Auszug aus: »Zwei Kriegsjahre in Konstantinopel«

Zwei Kriegsjahre in Konstantinopel

Harry Stürmers 1917 in der Schweiz erschienenes Buch »Zwei Kriegsjahre in Konstantinopel« über den Genozid an den Armeniern und die Beteiligung des Deutschen Reiches ist damals in Deutschland sofort verboten worden. Der Bremer Donat-Verlag hat die Neuausgabe publiziert.

Anmerkungen zur Neuausgabe des Buches
Von Hilmar Kaiser *
Die Forschung über den armenischen Genozid hat in den vergangenen Jahren einige bemerkenswerte Fortschritte gemacht. In steigendem Maße beschäftigen sich Untersuchungen mit speziellen Aspekten des Verbrechens, während andere neue Erkenntnisse erarbeiten oder bekannte Quellen neu bewerten. Die vorliegende Schrift zählt zur zweiten Kategorie und ist die Neuauflage eines der wenigen Bücher, die von Deutschen während des Ersten Weltkrieges geschrieben oder zusammengestellt worden sind. Der Autor, Harry Stürmer, war Korrespondent der Kölnischen Zeitung, eines bedeutenden deutschen Blattes, in Konstantinopel. Er verkehrte in der deutschen und amerikanischen Botschaft und hatte somit Gelegenheit, eine Menge gutinformierter Personen in Konstantinopel und Umgebung zu treffen, darunter Einheimische und Exilanten. Die Schlachtfelder in der Nähe von Gallipoli besuchte er zweimal. Obwohl sich Harry Stürmer in seiner Untersuchung nicht nur mit dem armenischen Genozid befasste, steht seine Brandmarkung des Verbrechens im Vordergrund des Werkes. Sein Buch erschien zunächst auf Deutsch. Französische und englische Ausgaben lagen schon wenig später vor. Die erste englische Übersetzung war im Großen und Ganzen eine Wiedergabe der deutschen Version. Zwei Abschnitte des ursprünglichen Textes waren hingegen gekürzt worden. Leser der englischen Ausgabe erfuhren nichts über die angenehme Zeit, die der kriegsgefangene englische General Townshend in Konstantinopels Tokatlian verbrachte, einer ersten Adresse unter den Hotels in Konstantinopel. Außerdem strichen die Herausgeber der englischen Ausgabe eine ganze Seite, auf der die Erlebnisse von alliierten Kriegsgefangenen muslimischen Glaubens behandelt wurden. Als Muslime hatten diese Soldaten das Angebot der Mittelmächte akzeptiert, sich einem »Heiligen Krieg« gegen die Entente anzuschließen. Offensichtlich erschien dieser Aspekt den britischen Zensoren zu unangenehm zu sein, um in der Originalfassung veröffentlicht zu werden. Der Übersetzung gelang es nicht, Stürmers zumeist ironischen Stil einzufangen. Als größerer Nachteil erwies sich der Umstand, dass der englische Text es nicht schaffte, den vom Autor durchgehend benutzten Begriff »Rasse« und verwandte Ausdrücke verständlich zu machen. Ebenso wenig konnte er die Bedeutung, die diese Begriffe im zeitgenössischen Deutschland besaßen, verständlich machen. In der englischen Übersetzung wurde der Begriff oft durch Wörter wie »Nation« ersetzt. Stürmers Gebrauch des Rassebegriffs als analytische Kategorie deutet indessen keineswegs auf eine Außenseiterposition unter den deutschen Gelehrten bzw. Schriftstellern hin. Zeitgenossen wie Alfons Sussnitzki oder Ewald Banse, deren Ansichten erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit fanden, drückten sich in ihren Abhandlungen über den Mittleren Osten und verwandte Themen in ähnlich rassistischer Terminologie aus. In seinen Darstellungen der afrikanischen Völker und der kleinasiatischen Bauern benutzt Stürmer oft eine kräftige rassistische Sprache. Von daher überrascht es nicht, dass er die europäischen Kolonialmächte, vor allem die Briten und Franzosen, überschwänglich lobt. Er geht so weit, sie, zusammen mit der russischen Herrschaft über Zentralasien, als Modell für die zukünftige Entwicklung fast des gesamten osma­nischen Reichs zu präsentieren. Interessanterweise interpretiert er eine letztendliche Auflösung des osmanischen Reichs und die Besetzung seiner Territorien nach dem Sieg der Entente als eine Maßnahme, von der auch Deutschlands Wirtschaft profitieren könne. Stürmers Spekulationen über einen Frieden der Zukunft füllten damals die Spalten der europäischen Presse und Flugschriftenliteratur.

* Der Text ist ein Auszug aus dem geringfügig überarbeiteten Vorwort zur englischen Neuausgabe von Stürmers Buch, erschienen in London 2004 unter dem Titel »Two War Years in Constantinople – Sketches of German and Young Turkish Ethics and Politics«.

