Gewalt gegen Obdachlose in der Provinz

Keine sichere Bank

In der Provinz sind Obdachlose nur scheinbar sicherer vor Neonazis als in Großstädten.

Freiburg im Breisgau, das pittoreske, idyllische Studierendenstädtchen mit 210 000 Einwohnern, hat seit vielen Jahren ein eklatantes Problem mit steigenden Mietpreisen, einer großen Wohnungsnot, einer aus allen Nähten platzenden Notfallkartei und der Konsequenz einer stetig größer werdenden Anzahl von wohnungs- und obdach­losen Menschen. Auch in Freiburg fiel, genau wie nahezu in der gesamten Republik, in den vergangenen Jahren der letzte Rest von noch einigermaßen bezahlbarem Wohnraum immer häufiger der Abrissbirne zum Opfer oder wurde luxussaniert.

Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) nimmt die Anzahl der Bürger, die ohne einen Rückzugsraum auf der Straße leben müssen, bundesweit zu. Zuletzt stieg ihre Zahl von etwa 22 000 im Jahr 2010 noch einmal um weitere zehn Prozent auf 24 000 im Jahre 2012. Für Freiburg nennt Ulrich von Kirchbach (SPD), Bürgermeister für Kultur, Jugend, Soziales und Integration, die Anzahl von derzeit etwa 850 Menschen, die sich ihr Nachtlager in Einkaufpassagen, Lädeneingängen oder auf Parkbänken bereiten müssen.
Was Kirchbach in diesem Zusammenhang gern verschweigt, ist die Tatsache, dass in Freiburg derzeit etwa 900 Wohnungen leerstehen und von den Eigentümern nicht vermietet werden, um die Quadratmeterpreise weiter steigen zu lassen.Recherchiert man, warum immer mehr Menschen ihr Zuhause verlieren, stößt man meist auf die Erklärung, dass Obdachlosigkeit, von wenigen Einzelfällen abgesehen, nicht in unzumutbarem Verhalten oder rechtswidrigem Gebrauch der angemieteten Räumlichkeiten ihre Ursachen hat, sondern die Einkommensarmut eine entscheidende Rolle spielt.
Zu diesem Ergebnis gelangte schon der heutige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) in seiner juristischen Dissertation »Bürger ohne Obdach« von 1991. Steinmeier kritisiert dort scharf die seit den siebziger Jahren forcierte Politik des Abbaus von Sozialleistungen und den neoliberalen gesellschaftlichen Umbau. Er fordert eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates zum Bau und Erhalt von preisgünstigem Wohnraum. Räumungen dürften nur dann vollzogen werden, wenn zumutbare Ersatzwohnungen zur Verfügung stünden. Von solchen Forderungen wollte Steinmeier schon bald nichts mehr wissen, als er in der SPD Karriere machte. Etwa zehn Jahre später leistete er als einer der Initiatoren der »Agenda 2010« und der Hartz-Gesetze einen entscheidenden Beitrag zur Massenarmut, sozialen Ausgrenzung und Prekarisierung der noch Beschäftigten.
Überraschend ist das nicht, schließlich weiß auch Steinmeier um die Bedeutung, die soziale Ungleichheit als entscheidende Triebfeder für das so bezeichnete »Funktionieren« kapitalistisch sich reproduzierender Gesellschaften hat. Vor allem die Obdachlosen, die sich auf der letzten Sprosse »menschlichen Versagens« befinden, erfüllen in diesem Gesellschaftssystem eine nicht zu unterschätzende Funktion als zu disziplinierende »Leistungsverweigerer«.

Aus dieser sozialen Ausgrenzung resultiere ein Sozialdarwinismus des Wortes und der Tat, referierte vorige Woche der Tübinger Publizist und Historiker Lucius Teidelbaum bei den »Internationalen Wochen gegen Rassismus« in Freiburg. Obdachlose werden nicht nur von Staat und Gesellschaft ausgegrenzt, sondern auch auf der Straße beleidigt, angespuckt, angegriffen, verletzt und in nicht wenigen Fällen gefoltert und ermordet. Hauptsächlich verantwortlich für diese Verbrechen seien, so Teidelbaum, rechtsextreme Täter. Gewalt gegen Obdachlose werde verübt, weil diese als gesellschaftlich unproduktiv, »arbeitsscheu« und »asozial« gelten und vermeintlich als »Parasiten« der Mehrheitsgesellschaft auf der Tasche lägen. Vor allem fehle den Tätern meist jedes Unrechtsbewusstsein. »Das ist doch nur ein Penner, ein Assi und ein Parasit«, laute fast ausnahmslos die Begründung für Körperverletzung und Mord.
In Freiburg ist die Situation nur scheinbar eine andere. Wie Willibert Bongarts, Leiter der Tagesstätte »Pflasterstub«, und Günter Wolf, Sozialarbeiter im »Ferdinand-Weiß-Haus«, übereinstimmend berichten, sei ihnen kein einziger Fall von rechter Gewalt gegen ihre Klientel bekannt. Unterhält man sich mit den Betroffenen, so fällt auf, dass sie sehr häufig von Anpöbeleien und Übergriffen durch alkoholisierte Jugendliche nach den Heimspielen des SC Freiburg berichten. Ob das rechte Täter seien, wüssten sie nicht.
Eine Abgrenzung zwischen Tätern mit und ohne rechtsextremen Hintergrund vorzunehmen, ist nicht immer einfach. Nicht jeder Neonazi ist auf den ersten Blick erkennbar. »Ein großer Teil der Täter zeigt ein Verhalten, das extrem rechten Ideologien entspricht, ohne dass die Täter in den entsprechenden Organisationsstrukturen verankert sind oder sich selbst diesen zugehörig fühlen. Aber irgendwo muss die Einstellung gegen Obdachlose schließlich herkommen«, berichtet Benjamin Giffhorn von der BAG.
Und der Hass gegen Obdachlose ist tief in der NS-Ideologie verwurzelt. Zusammen mit anderen, ebenfalls nicht mehr zur Kapitalakkumulation zu rekrutierenden Gruppen wie Langzeitarbeitslosen, Kranken und Behinderten sind sie immer stärker mit einem Konsens der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert, solche Minoritäten auszugrenzen.