im Gespräch mit Mazen Darwish, Journalist und Menschrechtsaktivist

»Die Wahrheit in Syrien hat heute viele Gesichter«

Mazen Darwish gründete 2004 in Damaskus das regimekritische Syrian Center for Media and Freedom of Expression. Er saß dreieinhalb Jahre in einem syrischen Gefängnis, nachdem er 2012 mit weiteren Bloggerinnen und Bloggern in Damaskus festgenommen worden war. Er hatte öffentlich über die Proteste gegen das Assad-Regime berichtet sowie über Verhaftungen und Polizeigewalt während des »arabischen Frühlings«. Reporter ohne Grenzen ehrte Darwish 2012 für seinen Einsatz als Journalisten des Jahres.

Können Sie etwas über die Arbeit des Syrian Center for Media and Freedom of Expression und die derzeitige Situation berichten?
Die Organisation wurde 2004 in Syrien gegründet, um die Redefreiheit und die Arbeit von Journalisten zu schützen. Wir hatten viele Projekte, zum Beispiel die Medienbeobachtung während der Wahlkämpfe in Syrien, die Freiheit des Internets und staatliche Reiseverbote. Wir waren auch an vielen Gerichtsprozessen beteiligt, in denen die Regierung gegen Menschenrechtler, Aktivisten, Journalisten und politische Oppositionelle vorging. Wir erstellten eine tägliche Presseschau, aber unsere Website wurde 2006 von der Regierung gesperrt. Wir veröffentlichten ein monatliches Magazin namens Mediaclub, aber auch das ging nach unserer Festnahme nicht weiter. Bereits 2009 hatte die Regierung unsere Büros angegriffen. Im Jahr 2012 wurde ich mit 15 weiteren Journalisten und Bloggern verhaftet.
2015 wurde ich freigelassen und ging nach Deutschland. Wir versuchen nun, das Zentrum wieder zum Leben zu erwecken, unser Netzwerk neu aufzubauen. Wir haben derzeit drei Schwerpunkte: Der erste ist die Übergangsjustiz in Syrien (mit transitional justice sind Prozesse der Aufarbeitung eines gewaltsamen Regimes gemeint, die den Übergang zu einer friedlichen Gesellschaftsordnung ermöglichen sollen, Anm. d. Red.); der zweite ist das Engagement gegen Hetze in den Medien und im Internet und der dritte ist die Gründung einer Gewerkschaft für syrische Journalisten in- und außerhalb des Landes.
Ist es derzeit überhaupt möglich, verlässliche Medienberichte aus Syrien zu erhalten?
Das kommt darauf an, woher berichtet wird. Es gibt heute kein einheitliches Syrien mehr, vieles hängt davon ab, wer das jeweilige Gebiet kontrolliert. Wir haben ein gutes Netzwerk, das seit 2004 besteht. Eine Herausforderung ist, dass es je nach Medium völlig unterschiedliche Perspektiven auf die Situation gibt. Derzeit zeigt etwa »Russia Today« Bilder von Flüchtlingen aus Aleppo, denen russische und syrische Soldaten russische Lebensmittelhilfen aushändigen, andere Medien berichten über russische und syrische Angriffe auf Aleppo. Die Wahrheit in Syrien hat heute viele Gesichter, und wir versuchen, das gesamte Bild zu zeigen.
Welche Rolle spielen soziale Medien, etwa der Twitter-Account der siebenjährigen Bana Alabed, über den aus Aleppo berichtet wird?
In Syrien sind soziale Medien eine wichtige Informationsquelle, es gibt viele direkte Zeugenberichte von leidenden Menschen. Es gibt aber auch viel Hetze, und wir müssen sehr vorsichtig damit umgehen, denn es handelt sich um individuelle Meinungsäußerungen, die sich nicht an journalistische Standards halten müssen. Aber wir nutzen soziale Medien und Bürgerjournalismus trotzdem, weil in vielen Gebieten keine professionellen Journalisten mehr arbeiten.
Was können Sie über Ihre Erfahrungen und die Situation in syrischen Gefängnissen berichten?