Die Armenierverfolgungen
Auszug aus dem 1917 erschienenen Buch »Zwei Kriegsjahre in Konstantinopel«. Von Harry Stürmer
Die Armenierverfolgungen begannen in großem Stil ziemlich unvermittelt im April 1915. Gewisse nicht wegzuleugnende Vor­kommnisse auf dem kaukasischen Kriegsschauplatz boten der türkischen Regierung den willkommenen Vorwand, zunächst wie losgelassene wilde Tiere sich auf die Armenier der östlichen Vilajets – des sogenannten eigentlichen Armeniens – zu stürzen und blutig unter ihnen aufzuräumen, ohne Unterschied von Männern, Frauen und Kindern. Dies geschah unter der Parole »Wiederherstellung der Ordnung in der Kriegszone durch militärische Maßregeln infolge Begünstigung des Feindes durch die Bevölke­rung, Verrat und bewaffnete Mitwirkung«. Die ersten paar Hunderttausend Arme­nieropfer waren damit gefallen. Dass in jenen entfernten Gebieten unmittelbar an der russischen Grenze ein Teil der Armenier es mit den herannahenden Russen gehalten hat, wird niemand wegzuleugnen suchen. Auch kein einziger Armenier, mit dem ich gesprochen habe, leugnete es. Aber die »armenischen Freiwil­ligenkorps«, die auf russischer Seite gefochten haben, setzten sich – dass ist ebenfalls sicher erwiesen – doch zum allergrößten Teil aus russischen, in Transkaukasien sesshaften Armeniern zusammen. Soweit auch türkische Armenier daran beteiligt waren, denkt kein vernünftiger Mensch daran, der Türkei als souveränem Staat das formelle Recht abzusprechen, mit drakonischen Maßregeln gegen diese Verräter und Überläufer vorzugehen. Wenn ich dieses Recht hier ausdrücklich anerkenne, so geschieht jedoch schon dies mit der großen Einschränkung, dass die jahrzehntelangen furchtbaren Leiden dieses den räuberischen Kurden amtlich ausgelieferten, von einer schamlos aussaugenden Verwaltung bedrückten Volkes diesen Überläufern in den Augen der ganzen zivilisierten Menschheit vollste moralische Absolution gewähren. Immerhin wäre ich den Türken, trotz ihrer gewaltigen Schuld diesem Volke gegenüber, gerne soweit entgegengekommen, dass ich vielleicht geschwiegen hätte, wenn es sich nur um kriegsrechtliche Exekution von einigen Hunderten und anderweitige Maßregeln – wie Deportation – gegen einige wenige Tausende Armenier – mit strenger Beschränkung auf die Männer – gehandelt haben würde. Möglich, dass Europa und Amerika auch noch einige als Repressalien oder Vorsichtsmaßregeln aufzufassende weitergehende Schritte gegen Teile der männlichen Bevölkerung in dem allmählich zur Kriegszone werdenden eigentlichen Armenien der Türkei verziehen hätten, wenn dabei besondere Grausamkeiten vermieden worden wären. Aber von allem Anfang an gingen die Verfolgungen auch auf Frauen und Kinder aus, erstreckten sich gleichmässig auf die Hundertausende von Bewohnern der sechs östlichen Vilajets und kennzeichneten sich durch solche tierische Rohheit, dass innerafrikanische Sklavenjägermethoden und neronische Christenverfolgungen das Einzige sind, was damit verglichen werden kann. Jeder Schein einer Berechtigung der tür­kischen Regierung, die Maßregeln als eine »militärische notwendige Evakuation zwecks Verhinderung von Unruhen« hinzustellen, fällt bei solchen Methoden völlig hin, und ich glaube auch nicht, dass es einen anständigen, über die Tatsachen in­formierten Deutschen gibt, den nicht eine solche kaltblütige Niedermetzelung der gesamten Bevölkerung ganzer Landstriche und Deportation der Reste in der bewussten Absicht, sie unterwegs elend sterben zu lassen, mit einem wahren Ekel vor der jungtürkischen Regierung erfüllt hat. Wer menschlich fühlt, mag er politisch sonst noch so türkenfreundlich sein, kann nicht anders denken. Jedenfalls wurde durch diese »mili­tärisch notwendige Evakuierung« das eigentliche Armenien menschenleer; wie oft haben mir Türken selbst – ich könnte Namen nennen, will aber diese Gewährsmänner, im Durchschnitt anständige Ausnahmen von der Regel, nicht einer Gefahr seitens Envers oder Talaats aussetzen! – versichert, dass man in Armenlen so gut wie gar keine Armenier mehr findet! Ebenso sicher ist es, dass von den über Stock und Stein auf Hungermärschen abtransportierten, Kurdenangriffen ausgesetzten und von Flecktyphusepidemien verheerten, zuletzt in den brennenden nordmesopotamischen und nordsyrischen Wüsten ihrem Schicksal überlassenen Massen von Deportierten, die den ersten Massacres entrannen, kaum noch irgendwelche am Leben sein können. Man lese nur in irgendeiner Statistik die Volksziffern der sechs armenischen Vilajets nach, und man wird feststellen können, um welchen Massenmord nach vielen Hunderttausenden es sich schon hierbei handelt.
