David Hirsh, Soziologe, im Gespräch über die Hetze gegen das britische Establishment

»Kein Protest gegen Armut«

David Hirsh ist Soziologe und unterrichtet am Goldsmith College der University of London. Er ist Mitbegründer der »Engage«-Kampagne zur bekämpfung antisemitischer Boykottaufrufe. Mit der »Jungle World« sprach er über das Votum der Briten zum Austritt aus der EU, deren Motivation und die gängige Schelte für das Establishment.
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Hat Sie das Ergebnis des Referendums überrascht?
Hat es. Ich hatte zwar erwartet, dass die »Brexit«-Unterstützer kurz vor der ­Abstimmung ziemlich Schwung bekommen, aber gerade so viel, dass auf der »Remain«-Seite am Tag der Wahl mehr Stimmen zusammenkommen, dass die Leute überall die Wichtigkeit der Entscheidung an sich betonen würden, anstatt die allgemeine Wut und die Unzufriedenheit mit dem Establishment auszudrücken.

Eine der ersten Erklärungen für das Ergebnis des Referendums war die ­Generationenkluft: Die Jungen und Gebildeten hätten für remain gestimmt, die Alten und Ungebildeten – oft ist der Begriff »white working class« gefallen – für leave.
Ich kann den Ausdruck »white working class« nicht hören, ohne dass mir schlecht wird. Dieses analytische Muster, wonach die Interessen der weißen Arbeiterklasse von den Interessen der Arbeiterklasse als Ganzes, in all ihrer Vielfalt, unterschieden werden, halte ich für bedrohlich. Wir müssen aufhören, die Welt als gespalten zu begreifen, in eine »weiße Arbeiterklasse« und eine »kosmopolitische Elite« mit billigen ausländischen Arbeitskräften.

»Volksabstimmungen sind perfekte Brutstätten für den Populismus.«

Anstatt zu beschreiben, was wirklich passiert, ist diese Erklärung Teil der populistischen Rhetorik, die droht, die Gesellschaft zu spalten. Einige »Leave«-Unterstützer sind der Ansicht, dass die Warnung vor Rassismus und Xenophobie eine intolerante Antwort der kosmopolitischen Elite sei, die aufrichtige Engländer diffamiere, indem sie sie als rassistisch und dumm darstellt. Für die »Brexit«-Unterstützer ist mit der Debatte über die Angst vor Rassismus und Xenophobie eine zivilisierte und privilegierte Fassade geschaffen worden.

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David Hirsh ist Soziologe und Senior Lecturer am Gold­smith College der University of London. Er ist unter anderem Mitbegründer der Kampagne »Engage« zur Bekämpfung antisemitischer Boykottaufrufe an britischen Universitäten. Zuletzt ist sein Buch »Contemporary Left Antisemitism« (London, 2017) erschienen.

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privat

Dieses Narrativ betont, dass es eine städtische, materiell privilegierte Elite gebe, die sich um die immer größer werdende soziale Ungleichheit keine Sorgen macht und die die unterprivilegierten, marginalisierten »Einheimischen« snobistisch verachtet. In den dreißiger Jahren gab es marxistische Strömungen in Deutschland, die diejenigen, die sich um den wachsenden Antisemitismus sorgten, scharf kritisierten. Argumentiert wurde damit, dass sie die wahren Heuchler seien, weil sie die »legitimen Sorgen« der normalen deutschen Bürger vor den angeblichen Vergehen der Juden leugnen würden.

Dass damit Propaganda gemacht wird, heißt aber nicht, dass es diese Spaltung nicht gibt.
Es gibt viele, die sich zurückgelassen fühlen, vor allem als Folge der Deindustrialisierung. Es gibt eine Sehnsucht nach den mythischen Zeiten, in denen die englischen Männer schwere körperliche Arbeit verrichteten, mit Würde nach Hause kamen und mit genug Geld in der Tasche, um ihre Familien zu ernähren. Es geht nicht darum, die realen Probleme kleinzureden, derer, die sich von den Vorteilen der Globa­lisierung ausgeschlossen fühlen und sich weder von Brüssel noch von Westminster politisch repräsentiert fühlen. Ernsthafte Sorgen muss die Politik ernsthaft aufnehmen. Die Populisten bieten einfache Antworten. Für die Arbeitslosigkeit, die Niedriglöhne und die Entfremdung sowie für Kürzungen im Sozial-, Gesundheits- und Schulsystem seien die »Fremden« verantwortlich, die Immigranten hier und die ­Eurokraten da drüben. Diese Spaltung ist furchtbar. Sogenannte weiße Arbeiter genießen auch das Recht zu reisen, zu handeln und zu arbeiten, sie sind auch Europäer und verbunden mit der weiten Welt, und sie wünschen sich all dies auch für ihre Kinder und Enkelkinder. Viele Leute aus der Mittelschicht haben für den Austritt gestimmt. Die Kampagne wurde nicht nur von der englischen Mittelschicht unterstützt, sondern auch von Schwarzen, Menschen mit asiatischem Hintergrund und Juden, wenn auch von einer Minderheit. Die Rhetorik gegen die »kosmopolitische Elite« – der Vorwurf, unpatriotisch zu sein, die eigenen Landsleute zu diffamieren, gegen die Interessen des eigenen Landes zu agieren – braucht nicht gebracht zu werden, sie ist zu evident und schrecklich. Es ist verlockend, zu sagen, dass das Ergebnis des Referendums ein Protest gegen Exklusion und Armut war. Die Gefahr ist aber, dass man hier unbeabsichtigt diese Wähler für unmündig erklärt, denn sie haben sich dazu entschlossen, gegen die EU zu stimmen, und viele von ihnen haben es getan, um die Immigration zu stoppen. Wir sind unfair ihnen gegenüber, wenn wir ­sagen, dass ihre reale Intention die ­Erholung der Wirtschaft, ein besseres Sozial- und Schulsystem war.

