Das Boßeln

Dabei sein ist vielleicht schon zu viel

In der Reihe »Ausprobiert« beschreiben Autoren ihre Erfahrungen mit Sportarten, die zu betreiben sie als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Beispielsweise Boßeln. Die Sportart mit dem langen »o« ist hauptsächlich in Friesland verbreitet.

Nach Sport fühlt es sich nicht an, mit einem Schnapsglas um den Hals in der vereisten Landschaft zu stehen. Drin steckt ein siffiges Taschentuch, damit die klebrigen Reste von Lakritz-Likör, Saurem Apfel und Waldmeister-Schnaps sich nicht noch weiter über die Klamotten verteilen. Weiter vorne stößt jemand, von lautstarkem Grölen begleitet, eine Gummikugel ins Moor. Der nächste Werferwechsel steht an, aber bei uns hinten am Bollerwagen kann niemand sagen, wer nun an der Reihe ist – und wie es steht schon gar nicht.
Für manche ist das Boßeln mit langem »o« nur stupides Beschäftigungsprogramm einer Kohltour. Auf dem Weg zum Gasthof stoßen die Werfer zweier Teams ihre Kugeln abwechselnd möglichst weit. Es zählt die Strecke bis zu dem Punkt, wo sie liegenbleibt oder vom Weg abkommt. Wer clever ist, zählt dabei die sogenannten Schöts: Punkte, die es immer dann gibt, wenn die gegnerische Kugel hinter der eigenen zurückbleibt.
Aus irgendeinem Grund machen wir es anders und versuchen stattdessen, uns über acht Kilometer und unzählige Schnäpse hinweg zu merken, wer insgesamt wie oft dran war. Bei mir scheitert das endgültig, als eine im Gestrüpp verlorene Kugel meine volle Konzentration beansprucht. In solchen wässrigen Regionen kann sich glücklich schätzen, wer Kinder dabei hat, die sofort freudestrahlend zum »Krabber« greifen und das Wurfgeschoss aus dem Modder bergen.
Natürlich wird hier und da auch nüchtern geboßelt – in Vereinen sogar mit eigenen Ligen, Meisterschaften und so weiter. Aber so richtig ernst wird die Sache dann trotzdem erst im Hobbybereich: Im Emsland etwa ist der boßelnde Betriebsausflug ein Pflichttermin. Für das Fernbleiben gibt es nur deshalb keine überlieferten Sanktionen, weil es nie jemand gewagt hat. Seit ich vor einigen Jahren mal zwischen Papenburg und Meppen mit einer bis aufs Messer zerstrittenen Boßel-Truppe aus Ehefrauen örtlicher Feuerwehrmänner im Zug saß, gebrauche ich das Wort »Gruppenzwang« nicht mehr leichtfertig.
Darum bleibt den Menschen in Boßel-Hochburgen wie Friesland, Oldenburg und dem Emsland stets die alte Kindheitspanik erhalten, beim Sport als Letzter ins Team gewählt zu werden. Selbst unsere in unzähligen emanzipatorischen Projekten engagierte Gruppe erweist sich als rege bemüht, die Mitspielerinnen mit kleinem »i« gleichmäßig zu Lasten aller zu verteilen. Man kann sagen: Das Boßeln kehrt nicht die besten Eigenschaften ans Tageslicht.
Verschärft wird das dadurch, dass Boßeln zwar ein Mannschaftssport ist, dabei aber immer jeweils nur Einzelne agieren lässt. Verwirft sich jemand, ist es keine Interpretationssache, an wem es gelegen hat. Der Angstgegner ist darum immer das eigene Team und in der winterlichen Kälte ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Stimmung umschlägt – bis es nicht mehr heißt: »Hauptsache, wir kommen an«, sondern: »Wegen dir kommen wir nicht an.«
Umso größer ist die Erleichterung, wenn es klappt – wenn man nach einem kurzen Anlauf ausholt und die Kugel schön flach aus der Hand gleitet, um nach dem Aufkommen weiter und weiter zu rollen. Das sind wunderbar sinnliche Momente wie bei einem aus der Zeit fallenden Bowling-Spiel. Nur gedehnter irgendwie und etwas sinnloser, weil am Ende nichts umfällt.
Zumindest nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Ein Blick ins Regelwerk des »Friesischen Klootschießer-Verbands« (FKV) bezeugt dann aber auch im Fall von Missgeschicken ein gesundes Selbstbewusstsein der Sport-Boßler. Trifft ein Wurf versehentlich Zivilisten oder Tiere, darf er wiederholt werden – knallt die Kugel auf ein Auto, geht das Spiel hingegen ununterbrochen weiter, wenn das Fahrzeug bereits parkte und nicht erst durch den Wurf »zum Stand gebracht« wurde.