Leider aber war dies nicht alles. Die türkische Regierung ging weiter, viel weiter. Sie hatte es auf das ganze armenische Volk abgesehen, nicht nur in Armenien selbst, sondern auch in der »Diaspora«, im eigentlichen Anatolien und in der Hauptstadt. Das waren abermals einige Hunderttausende. Sie konnte aber nicht gut von einer Bevölkerung, die vom östlichen wie vom Dardanellen-Kriegsschauplatz in gleicher Weise viele Hunderte von Kilometern entfernt wohnte, den auf die sechs armenischen Vilajets angewandten Grundsatz der »Evakuierung der Kriegs­zone« anrufen. Sie schritt daher zu anderen Mitteln und entdeckte eine allgemeine Verschwörung unter den Armeniern des Reiches. Nur durch eine solche zynische Fälschung konnte sie ans Ziel gelangen, ihr wohldurchdachtes System der Ausrottung der gesamten armenischen Rasse durchführen. Mit bewusster Täuschung der öffentlichen Meinung der ganzen Welt erfand, ja bestellte die türkische Regierung lokale Verschwörungen, fälschte alle Zusammenhänge, um ganz ruhig ihre Ausrottungskampagne durch Monate hindurch betreiben zu können. Und in einer offiziösen Artikelserie wurde in den Zeitungen des jungtürkischen Comités der Bevölkerung klargemacht, dass alle Armenier gefährliche Verschwörer seien, die mit Waffen und Bomben, unterstützt von englischem und russischem Geld, an dem Tage, wo die Flotte der Entente die Dardanellen bezwungen hätte, ein furchtbares Blutbad unter den Türken hätten anrichten sollen, um die osmanische Herrschaft abzuschütteln. Ich bemerke hier ausdrücklich, dass mir natürlich nichts von allem dem entgangen ist, was die tür­kische Regierung an Argumenten gegen die Armenier anführen konnte; es wurde ja zur Genüge breitgetreten in den eigenen, offiziellen und of­fiziösen Veröffentlichungen wie in den Abhandlungen deutscher »Türkeikenner«. Ich habe alles geprüft, und zwar gleich zu Anfang meines Aufenthalts in der Türkei, noch durchaus im Geiste der Turkophilie, der mich damals noch beherrschte, – Herr Staatssekretär Zimmermann mag das Datum seines Briefes an meine Redaktion nachsehen lassen, in dem er von meinem großen vertraulichen Bericht an mein Blatt in dieser Sache spricht, der durch seine Hände gegangen ist und sein Interesse erweckt hat, und er wird feststellen können, wie ich schon im Sommer 1916 über die Armenierverfolgungen gedacht habe – und so gut wie ohne besondere Sympathien für das Armeniervolk, das ich erst viel später, durch persönlichen Verkehr, in seinen hohen intellektuellen Eigenschaften kennengelernt habe. Ich kann hier nur mein Endurteil über all dieses Für und Wider abgeben und nach bestem Wissen und Gewissen sagen, dass nach dem ersten Akt massenmörderischer, tierisch roher »Evakuierung der Kriegszone« im eigentlichen Armenien die Ausdehnung des Systems der Deportationen mit absichtlichem Hinsterbenlassen auf die weiteren Hunderttausende von Armeniern der Hauptstadt und des Landesinnern – die teils durch ihren Wohnort, ihr Milieu, ihre soziale Lage, ihre nur auf Arbeit und Verdienst gerichtete Denkweise zu ­einem aktiven Eingreifen in die Politik gänzlich unfähig waren, teils als aus gesellschaftlich und kulturell hochstehenden, mit tausend Fäden an das Land gefesselten, alteingesessenen, wohlhabenden Familien stammend, sich ebenso aus Tradition wie aus Klugheit von allen revolu­tionären Machenschaften stets ängstlich fernhielten, und alle von einer zahlenmäßig weit überlegenen Bevölkerung anderer Rassen umgeben waren – die gemeinste, zynischste, verlogenste, verbrecherischste Tat von Rassenfanatismus ist, welche die Geschichte der Menschheit zu verzeichnen hat – begangen einzig und allein im Gefühl der eigenen wirtschaftlichen und kulturellen Unterlegenheit jenem nichttürkischen Element gegenüber, in der Absicht gewaltsamen Ausgleichs zu eigenen Gunsten, und begangen mit feiger Zustimmung der deutschen Regierung in voller Kenntnis der Tatsachen!
Von der Kette dieser Schandtaten habe ich wenigstens den Anfang tausende Mal mit eigenen Augen mitanzusehen gehabt. Kaum war ich von meiner ersten Dardanellentour zurück, so setzten diese Verfolgungen, gleichzeitig mit ganz Anatolien, auch schon in der Hauptstadt Konstantinopel ein, und sie waren die Erscheinung, die bis kurz vor meiner Ende Dezember 1916 erfolgten Abreise aus der Türkei, mit geringen Abschwächungen von je einigen Wochen zu verschiedenen Zeitpunkten, im Straßenbild des Krieges am meisten hervortraten. Das war die Zeit, wo in den blühenden westlichen Vilajets Anatoliens, von Brussa und Adabazar angefangen, wo die wohlbebauten Farmen in armenischen Händen einer Regierung, die gewaltsame »Na­tionalisierung« auf ihre Fahnen geschrieben hatte, ein Dorn im Auge sein mussten, der Hausrat angesehener Familien auf die Straße geworfen und um ein Spottgeld verkauft wurde, weil die Ärmsten, auf die draußen schon der Gendarm wartete, oft nur eine Stunde bis zum Abmarsch ins Innere hatten; wo die Einrichtungen der Häuser, weil in der Eile unverkäuflich, verrohten »Mohadjirs« (mohammedanischen Einwanderern) kostenlos zur Beute fielen, die oft genug, vom »Comité« bis an die Zähne bewaffnet, die Unruhen vom Zaun gebrochen hatten, die dann als »armenische Verschwörungen« ausgelegt wurden; wo Mütter nachweislich in höchster Verzweiflung ihre eigenen kleinen Kinder verkauft haben, weil man ihnen den letzten Piaster genommen hatte und sie die armen Kleinen nicht auf dem traurigen Marsch ins ferne Innere zugrunde gehen lassen wollten! Und wie viele unzählige Male habe ich es mit ansehen müssen, jenes typische Bild der kleinen Trupps von Armeniern der Hauptstadt, durch die Straßen von Pera eskortiert von zwei Gendarmen in ihren zerlumpten düstergrauen Uniformen und den tierischen Gesichtern des stumpfsinnigen Anatoliers, während dahinter ein Polizist, der lesen und schreiben konnte, mit dem Notizbuch in der Hand marschierte, unterwegs aufs Geratewohl noch hier und da einen aus dem Publikum mit herrischer Miene herbeiwinkend, um ihn, falls aus seinen Papieren