Viele Beobachter betonen, dass die Anti-EU-Stimmung im Land nicht gleichmäßig verteilt war. Wie wichtig waren geographische und demographische Faktoren bei diesem Referendum?
Volksabstimmungen, in der Art, wie sie in Großbritannien jetzt stattgefunden hat, sind perfekte Brutstätten für den Populismus. In einer Demokratie geht es um demokratische Staaten, Institutionen, Gesetze, Gleichheit, Werte, Kul­tur, internationale Beziehungen und nicht nur um das Abstimmen. Aus dem »Willen des Volkes« macht der Populismus ein absolutes Prinzip, das über allen anderen demokratischen Prinzipien steht, und versucht, diesen Willen und dessen politische Repräsentation zu einem allein bestimmenden Fakt zu machen. Vergangenes Jahr wurden die Hetze gegen das Establishment und das wütende Ressentiment besiegt, als die Nationalisten in Schottland das Referendum für die Unabhängigkeit verloren. Ironischerweise zog die nationalistische Bewegung in die parlamentarische ­Politik ein und füllte einen neuen politischen Raum: Die Scottish National Party gewann die Macht in den folgenden schottischen Wahlen, nicht indem sie die Unabhängigkeitsbestrebungen erfüllte, sondern indem sie schot­tischen Wählerinnen und Wählern das Gefühl gab, eine politische Repräsen­tation in London zu haben. Das könnte eine Erklärung für das schottischen remain sein. Die Leute hatten das Gefühl, dass sie eine Stimme und eine politische Führung haben, der sie vertrauen können. In England und Wales waren die Leute nicht bereit, Politikern auf diese Weise zu vertrauen. Jahrelang hat sich Premierminister David Cameron verächtlich über die EU geäußert. Jetzt plötzlich erzählt er, dass es eine Katastrophe wäre, sie zu verlassen. Michael Gove dagegen hatte die Absicht, Vertrauen zu zerstören. Nichts ist furchterregender als Menschen, die zwischen demokratischer und totali­tärer Politik nicht unterscheiden können. Boris Johnson sagte, dass die EU wie der Dritte Reich sei, das versucht, Europa zu vereinigen. Populismus ­arbeitet mit Emotionen und Narrativen, während Demokratie auch mit Fakten arbeitet. Viele Städte in England und Wales wie Manchester, Liverpool, Leeds, Newcastle und Cardiff stimmten für ­remain, Birmingham knapp für leave. Dieses Bild widerspricht der simplen Erklärung, dass die Hochburgen der Labour Partei für den »Brexit« gestimmt hätten.

In welchem Ausmaß ist das Ergebnis des Referendums trotzdem auf die Labour-Partei zurückzuführen?
Jeremy Corbyn konnte bei einem kleinen Teil der radikalen, antiimperialistischen Linken punkten, aber nicht ­unter den Wechselwählern, die Labour immer braucht, um eine Regierung zu bilden. Sollte er Erfolg haben, wäre das ist für mich ein Grund zur Sorge und nicht zur Hoffnung. Corbyn hat es versäumt, seine Kampagne hart gegen den »Brexit« auszurichten. Es wurde gesagt, dass viele Labour-Wähler nicht gewusst hätten, dass Labour gegen den Brexit war. Jedenfalls ist Corbyn so unglaubwürdig im gesamten Land, dass er, selbst wenn er eine profiliertere Kampagne geführt hätte, dem »Remain«-­Lager eher geschadet als geholfen hätte. Labour hat es zugelassen, dass sich ­viele Wählerinnen und Wähler, derer sich die Partei sicher war, von Nigel Farage und den »Brexit«-Narrativen verführen ließen. In meinen Augen ist Corbyn Teil des populistischen, antidemokratischen Problems. Er war nie Teil von dessen Lösung.

Die britische Polizei bestätigte vergangene Woche, dass in den Tagen nach dem Referendum rassistische Hetze zugenommen habe. Die Social-Media-Kapagne »Post-Ref Racism« dokumentiert seit dem Referendum den Alltagsrassismus landesweit.
Es hat rassistische Vorfälle im Zusammenhang mit dem »Brexit« gegeben, aber es ist zu früh, um quantitative Aussagen zu machen. Vielleicht sind nicht alle, die für den »Brexit« gestimmt haben, Rassisten, aber die Rassisten glauben, dass 52 Prozent der Briten hinter ihnen stehen. Ich erwarte einen Anstieg des Rassismus, in der Politik sowie im politischen Diskurs, und von rassistischer Gewalt, spätestens wenn die Leute, die für den Ausstieg gestimmt haben, merken, dass der »Brexit« ihre Probleme nicht lösen wird.