würdigt den belgischen Radsport

Manche mögen’s hart

Der belgische Radsport ist der eigenwilligste der Welt. Seine Spitzensportler kennt im Ausland niemand, in Belgien sind sie Berühmtheiten.

Als das Kreuz errichtet wird, geht ein Quietschen durch die Father’s Church im belgischen Roeselare. Meterhoch ist es – und mühselig zusammengeschweißt aus Hunderten von Fahrrädern. »Koers is Religie« heißt die Ausstellung: Radsport ist Religion. In Belgien vielleicht ein bisschen mehr als anderswo. Mit dem Ende der Stra­ßen­weltmeisterschaft in Katar am kommenden Wochenende endet die Straßensaison. Für die meisten Sportler zumindest. In der Winterpause begeben sie sich beispielsweise nach Südafrika, um bei moderaten Temperaturen trainieren zu können. Die Belgier ticken anders.
Für einige von ihnen geht es mit dem Beginn der Cross-Saison, den Veldrijden genannten Querfeldeinrennen, erst richtig los. Das geht ungefähr so: Der Bauer stellt seinen Acker zur Verfügung, Pommesbuden und Bierstände werden ­herangekarrt. Und die Zuschauer, die längst schon mit den Füßen scharren, kommen in Massen  – ausgestattet mit Wikingerhelmen, Clownsperücken und Gummistiefeln. Dabei wird eigentlich nur hin und her gefahren, auf einem sehr kleinen Parcours, der zwischen 2,5 und 3,5 Kilometer lang ist und über Wiesen, Äcker, Waldwege führt. Treppen und Sandpassagen eingeschlossen, damit es die Fahrer, deren Reifen eine Breite von 33 Millimetern nicht überschreiten dürfen, auch bloß nicht zu leicht haben. Das Spektakel wird umso interessanter, je unwirtlicher die Strecke und je mieser das Wetter ist. Der typische Crossfahrer? Ein vom Matsch besudelter Athlet, der sein Rad auf der Schulter trägt, weil die Strecke kaum befahrbar ist.

»Wir waren wie Götter für die Zuschauer«, wird der berühmte Fahrer Alberic Schotte, genannt Briek, zitiert. Cyclocrossprofis sind Stars in Belgien. Als Sven Nys, zweimaliger Querfeldeinweltmeister und erfolgreichster Cyclocrossprofi des vergangenen Jahrzehnts, seine Karriere beendete, wurde ihm zu Ehren eine große Gala veranstaltet. 16 000 Tickets wurden binnen kürzester Zeit verkauft, weshalb nachgelegt werden musste: »Ich will nicht, dass Fans in der Kälte stehen bleiben müssen. Darum haben Initiator Golazo und ich schnell beschlossen, ein weiteres Abschiedsevent zu organisieren. An beiden Tagen wird es dasselbe Programm geben«, sagte Nys – und raste mit seinem Crossrad an beiden Abenden über den Parcours, der in der Halle aufgebaut war. Der Name der Veranstaltung, die in Antwerpen stattfand, trug passenderweise den Titel »Merci Sven!«. Gefeiert wurde Nys von über 30 000 Fans, Flamen und Wallonen gleichermaßen.
Radsportler, die in Deutschland kaum einer kennt, sind in Belgien berühmt. Seit seinen Anfängen gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist der Radsport in Belgien populär. Fußball galt damals noch als elitär, der Radsport war von Beginn an eine Veranstaltung für jedermann. Heutzutage hat so gut wie jedes belgische Dorf seinen eigenen Radsportverein, die Wochenenden sind für Rennen reserviert – die allesamt mit dem, was international unter Radsport verstanden wird, nur bedingt vergleichbar sind. Der Belgier ist in dieser Hinsicht eigensinnig. So sehr, dass unter deutschen Radsportlern jeder Bescheid weiß, wenn etwas »richtig belgisch« genannt wird: Es wird hart.
Die bekannten belgischen Rennen unterscheiden sich nicht nur topographisch von den großen Rundfahrten wie der Tour de France, dem Giro d’Italia oder der Vuelta de Espana. Jeder der berühmten belgischen »Klassiker« – hierzu zählen etwa »Fleche Wallone« (Wallonische Pfeil), die »Flandern-Rundfahrt« (die »Ronde«) oder Lüttich-Bastogne-Lüttich – hat einen besonderen Charakter. Es gibt kurze steile Anstiege, die »Hellingen«, sowie ausgedehnte Kopfsteinpflasterpassagen. Oftmals auch beides in einem: Anstiege mit Kopfsteinpflaster, wie der weltberühmte Koppenberg beispielsweise. Auf Distanzen von mindestens 200 Kilometern. Das Wetter? Von Natur aus mies, denn die Frühjahrsklassiker beginnen mit dem ersten wichtigen Profirennen, dem »Ommloop het Niewsblatt« Ende Februar und enden bereits im April. Stürze und Defekte sind die Regel. Es ist eine Plackerei, die Qual scheint in Belgien immer mitzufahren.

»Koers is Religie« zieht in den 14 Stationen der Installation »Agony of the Cyclist« Parallelen zum Leben Jesu: ein Leidensweg. Die Frühjahrsklassiker werden meist nicht von den Siegern der Tour de France oder anderer Rundfahrten gewonnen. Es sind andere Qualitäten, die hier gefragt sind.
So auch bei den Kermesse-Rennen, die im Deutschen »Rund um den Kirchturm« genannt werden. Die verniedlichende Bezeichnung ist irreführend, denn die Kermesse-Rennen mit ihren fünf bis zehn Kilometer langen Rundkursen gelten als die schwersten Amateurrennen der Welt. Ausgetragen werden sie zumeist im Rahmen von Dorffesten, Start und Ziel liegen häufig vor der örtlichen Kneipe, dem Gewinner winkt ein Preisgeld – gar nicht so weit entfernt vom Rummelboxen also, ein Vergleich, der häufig gezogen wird. Doch so unseriös diese Rennen auch sein mögen, ein Sieg kann durchaus karriereentscheidend sein. Bekannte Profisportler nutzen sie zum Formaufaufbau, also um »Rennhärte« zu gewinnen, manche Teams und Fahrer finanzieren sich zu einem großen Teil durch den Gewinn der Prämien, Amateure erhoffen sich durch eine herausragende Leistung einen Vertrag in einem Protour-Team, der ersten Liga des Radsports. Und das, obgleich die Kermesse-Rennen gehörig in Verruf geraten waren.


In den achtziger Jahren galten sie als die dopingverseuchtesten der Welt. Verwendung fand, was das Chemielabor hergab: Amphetamine, Betäubungsmittel, Heroin und Kokain – deren Mischung als »Pot Belge« in die Sportgeschichte eingegangen ist. Unzählige Enthüllungen über den belgischen Cocktail lassen sich in der Radsportliteratur finden, der noch bis in die neunziger Jahre völlig maßlose Anwendung fand. Die genaue Zusammensetzung blieb ein gutgehütetes Betriebsgeheimnis der Verkäufer – denn auch hier gab es einen regelrechten Wettberb um die potenteste Mischung. Inzwischen dürfte der »Pot Belge» aufgrund der relativ einfachen Nachweisbarkeit der Wirkstoffe zumindest aus dem Radsport so gut wie verschwunden sein. Aber was tut man nicht alles, um einen der heiligen Kelche und Trophäen einzuheimsen? Ob es sich bei den Athleten, die zum Doping greifen, wirklich um Sünder handelt, darüber gibt »Koers is Religie« keine Auskunft. Die Möglichkeit der Beichte besteht dennoch in Roeselare.