als Armenier legitimiert, einfach dem Trupp einzuverleiben, und dann auf dem »Karakol« von Galata-Serai, der Hauptpolizeistation Peras, seine »Tagesleistung an Armeniern« abzuliefern! Schon die Art und Weise, wie diese Verhaftungen und Depor­tationen stattfanden, widerlegt schlagend die Behauptung der türkischen Regierung, sie handle dabei in berechtigter Entrüstung wegen Aufdeckung eines großen Komplotts. Nein, ganz im Gegenteil! Mit kaltblütigster Methode wurde die Anzahl der zu deportierenden Armenier auf einen Zeitraum von vielen Monaten, man kann sagen von nahezu anderthalb Jahren, verteilt, und die Deportationen ließen erst nach, als die Unterdrückung des armenischen Patriarchs im Sommer 1916 dem kulturellen Leben dieses Volkes den Todesstoß versetzt hatte, um dann mit der Einziehung aller derer, die früher die Militärbefreiungstaxe ­gezahlt hatten – worunter auch gerade viele geschäftlich hervorragende Armenier waren –, etwa im Dezember 1916 einigermaßen zum Abschluss zu gelangen. Was soll man von der »berechtigten spontanen Entrüstung« der türkischen Regierung halten, wenn zum Beispiel von zwei armenischen Portiers eines Hauses, zwei Brüdern, der eine heute, der andere vierzehn Tage später deportiert wird, wenn die Anzahl der von einem Stadtviertel zu »liefernden« Armenier auf täglich eine bestimmte Ziffer, sagen wir zweihundert oder tausend, festgesetzt war, wie mir anständige Türken, die mit den Polizeiorganen Fühlung hatten und das System dieser Deportationen kannten, selbst mitgeteilt haben! Vom Auf und Ab in diesen Verfolgungen kann man höchstens sagen, dass die Zahl der täglich Deportierten zunahm, wenn sich die Türken wieder über einen russischen Sieg zu ärgern hatten, dass die Verschickungen dagegen sogar merklich nachließen, als nach den militärischen Katastrophen von Erzerum, von Trapezunt und Ersindjan die Regierung Gelegenheit darüber nachzudenken fand, ob sie nicht doch der strafende Arm der Nemesis bald erreichen könnte! Und nun die Transporte! Täglich, gegen Abend, wenn die armen Unglücklichen auf den Polizeistationen gesammelt waren, befördeten dann einige Camions der elektrischen Straßenbahn einen Haufen von Frauen und Kindern, während Männer und Knaben zu Fuß gehen mussten, hinunter nach Galata, mit ein paar Decken und den allernotwendigsten Habseligkeiten zur düsteren Reise in kleine Säcke gepackt. Wohl verstanden, nicht etwa nur armes Volk. Alles, vom Hausbesorger und Händler bis in die besten Familien konnte stündlich, täglich diesem Los verfallen, und ich kenne Fälle, wo Männer hoher Bildung, aus Familien alteingesessener Notablen, Ingenieure, Ärzte, Advokaten, in dieser schmutzigen Weise im Dunkel des Abends aus Pera befördert wurden, um eine kalte Nacht auf den Perrons von Haidar-Pascha herumzuliegen und dann am Morgen mit der Anatolischen Bahn – wohl verstanden gegen Bezahlung des Billets, wie überhaupt der ganzen Reisekosten! – nach dem Innern verbracht zu werden, wo sie dann am Flecktyphus zugrunde gingen oder in seltensten Fällen nach Überstehen der schreck­lichen Krankheit, gebrochen an Leib und Seele nach unendlicher Fürsprache, als »harmlos« zurückkehren durften. Und unter diesen wie Vieh hin und hergeschobenen Trupps befanden sich Tausende und Abertausende zartester, verfeinerter Frauen aus den vornehmsten Familien, von vollständig europäischer Kultur und Lebensweise! Im Allgemeinen war es das traurige Los der Deportierten, auf endlosen Fußmärschen, unterwegs tausendfach mit der größten Rohheit vergewaltigt, weit hinunter nach der Grenze des arabischen Gebiets gebracht zu werden, wo sie dann, von einer gänzlich fremden, ihrer Rasse wenig sympathisch gegenüberstehenden Bevölkerung umgeben, im kahlen Gebirge, ohne Geld, ohne Häuser, ohne Verpflegung, ohne Verdienstmöglichkeit gelassen, elend zugrunde gingen. Stets aber wurden die Frauen und Kinder von den Männern getrennt, das war geradezu das Charakteristische bei den Verschickungen, die durch Zerreißen aller Bande der Familie die Volkskraft in ihrem Kerne vernichten wollten! So verschwand ein sehr großer Teil des armenischen Volks. Das waren dann die »anderswo verbrachten Personen«, wie der schöne Titel des »provisorischen Gesetzes« lautete, das über ihre in bestem Bebauungszustand befindlichen Farmen der die »innere Kolonisation« mit rein türkischen Elementen eifrig betreibenden Comité-Regierung völliges Verfügungsrecht gab! Damit war eben der Hauptzweck, die gewaltsame Nationalisierung des bisher gemischtrassigen Landes, erreicht.
Und während Anatolien sich von allen den Elementen leerte, die bisher den Fortschritt repräsentiert halten, während die verlassenen Dörfer und Städte und blühenden Äcker der Ausgetriebenen den rohesten »Mohadjirs«-Horden verwahrloster mohammedanischer Emigranten zur Beute fielen, versickerte allmählich auf dem Wege zum fernen Ziel der Strom der Unglücklichen immer mehr, Leichen von Frauen und Kindern, Greisen und Knaben als Merkzeichen zurücklassend. Die wenigen aber, die den Ort der »Ansiedlung«, das heißt, der fieberverseuchten, von Beduinen und Kurden ­umschweiften Hunger-Konzentrationslager lebend noch erreichten, siechten dann einem langsamen und noch viel schrecklicheren Ende entgegen. Manchmal ging es der Regierung auch noch nicht schnell genug, und noch im Herbst 1916 ist ein Fall durchaus verbürgt – nach Aussagen deutscher Angestellter der Bagdadbahn –, dass einige 1 000 Armenier, als Arbeiter nach dieser Strecke verbracht, einfach eines Tages spurlos verschwanden – offenbar wurden sie kurzerhand in die Wüste geführt und dort niedergemetzelt! Das grausige Sündenregister der Regierung Talaats wird aber trotz aller Zensur und Grenzsperre schon an den verschiedensten Stellen amtlich geführt, bei der amerikanischen Botschaft in Konstantinopel sowohl wie im neutralen und ententistischen Ausland, und wird beim Friedensschluss einmal der angeklagten jungtürkischen Verbrechersippe vom Gerichtshof der Kulturnationen erbarmungslos vorgelegt werden!
