolgreichsten Filme des chinesischen Kinojahres 2016 ist dieser Nicht-­Bovary-Entwurf annonciert.

»Ehefrau«? So was gibt es in vielen Berlinale-Filmen gar nicht mehr. Mal schauen, ob die Woche der Kritik ihren Anspruch einlösen kann – und zum Beispiel einen Film über eine »group of lesbian separatist essentialist feminist terrorists«, siehe oben, in die Schranken weisen kann.

Geht mal fragen! An jede Filmvorstellung schließt sich eine »Debatte über aktuelle Fragen der ­Filmkultur, -politik und -ästhetik« an.

www.berlinale.de
www.wochederkritik.de