Die Istanbul-Konvention und die ¬Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt auf europäischer Ebene

Schutzlücken im System

Gewalt gegen Frauen ist in der EU weitverbreitet. Die europäische Istanbul-Konvention von 2014 gilt auf dem Gebiet des Sexualstrafrechts als bislang umfassendstes völkerrechtliches Instrument zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. Deutschland hat das Abkommen bis heute nicht ratifiziert.

»Gewalt gegen Frauen (...) stellt in Europa eine der schwersten geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen dar, die immer noch in den Mantel des Schweigens gehüllt wird«, heißt im »Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt« von 2011. Diese nach dem Konferenzort so bezeichnete Istanbul-Konvention trat 2014 in Kraft und ist auf europäischer Ebene eines der wichtigsten völkerrechtlichen Instrumente zur Verhütung und Beseitigung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen. Sie beinhaltet eine umfassende Agenda zur Strafverfolgungs-, Aufklärungs-, Präventions- und Opferschutzpraxis in Europa.
Unter den Begriff der geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Frauen fallen dabei alle Gewaltformen, die sich gezielt gegen Frauen richten oder Frauen stärker und häufiger treffen, wie etwa Vergewaltigung, sexuelle Belästigung oder häusliche Gewalt, und solche, die ausschließlich Frauen betreffen, wie etwa erzwungene Abtreibungen oder Genitalverstümmelung. Dabei fasst die Konvention geschlechtsspezifische Gewalt als »Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern« mit strukturellem Charakter auf, deren angestrebte Überwindung sich aus den negativen Folgen notwendig ergibt. Bislang haben lediglich 22 der 47 Mitgliedsstaaten des Europarats die Konvention ratifiziert.
Der politische Druck, die Konvention zu ratifizieren, steigt jedoch, seit empirisch belegt ist, wie verbreitet Gewalt gegen Frauen in der EU ist. Jede dritte EU-Bewohnerin hat seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren, wie die 2014 veröffentlichte Studie »Gewalt gegen Frauen« feststellt. Die repräsentative Erhebung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) hatte dazu seit 2012 insgesamt 42 002 Frauen zwischen 18 und 74 Jahren aus allen 28 EU-Mitgliedsstaaten und allen sozialen Schichten persönlich befragt. Sie gilt damit als die weltweit umfassendste Erhebung dieser Art. Die Themenbereiche umfassen psychische, körperliche und sexuelle Gewalt, häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung, viktimisierende Gewalterfahrungen wie körperliche oder sexuelle Misshandlung in der Kindheit sowie Phänomene wie Stalking. Der FRA-Studie zufolge haben elf Prozent der Frauen in der EU sexuelle Gewalt in einer oder mehreren Formen erlebt. Geschätzt bis zu 102 Millionen oder 55 Prozent der Frauen ist seit ihrem 15. Lebensjahr sexuelle Belästigung widerfahren. Jede Zwanzigste ist vergewaltigt worden. Wobei sexuelle Belästigung in einigen Ländern wie Deutschland noch keinen eigenen Straftatbestand darstellt.
Es ist anzunehmen, dass mehr als fünf Prozent der Frauen in der EU Vergewaltigung erlitten haben. Darauf weist auch der Studienbericht hin, insofern der Straftatbestand der Vergewaltigung »in einer Reihe von Mitgliedstaaten« nicht an die bloße Anwendung körperlicher Gewalt oder Nötigung gebunden sei. Gerade diesem Straftatbestand kommt aus geschlechterpolitischer Sicht jedoch zentrale Bedeutung zu, da Vergewaltigungen relativ selten angezeigt und noch seltener sanktioniert werden. Insbesondere hierin macht sich der strukturelle Charakter geschlechtsspezifischer Gewalt bemerkbar, der sich in einem gering ausgeprägten Anzeigeverhalten manifestiert. Eine weitere EU-finanzierte Studie von 2009 zeigt, dass selbst in Schweden, dem Land mit der höchsten Anzeigenbereitschaft bei Vergewaltigungen, lediglich 13 Prozent der angezeigten Fälle überhaupt zur Anklage kommen. Die weitgehende Straflosigkeit von Vergewaltigungen verweist auf das tieferliegende gesellschaftliche Kernproblem bewusster wie unbewusster Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen, die noch an überkommen geglaubte, tradierte patriarchale Normen und Tabus rühren.
Insofern deren Geist in modernen bürgerlichen Gesellschaften und ihren Gesetzen noch fortwirkt, kommt den Forderungen der Istanbul-Konvention gerade hinsichtlich der Reform von Sexualstrafgesetzen große Bedeutung zu. Den Präzedenzfall für die notwendige Weiterentwicklung der europäischen Strafverfolgung bei Sexualdelikten hatte bereits 2003 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geschaffen. In seinem wegweisenden Grundsatzurteil zum Fall »M. C. gegen Bulgarien« machte der EGMR das fehlende Einverständnis zur sexuellen Handlung zum zentralen definitorischen Moment. Die Konsensorientierung, die das individuelle Recht auf sexuelle Selbststimmung zum Maßstab nimmt, fand auch Eingang in den Vertragstext der Istanbul-Konvention. In Artikel 36 werden die Vertragsparteien aufgefordert, jegliche Form vorsätzlich begangener, »nichteinverständlicher« sexuell bestimmter Handlungen an anderen zu sanktionieren.
In einigen europäischen Staaten setzte sich dieser Grundsatz bereits durch. Etwa in Großbritannien, Belgien und Irland, wo die jeweiligen Straftatbestände »das (fehlende) Einverständnis ins Zentrum der Vergewaltigungsdefinition« stellten, wie die Juristinnen Heike Rabe und Julia von Normann in ihrem Strategiepapier »Schutzlücken bei der Strafverfolgung von Vergewaltigungen: Menschenrechtlicher Änderungsbedarf im Sexualstrafrecht« für das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) konstatieren. Im Fall Irlands stelle der Gesetzgeber mit einer Norm-erweiterung zudem klar, dass fehlender Widerstand des Opfers »nicht bereits für sich allein« gleichbedeutend mit dessen Einverständnis sei. In Schweden und Finnland sind die Bedingungen für Nötigung beziehungsweise für schutz- oder hilflose Lagen, die Widerstand der Tatopfer unterbinden können, sogar definiert. Zwar gebe der alleinige Wortlaut der betreffenden Strafgesetze noch keine Auskunft über die tatsächliche Rechtslage, wie die Autorinnen betonen. Mit Blick auf den Reformbedarf des Paragraphen 177 StGB in der Bundesrepublik liefern die Beispiele jedoch »eine erste Orientierung für mögliche Ausgestaltungsoptionen«.