Ich habe mit Armeniern gesprochen, die mir sagten: »Früher hat uns der alte Sultan Abd-ül-Hamid von Zeit zu Zeit zu Tausenden massacrieren lassen. Wir wurden in wohlorganisierten Pogroms zu bestimmten Zeiten den Kurden ans Messer ge­liefert und haben grausam genug gelitten. Die Jungtürken haben dann, wie Adana 1909 zeigt, ebenfalls zu Tausenden unser Blut vergossen. Aber nach dem, was wir jetzt erleben müssen, sehnen wir die Massacres des alten Regimes förmlich zurück. Jetzt ist es nicht mehr eine gewisse Zahl von Ermordeten, die wir zu verzeichnen haben; jetzt wird unser ganzes Volk aus nationalem Hass von einer scheinbar zivilisierten, scheinbar modernen, und darum weit gefährlicheren Regierung langsam aber sicher, gleichsam auf trockenem Wege, ausgerottet; jetzt hält man sich an unsere Frauen und Kinder, die man auf Fußmärschen und in Konzentrationslagern im nahrungslosen Gebiet zugrunde gehen lässt, und was an erbärmlichen Resten unserer Bevölkerung in den Dörfern und Städten des Innern, wo die Lokalbehörden die Befehle der Zentralregierung eifrig ausgeführt haben, noch übrigbleibt, das wird gewaltsam zum Islam bekehrt, und unsere jungen Mädchen wandern in die Harems der Türken und in die Bordells! So soll das Volk mit seinen letzten Spuren verschwinden, als Rasse vernichtet werden; und warum? Weil die Türken ihren geistigen Bankrott, ihre wirtschaftliche Unfähigkeit, ihre kulturelle Unterlegenheit dem fortschrittlichen armenischen Element gegenüber, das Abd-ül-Hamid trotz gelegentlicher Metzeleien doch klug sich anzupassen und in seinen großen Fähigkeiten sogar in hohen Staatsämtern zu verwerten gewusst hat, ­erkannt haben, und jetzt, wo sie sich selbst durch einen langwierigen, verfehlten und von vornehrerein verlorenen Krieg mit seinem gewaltigen Aderlass dezimieren, auf diese Weise das Gleichgewicht der Rassen und die Überlegenheit ihres Elements im Staate zu erhalten hoffen. Deshalb, weil es nicht nur gele­gentliche Ausbrüche von Zorn sind wie bei Hamid, sondern eine genau durchdachte staatsmännische Maßregel gegen unser Volk vorliegt, hat dieses auf keine Gnade zu hoffen, und da wir gesehen haben, dass Deutschland unsere Vernichtung aus Schwäche und Gewissenlosigkeit duldet, wird das armenische Volk, wenn der Krieg noch länger dauert, aufgehört haben zu existieren. ­Darum sehnen wir uns heute nach dem alten Regime Abd-ül-Ha­mids, so wehe es uns getan hat, förmlich zurück!«
Gibt es eine größere Tragik im Schicksal eines Volkes? Und zwar eines Volkes, das fern von allen Illu­sionen einer politischen Unabhängigkeit, weil eingekeilt zwischen zwei Großstaaten, und ohne eigentliche irredentistische Gefühle Russland gegenüber, bis zu dem Augenblick, wo es die Jungtürken durch schmählichen Verrat, durch hässlichen Bruch der Kameradschaft als Revolutionäre gegen das alte despotische System Abd-ül-Hamids vor den Kopf stießen, so durch und durch loyal als osmanische Staatsbürger dachte und fühlte, wie außer dem eigentlichen türkischen kein zweites Bevölkerungselement!
Ich hoffe mit diesen wenigen Zeilen, den Geist und die Resultate der Ausrottungstaktik genügend gekennzeichnet zu haben. Nur eine Episode will ich hier noch erwähnen, die mir von allem, was ich erlebt, persönlich am meisten naheging.
