Der Iran erntet Verständnis

Religionskrieg vs. Freiheitskampf

Nach den Hinrichtungen in Saudi-Arabien zeigt der Westen Verständnis für die Reaktion des Iran.

Was immer man über den saudisch-schiitischen Prediger Nimr al-Nimr denken mag, tot nützt er dem iranischen Regime wohl mehr als lebendig. Am Samstag wurde er zusammen mit 43 wegen Mordanschlägen auf westliche Einrichtungen verurteilten mutmaßlichen al-Qaida-Terroristen sowie drei schiitischen Jugendlichen hingerichtet. Der iranische religiöse Führer Ali Khamenei stellte Nimr al-Nimr sofort in eine Reihe mit »Märtyrern« aus dem Libanon und Gaza: den auch unter oppositionellen Syrern verhassten Hizbollah-Kader und antisemitischen Kindermörder Samir Kuntar, der 1979 einen israelischen Familienvater und seine vierjährige Tochter grausam tötete und 2015 durch einen israelischen Luftangriff in Syrien ums Leben kam, sowie den 2004 ebenfalls durch die israelische Armee getöteten Hamas-Führer Ahmad Yassin.
Während die saudische Monarchie im vergangenen Jahr 157 Menschen hinrichten ließ, wurden dem Iran Human Rights Documentation Center zufolge in der Islamischen Republik im selben Jahr 957 Personen von Staats wegen zu Tode gebracht. Iran ist gemessen an der Bevölkerungszahl das Land mit den meisten Hinrichtungen weltweit, in absoluten Zahlen übertroffen nur von der Volksrepublik China. Dazu herrscht jedoch eisiges Schweigen.
Das iranische Regime hat auf seine bekannte Art auf die Hinrichtungen in Saudi-Arabien reagiert und die saudische Botschaft in Teheran von seinen Milizen anzünden lassen. Während das saudische Regime mit solchen Attacken von iranischer Seite wohl gerechnet hatte, zeigte es sich schockiert über die heftigen Reaktionen im Westen, die sich jedoch in Politik und Medien bereits seit längerem angekündigt hatten. Die Islamische Republik hat Saudi-Arabien als imaginiertes »Element der Stabilität in einer Region voller Instabilität« (Martin Schulz) abgelöst. Stellvertretend für die westliche Hinwendung zum iranischen Regime erklärte Gérard Araud, der französische Botschafter in den USA, in einem (inzwischen gelöschten) Twitter-Post, »Iran« sei »verpflichtet gewesen, zu reagieren. Eine Botschaft anzuzünden ist spektakulär, aber kein Kriegsakt.«
Während die iranischen Revolutionsgarden nicht nur das »Blut der Märtyrer« in Saudi-Arabien beschwören, sondern die Hinrichtungen als »zionistische Verschwörung« klassifizieren, sind die sunnitischen Konkurrenten auf diesem Feld ins Hintertreffen geraten. Das saudische Königshaus hat in der derzeitigen Situation kein Interesse, die antiisraelischen Reden seiner Kleriker in die Tat umzusetzen.
Selbst der »Islamische Staat« (IS) als sunnitisch-jihadistisches Konkurrenzunternehmen zur Islamischen Republik muss sich von Khamenei vorhalten lassen, vom gemeinsamen Kampf der Islamisten gegen die Zionisten abzulenken. Den kürzlich ausgesprochenen Drohungen des IS gegen Israel stehen Zehntausende von iranischen Raketen im Libanon und in Gaza gegenüber. Niemals würde das iranische Regime eine Drohung gegen Israel zurücknehmen.
Antisemitismus und Antiamerikanismus sind für die Islamische Republik keine Taktik im Gegensatz zu anderweitigen rationalen Selbsterhaltungsinteressen, sondern ihre unverzichtbare Gegenrationalität. Der Versuch der Verständigung mit dieser Gegenrationalität endet womöglich im Verständnis für ihre Ziele. Im selben Maß, wie der Ausbau der Partnerschaft mit dem iranischen Regime weitergetrieben wird, schreitet die Zerstörung der zivilisatorischen Restposten im Westen voran. Eine Entente Cordiale mit der Islamischen Republik und ihren russischen Verbündeten wäre das sichere Rezept dafür, das Gerede vom »Religionskrieg« im Mittleren Osten wahr werden zu lassen. Und sie wäre eine Allianz gegen alle, die in der Region für Mäßigung oder gar für Säkularismus und Demokratie einstehen.