Als ich das letzte Mal im Gefängnis saß, hatte sich die Situation im Vergleich zu der Zeit vor 2011 und dem Beginn des Aufstands grundlegend verändert. Was in den Haftzentren und bei den Geheimdiensten passiert, ist einfach unglaublich. Menschen sterben täglich durch Folter und schlechte Lebensbedingungen. Folter war ein übliches Werkzeug der Geheimdienste, das zum Herauspressen von Informationen genutzt wurde. Aber seit 2011 wird Folter als Selbstzweck, als eine Strafe für Andersdenkende eingesetzt. Tausende von Menschen sind getötet worden, und dazu hat noch jede Miliz – also ausländische Milizen wie die Hizbollah oder Milizen aus dem Irak – eigene Haftzentren. Sie alle verhaften und foltern Menschen, und es gibt keinerlei gesetzlichen Schutz. Selbst wer Glück hat und einen Gerichtsprozess erhält, landet vor einem Militärgericht, das den Namen Gericht nicht verdient. Ein Militäroffizier liest Anklage und Strafe vor, manchmal dauert das nur 30 Sekunden, es gibt keine Rechtsanwälte, es werden geheime Beweise verwendet, und manchmal wird den Menschen nicht einmal gesagt, weshalb sie inhaftiert oder hingerichtet werden. Dann gibt es noch das Antiterrorgericht. Anwälte sind dort zugelassen, aber sie können nichts bewirken, und es gibt auch dort geheime Beweise. Die Inhaftierungen sind nicht weniger schlimm als Angriffe auf Zivilisten oder die Belagerung von Gebieten, aber über sie wird in den Medien nicht berichtet. Hier gibt es viel zu wenig Interesse, viele Syrer, auch Zivilisten, Frauen, Kinder, leiden und sterben täglich in den Haftzentren.
Wie könnte man den Inhaftierten helfen?
Wir müssen daran arbeiten, das Sterben in den Haftzentren zu beenden. Die Militärgerichte und Todesurteile müssen ausgesetzt werden, dem Roten Kreuz und anderen internationalen Organisationen muss Zugang zu diesen Zentren gewährt werden. Das wäre möglich. Wenn die internationale Gemeinschaft hier ein Zeichen setzen wollte, könnte sie das.
Die internationale Gemeinschaft ist über Syrien uneins, etwa durch die russische Blockade im UN-Sicherheitsrat. Was könnten Deutschland und die EU tun?
Die EU sollte mehr tun. Sie interessiert sich für Flüchtlinge und die Bekämpfung des »Islamischen Staats«, aber das wird nicht funktionieren, ohne dass die humanitären Probleme etwa der syrischen Gefangenen gelöst werden. Die EU kann ernste Gespräche mit Russland und dem Iran führen, Sanktionen erlassen und ein glaubhaftes Signal senden, dass die Haftzentren, die Folter, das tägliche Sterben ein internationales humanitäres Anliegen und inakzeptabel sind. Das könnte Resultate bewirken.
Derzeit steht der Fall von Aleppo unter Assads Kontrolle bevor. Wäre das eine entscheidende Wende im syrischen Bürgerkrieg?
Wir zahlen einen hohen Preis, und das ist normal. Wenn man tiefgreifende Veränderungen in der Geschichte betrachtet, wie zum Beispiel die Französische Revolution, so sind diese nicht sofort geschehen und sie haben große Opfer gefordert. Die Befreiung nach 50 bis 60 Jahren Diktatur in Syrien wird weitere Opfer fordern, das ist nicht das Ende, sondern vielleicht nur der Anfang der ganzen Geschichte. Wir bekämpfen zugleich die Diktatur und den radikalen Islam, es gibt in Syrien also zwei Revolutionen. Wenn wir auf die deutsche Geschichte blicken, brauchte es für religiöse Reformen einen Dreißigjährigen Krieg, bei dem über 50 Prozent der Bevölkerung getötet wurden. Auch die Kämpfe in Syrien sind Teil einer großen Geschichte und es braucht vielleicht noch 20 oder 30 Jahre, bis wir das Ziel erreicht haben, in Frieden, Demokratie und einem modernen Staat zu leben.