An einem Sommertag 1916 gegen Mittag ging meine Frau, um etwas einzukaufen, allein in die »Grand‘ Rue de Péra«. Wir wohnten ein paar Schritte von Galata-Serai und hatten täglich vom Balkon aus genügend Gelegenheit, die Gruppen unglücklicher armenischer Deportierter unter Gendarmerieeskorte die Polizeiwache betreten zu sehen. Man wird schließlich auch gegen solche traurigen Anblicke abgestumpft und sieht zuletzt darin kaum mehr das menschliche Einzelschicksal, sondern fast nur noch das Politische. Dieses Mal aber kam nach wenigen Minuten meine junge Frau am ganzen Körper zitternd wieder zurück in die Wohnung. Sie hatte ihren Weg nicht fortsetzen können. Am »Karakol« vorbeigehend, hörte sie aus dem offenen Vestibül die klagenden Töne eines Gefolterten, dumpfes Stöhnen wie von einem halb schon zu Tode gequälten agonisierenden Tiere. »Ein Armenier«, gab einer von dem am Eingang Stehenden meiner Frau zur Auskunft. Dann wurde die Menge von einem Polizisten weg­gejagt. »Wenn solche Szenen am hellen Mittag am belebtesten Punkt der Europäerstadt Pera vorkommen, dann möchte ich wissen, was man mit den armen Armeniern im unzivilisierten Innern treibt?« frug mich meine Frau. »Wenn die Türken sich hier in der Hauptstadt wie wilde Tiere benehmen, so dass eine Frau, die durch die Hauptstraße geht, einen Nervenschock bekommt, dann kann ich nicht leben in diesem furchtbaren Lande!« Und dann brach sie, laut schluchzend, in ihrer furchtbaren Empörung los, die sie angesammelt über alles das, was sie seit mehr als einem Jahre, so oft sie auch nur den Fuß auf die Straße setzte, mit mir zusammen hatte ansehen müssen: »Ihr seid Schweine, ihr Deutschen, erbärmliche Schweine seid ihr, dass ihr das bei den Türken duldet, wo ihr das Land doch vollständig in der Hand habt, feige Schweine seid ihr, und nie will ich jemals wieder den Fuß in euer verfluchtes Land setzen. O Gott, wie ich Deutschland hasse!« In dem Augenblick, wo meine eigene Frau, vor Schmerz, Empörung und Ekel über so viel Feigheit laut schluchzend und zitternd, mir den nationalen Fluch ins Gesicht schleuderte, habe ich mit Deutschland innerlich gebrochen. Gewusst hatte ich ja leider schon seit langem genug!
Ich entsann mich der Unterhaltungen, die ich mit den Herren von der deutschen Botschaft in Konstantinopel und auch mit dem amerikanischen Botschafter Morgenthau wiederholt über die Armenierfrage gehabt hatte. Ich hatte mich niemals überzeugt gefühlt von den Versicherungen der deutschen Botschaft, sie sei bis an die Grenze des Möglichen gegangen, um dem mörderischen Treiben gegen harmlose Armenier weit vom Kriegsschauplatz, die nach ihrem ganzen Milieu, nach ihrer sozialen Klasse gar nicht in der Lage sein konnten, sich an der Politik aktiv zu beteiligen, sowie dem kaltblütigen Dahinsterbenlassen eigens zu diesem Zwecke deportierter Frauen und Kinder Einhalt zu gebieten. Ich hatte im Gegenteil vom Verhalten der deutschen Regierung in der Armenierfrage den Eindruck zurückbehalten von einem Gemisch von Feigheit und Gewissenlosigkeit einerseits, von kurzsichtiger Dummheit anderseits. Der amerikanische Botschafter, der mit warmem Herzen sich der Armenier annahm, war natürlich mir, dem deutschen Journalisten, gegenüber viel zu zurückhaltend in dieser heiklen Frage, als dass er mir seine wahre Meinung über das Verhalten seiner deutschen Kollegen hätte sagen können. Ich habe aber aus den wiederholten Plauderstunden mit diesem sympathischen Mann, der so viel für die Humanität in der Türkei getan hat, auch nichts entnehmen können, was mich von meinem Eindruck, den ich von der deutschen Botschaft hatte, abgebracht hätte, und ich hatte einige Andeutungen über meine Auffassung im Gespräch mit Herrn Morgenthau wohl getan.
Das Verhalten Deutschlands war zunächst eine bodenlose Feigheit, sagte ich. Denn wir hatten die türkische Regierung militärisch, finan­ziell und politisch fest genug in der Hand, um wenigstens die Beachtung der allereinfachsten Grundsätze der Menschlichkeit durchzusetzen, wenn wir nur wollten. Enver und namentlich auch Talaat, der für die Armenierverfolgungen als Minister des Innern und eigentlicher Diktator der Türkei hauptsächlich verantwortliche Staatsmann, hatten keine andere Wahl mehr, als Deutschland auf dem einmal beschrittenen Wege ­bedingungslos zu folgen, und hätten ein Machtwort auch in der ihnen so am Herzen liegenden Armenierfrage vielleicht zähneknirschend, aber ohne zu zaudern akzeptiert. An Hunderten von Beispielen hat sich gezeigt, dass die deutsche Botschaft dort, wo es sich um deutsche Interessen, um das Unterbringen von Deutschen, um Eindringen in die Verwaltung und die Ministerien handelte, zum Teil sehr berechtigten türkischen Interessen und Empfindungen gegenüber niemals irgendwelches Zartgefühl kannte und auch stets durchdrang. So aber musste ich es mit ansehen, wie unsere Botschaft nicht einmal imstande war, einer gebildeten deutschen Dame, die mit einem Armenier verheiratet war, der schuldlos en bloc mit vielen anderen deportiert worden war, und die nun täglich weinend im Vestibül des Botschaftsgebäudes antichambrierend saß, zu ihrem Recht zu verhelfen! Türken selbst haben uns wegen dieser maßlosen Feigheit zynisch ausgelacht und daran erinnert, wie die russische Regierung sicher trotz abgeschaffter Kapitulationen aus dem Schutz sogar eines armen russischen Juden nötigenfalls einen politischen Fall zu machen bereit gewesen wäre, falls sie sich in ähnlicher Lage wie jetzt Deutschland befände! Türken haben mich, bei aller Liebenswürdigkeit der Form, doch deutlich durchfühlen lassen, dass sie für unsere bodenlose Schlappheit im Grunde nur ein Gefühl der Verachtung empfanden!