Apropos Hindernisse: Mit den Profis auf eigens dafür abgesperrten Landstraßen zu spielen ist etwas ganz anderes als unser Wald-und-Wiesen-Boßeln. Denn auf freier Fläche glänzen diejenigen mit dem stärksten Wurfarm besonders, während krumme Waldwege mehr Technik verlangen. Theoretisch jedenfalls. Bei uns wissen sich die besten Werfer auf Dauer auch in den endlosen Regeldiskussion am besten durchzusetzen. Die Kugel darf den Weg nicht verlassen, sagen die einen. Die anderen hingegen bestehen darauf, dass dieses Ding ja einige Meter später noch wieder zurück auf die Bahn gekullert sei.
Schiedsrichter nimmt man nicht mit. Was zu klären ist, hat meist eh mit sportfernen Feinheiten drumherum zu tun. So ist es beispielsweise allgemein anerkannt, dass beim Überqueren von Kreuzungen ein Schnaps zu trinken ist. Ob dabei allerdings wirklich jeder einzelne Wildwechsel zählt, wird im Handgemenge ausgemacht. Bei uns heißt das, so lange zu diskutieren, bis entweder wirklich niemand mehr Lust hat oder bis die letzten Nachzügler vom Pinkeln aus dem Unterholz zurück am Ort des Geschehens sind.
Die andere Gruppe hier kann sich dagegen an ihren »Kohlkönig« halten. So heißt das arme Schwein, das beim letzten Mal die meisten Portionen verdrückt oder über einen ähnlichen, aber geheimen Ritus berufen wurde. Seine erste und einzige Amtshandlung ist die Organisation der nächsten Tour – im schlimmsten Fall muss er sie sogar bezahlen.
Mit Zwietracht und Reibereien war das Boßeln übrigens schon immer verbunden – im 18. Jahrhundert war es zeitweise sogar verboten, um den ständigen Schlägereien zwischen verfeindeten Dörfern Einhalt zu gebieten. Genutzt hat das nichts. Die biestige Beharrlichkeit der Norddeutschen hat sich historisch immer da am vehementesten durchgesetzt, wo es um nichts ging.
Auch heute noch wird die im Sport sublimierte Gewalt regelmäßig handfest. Zwar gibt es nur finstere Gerüchte über das Geschehen in den Mooren um die zahllosen Landgasthäuser, aber zumindest in Bremen war die Polizei in der vergangenen Saison noch rechtzeitig zur Stelle, um eine Massenschlägerei für die Nachwelt zu dokumentieren. Da hatte sich eine der im Gasthof angelandeten Gesellschaften als Nazi-Verein entpuppt.
Auch in der Großstadt wird geboßelt – sofern sie sich als norddeutsch versteht. Denn obwohl der Sport auch in den Niederlanden, Italien oder Irland bekannt ist, gilt er nur hier wirklich als lokales Kulturgut – dazu als eines, das gerade ein Revival feiert.
Denn außerhalb der boßelnden Kernlande lernen die wenigsten diesen Sport von Haus aus. Wenn in meinem Heimatstädtchen heute sogar Schulklassen mit Bollerwagen auf Tour gehen, können deren Eltern das kaum fassen. Sie selbst hätten so etwas nie getan – nein, auch »damals« nicht.
Überhaupt: Diesen Eltern wurde das Plattdeutsch in der Schule noch als vorgestrige Marotte aus dem Mund geprügelt. Heute richten Dorf-Sparkassen regelmäßig Vorlesewettbewerbe aus, um dieses mittlerweile als schützenswert geltende Gut zu bewahren. Eigentlich hätte ich das über die Schüssel voller Grünkohl, Pinkel, Kassler und Bregenwurst hinweg gerne noch mit den anderen diskutiert.
Schließlich finden die es auch alle »irgendwie schön«, dass Boßeln seit einigen Jahren sogar als Schulsport angeboten wird. Doch der Gedanke verliert sich irgendwo im Delirium – übrigens mitsamt der Zänkerei von unterwegs. Als dann schließlich noch das hiesige Jägermeister-Pendant die Runde macht, denke ich eigentlich nur noch darüber nach, dass ich bis zum kommenden Jahr an meiner Wurftechnik arbeiten sollte.