Vorerst sieht es so aus, also ob Assad wieder die Kontrolle zurückerobert, auch wegen des neugewählten US-Präsidenten, der sich auf die Bekämpfung des IS konzentrieren will und anscheinend mit Assad kein Problem hat.
Selbst wenn das passiert, würde das nicht das Ende unseres Kampfes bedeuten. In Syrien wird mit anderen Mitteln weiter für Freiheit und Würde gekämpft werden. Ich fürchte, die Europäer und Amerikaner werden beim Kampf gegen den IS den gleichen Fehler wie im Irak wiederholen, als sie al- Qaida nur militärisch besiegen wollten und dabei den autokratischen Nuri al-Maliki unterstützten, ohne eine politische Lösung für den Irak zu suchen. Selbst wenn Assad das ganze Land kontrolliert und der IS besiegt ist, kann eine neue Form des islamischen Extremismus entstehen, unter welchem Namen auch immer.
Welche Kräfte kämpfen derzeit in Ihrem Sinne für ein demokratisches Syrien?
Ich glaube, die Mehrheit der Syrer sehnt sich nach Demokratie und Menschenrechten, aber sie werden mit dem Regime und dem islamischen Extremismus alleingelassen. Die zivilgesellschaftlichen Gruppen erfahren keinerlei Unterstützung und haben keine Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Seit das Regime 2011 Gefangene von al-Qaida freiließ und demokratische Kräfte inhaftierte, und seit die EU und die USA beschlossen haben, diese alleinzulassen, sind die demokratischen Kräfte sehr schwach. Selbst in IS-Gebieten wie etwa Raqqa glauben viele an die Werte von Demokratie und Menschenrechten, aber sie können nichts tun. Das Gleiche gilt für Gebiete, die vom Regime kontrolliert werden.
Welche Rolle könnten syrische Exilanten spielen, die sich freier organisieren können?
Den Millionen Syrern auf der Flucht sollte zunächst die Chance gegeben werden, sich zu erholen, sich neu zu organisieren, Erfahrungen in demokratischen Rechtsstaaten zu sammeln. Das ist eine Chance, aber viel hängt auch davon ab, ob die internationale Gemeinschaft ihnen garantieren kann, dass sie eines Tages zurück nach Syrien gehen können und dort einen sicheren Raum für ihre Arbeit haben.
Wie sehen Sie die kurdischen Gebiete, in denen es bereits demokratische Strukturen gibt? Werden diese überleben und eines Tages wieder Teil Syriens werden?
Das Problem ist, dass es eine Übereinkunft zwischen der Türkei und Russland gibt, die es dem syrischen Regime erlaubt, Aleppo und die kurdischen Regionen anzugreifen. Ich mache mir Sorgen um die Kurden, sie sind sehr wichtig für Syrien. Ich glaube, sie werden vorerst ein Teil Syriens bleiben, aber das hängt auch von den Entwicklungen in der Türkei ab, denn die Kurdenfrage ist nicht rein syrisch. Ich hoffe, wir finden eine Lösung, die die kurdischen Rechte respektiert und bei der die Kurden ein Teil Syriens bleiben.
Unterstützen Sie die Forderung nach EU-Sanktionen gegen Russland?
Es geht dabei nicht nur um Syrien. Es ist sehr bedauerlich, dass die EU keine Strategie für Russland und Syrien hat, denn was in Syrien passiert, ist auch ein europäisches Problem, und das nicht nur wegen der Flüchtlinge. Russland nutzt Syrien, um zu zeigen, dass es wieder eine globale Macht ist. Aber bald wird die EU nicht nur in der Ukraine von Russland herausgefordert werden, sondern in ganz Europa, besonders durch die rechten Kräfte wie zum Beispiel in Frankreich. Putins Mentalität gewinnt an vielen Orten an Zuspruch und bald werden die Europäer merken, dass sie die russische Herausforderung nicht mehr ignorieren können.