Eine Gewissenlosigkeit, zweitens, war unser Verhalten. Zusehen, wie Leben und Besitz, Wohlbefinden und Kultur von Hunderttausenden geopfert wurden, und sich mit schwachen formellen Protesten zu begnügen, wo man in der Lage gewesen wäre, höchst energisch aufzutreten, ist nichts als verbrecherische Gewissenlosigkeit, und ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, dass trotz der schönen offiziellen Phrasen, die einem im deutschen Botschaftsgebäude über das »Armenierproblem« oft zuteil wurden, unseren Herren Diplomaten im Grunde an der Erhaltung dieses Volkes herzlich wenig lag. Was bringt mich dazu, eine so ungeheure Anschuldigung auszusprechen? Die Tatsache, dass ich in dem geschäftigen Hin- und Herrennen unserer Diplomaten, wenn wieder nach besonders furchtbaren der armenischen Bevölkerung zugefügten Leiden der ehrwürdige armenische Patriarch mit seiner Suite auf der Botschaft erschien, um mit Tränen in den Augen unseren Botschafter um endliche Hilfe anzuflehen, nie etwas anderes habe entdecken können – und ich war mehr als einmal Zeuge solcher Szenen im Botschaftsgebäude und habe die Gespräche der Beamten mitangehört – als die Sorge um das deutsche Prestige, die verletzte Eitelkeit, aber nie die Sorge um das Schicksal des armenischen Volkes; die Tatsache, dass ich immer und immer wieder aus dem Munde von Deutschen aller Schattierungen bis hinauf in die höchsten Kreise, soweit sie sich nicht an die amtliche deutsche Version zu halten hatten, hasserfüllte Aussprüche kurzsichtiger, auf keinerlei Kenntnis der Tat­sachen beruhender Verurteilung der Armenier zu hören bekam, gedankenlose Nachbetereien der offiziellen türkischen Lesart! Und die Fälle sind ja auch leider tatsächlich erwiesen, ja durch Aussagen von aus dem tiefen Inneren zurück­gekehrten deutschen Ärzten und Schwestern vom Roten Kreuz erhärtet, dass deutsche Offiziere, eifriger selbst als die noch einen Rest von menschlichem Fühlen bewahrenden türkischen Beamten der lokalen Regierung – denen sich das Herz sträubte, den Ins­truktionen von »Nur-el-Osmanieh« (Sitz des »Comités«) aus Stambul zu gehorchen – in der Ausrottung und Vertreibung der Armenier frisch-fröhlich die Initiative ergriffen haben. Bekannt und durchaus verbürgt ist jener skandalöse Fall, wo zwei durchreisende deutsche Offiziere, ohne ­irgendwelchen Befehl, in einer Ortschaft im fernen Kleinasien – wo die Armenier, in Verzweiflung ins Innere der Häuser geflüchtet und verbarrikadiert, um sich nicht wie Tiere abtransportieren zu lassen, durch aufgestellte Geschütze herausgetrieben werden sollten, aber kein Türke den Mut zur Ausführung des Befehls zum Feuern auf die Frauen und Kinder fand – sich einen Sport daraus machten, ihre artilleristischen Fähigkeiten zu zeigen! Gewiss sind solche Schandtaten vereinzelt geblieben, aber sie passen zu dem Geist, der aus den Dutzenden mir gegenüber von gebildeten, hochgestellten Deutschen – von den Militärs ganz zu schweigen! – über das armenische Volk gemachten Aussprüchen sprach. Und ein solcher Fall von Übergriffen deutscher Militärs gegen die Armenier, begangen im Inneren Anatoliens, der auf der deutschen Botschaft amtlich zur Sprache gebracht wurde und von dem wahrhaft menschlich und vornehm denkenden Botschafter Grafen Wolff-Metternich nach Deutschland weitergegeben worden ist, hat bei der unerhörten Feigheit unserer Regierung auch den äußeren Anlass gegeben, dass dieser Mann, der trotz seines greisen Alters – im Gegensatz zu dem alles in einem geradezu verbrecherischen Optimismus und Türkendusel ansehenden, dabei schwachen Freiherrn von Wangenheim – manchmal Miene machte, die türkische Regierung etwas fester anzupacken, von dieser erfolgreich hinausgeekelt und von Berlin einfach geopfert wurde! Was soll man schließlich vom Geist unserer amtlichen Deutschen in der Armenierfrage halten, wenn man solche Dinge hört, wie sie mir kurz vor meiner Abreise aus Konstantinopel ein hochgestellter ungarischer Bankier (dessen Namen ich nicht nennen will) als ihm durchaus verbürgt erzählte: dass »ein deutscher Offizier, mit dem Titel Baron, der dem Militärattaché nahe steht«, in Stambul im Bazar sich bei einem Arme­nier einen wertvollen Teppich aussucht, auf Kredit in seine Wohnung nach Pera schaffen lässt, um dann, als es an die Bezahlung geht, plötzlich zu behaupten, er koste zwanzig Pfund weniger als abgemacht, so sei es ausbedungen, und dann dem verzweifelten armenischen Händler andeutet, bei den guten persönlichen Beziehungen, die er, der Offizier, zum türkischen Polizeipräsidenten habe, tue er besser, ihn nicht weiter in der Sache zu belästigen! Ich führe diesen Fall nur an, weil ich ihn für leider durchaus wahr halten muss.
Eine kurzsichtige Dummheit endlich, sagte ich, war das tatenlose Zusehen unserer Reichsvertretung, wie die Armenier ausgerottet wurden. Denn die hereinbrechende Flut des türkischen Chauvinismus konnte unserer Regierung doch nicht verborgen bleiben, und kein etwas weiter blickender Mensch konnte schon seit Sommer 1915 darüber im Zweifel sein, dass die Türkei nur so lange mit uns gehen werde, als sie uns militärisch und finanziell eben unbedingt braucht, dass wir aber in einer siegreichen, völlig vertürkten Türkei überhaupt nichts mehr zu suchen haben würden, nicht einmal rein wirtschaftlich. Trotz der ewigen Klagen, die man auch aus offiziellem Munde über diese wohlerkannte, uns so unangenehme Tatsache oft genug hören konnte, duldeten wir aber, dass ein kulturell fortschrittliches, europäisch denkendes, geistig anpassungsfähiges, von Chauvinismus und Fanatismus gänzlich freies, hervorragend fremdenfreundliches Bevölkerungselement von über anderthalb Millionen Köpfen, die Armenier, das denkbar beste Gegengewicht zum hoffnungslos nationalistischen, fremdenhassend gewordenen jungtürkischen Element, verschwand, und machten uns die Wenigen aus diesem Volk, die sich von der furchtbaren Katastrophe noch erholen werden, durch unsere Feigheit und Gewissenlosigkeit für immer zu Todfeinden, sie, die früher Deutschland aufrichtige Sympathien entgegengebracht hatten. Eine intelligente deutsche Regierung hätte schon im Hinblick auf den immer deutlicher sich herausbildenden jungtürkischen Geist mit allen Mitteln versucht, sich die Sympathien der Armenier zu erhalten, ja in noch höherem Maße zu erwerben. Die Armenier haben auf uns gewartet, danach gezittert, dass wir endlich ein Machtwort sprechen würden; ihre Enttäuschung, ihr Hass gegen uns ist nun – mit Recht! – grenzenlos geworden, und der Deutsche, der je wieder im Orient wird wirtschaftlich arbeiten wollen, wird ihn zu spüren haben, solange noch einer von diesem gequälten Volk existiert!
Um die Armenierfrage in ganz demselben Sinne zu beantworten, wie ich es hier tue, braucht man nicht die geringste Vorliebe, ja nicht einmal irgendwelche Sympathie für diese Rasse zu empfinden. (Ich habe angedeutet, dass sie mindestens durch ihre hohen geistigen und kulturellen Fähigkeiten solche durchaus verdient). Man braucht nur ein Gefühl für Menschlichkeit zu haben, um niemals die Art und Weise hin­zunehmen, wie mit Hunderttausenden aus diesem unglücklichen Volke verfahren wurde; man braucht nur Verständnis zu haben für die volkswirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse eines weiten, noch so rückständigen und dabei so entwicklungsfähigen Reiches, alten Kulturbodens, wie die Türkei, um den größten Wert zu legen auf die Erhaltung dieses rastlos tätigen, so hervorragend nützlichen Elements; man braucht nur die Augen aufzumachen und die Tatsachen zu sehen und sich als wahrhaft gebildeter Mensch von Idiosynkrasie gegen eine Rasse freizuhalten, um niemals das zu glauben, was die Türken der Welt über die Armenier weismachen wollen, um sie dann in aller Ruhe ausrotten zu können; und man braucht nur als Deutscher ein leises Gefühl von Würde zu empfinden, um die erbärmliche Feigheit unserer Regierung in der Armenierfrage nicht ohne Scham­röte hinzunehmen. Das Gemisch von Gewissenlosigkeit, Feigheit und Kurzsichtigkeit aber, dessen unsere Regierung sich in der Sache der Armenier schuldig gemacht hat, kann allein schon genügen, um die politische Loyalität eines denkenden Menschen, dem an Menschlichkeit und Zivilisation etwas liegt, vollständig zu untergraben. Es ist eben nicht jedes Deutschen Sache, so leichten Herzens wie jene Herren Diplomaten von Pera die Schande zu ertragen, dass die Weltgeschichte die Tatsache verzeichnen wird, dass die raffiniert grausame Vernichtung eines kulturell wertvollen Volks von anderthalb Millionen mit dem Zeitpunkt der stärksten deutschen Macht in der Türkei zusammenfiel.
Ich habe über die Armenierverfolgungen und den aus ihnen sprechenden Geist bestialischen Chauvinismus der Jungtürken meine Zeitung durch lange vertrauliche Berichte wohl aufgeklärt. Auch das Auswärtige Amt nahm von ihnen Notiz. Aber ich sah keine Spur von Früchten dieser Aufklärung in der Haltung meines Blattes. Den Entschluss, nicht mehr meine Redaktion zu betreten, habe ich nach jenem dra­matischen Ereigniss gefasst, als mir meine Frau den Fluch gegen Deutschland ins Gesicht schleuderte. Ich wenigstens persönlich verdanke den Leiden der armen gemordeten und gequälten Armenier meine seelische und moralisch-politische Befreiung!
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Harry Stürmer: Zwei Kriegsjahre in Konstantinopel 1915–1916. Skizzen deutsch-jungtürkischer Moral und Politik. Mit Beiträgen von Hilmar Kaiser und Helmut Donat. Donat-Verlag, Bremen 2016, 208 Seiten, 14,80 Euro
Über Harry Stürmer ist bislang wenig bekannt. Er war mit einer Tschechin verheiratet. 1904 bis 1906 nahm er als Freiwilliger am Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) teil und hielt sich danach oft in den afrikanischen Kolonien Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands auf. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er 1914 in den Masuren. Eine schwere Erkrankung führte zur Entlassung aus dem Militär. Seit Frühjahr 1915 arbeitete er als Korrespondent der »Kölnischen Zeitung« in Konstantinopel. Hier geriet er angesichts des Völkermords an den Armeniern in Konflikt mit der deutschen Diplomatie und den türkischen Behörden. Wegen seiner Kritik an der deutsch-türkischen Waffenbruderschaft wurde er mundtot gemacht. Ende 1916 gelang es Stürmer, in die Schweiz zu entkommen, wo er sich in Montreux ansiedelte. Der deutschen Gesandtschaft in Bern, die in die Schweiz emigrierte Deutsche ausspionierte, galt er als »Renegat«. Sie verweigerte ihm sowohl die Einreise nach Deutschland als auch die Auszahlung einer Militärrente. Stürmers Versuch, nach dem 9. November 1918 für ein »neues« Deutschland tätig zu werden, scheiterte an dem Widerstand des Auswärtigen Amtes. Es bezeichnete Stürmers »frühere publizistische Tätigkeit« in der Türkei als »hinderlich«.