Repression gegen kritische Gewerkschafter in Istanbul

Enthauptung im Palast

In der Türkei stehen 56 Mitglieder einer regierungskritischen Gewerkschaft vor Gericht. Angeblich sollen sie einer bewaffneten Organisation angehört haben.
Von

Das ultramoderne Gebäude im Zentrum Istanbuls mit seinem riesigen Atrium und den Spiegelglasfenstern wurde offenbar von einem ambitionierten Architekten entworfen, es sieht aus wie ein Hotel oder ein Einkaufszentrum. Doch es handelt sich um den Çağlayan-Justizpalast, das angeblich größte Gerichtsgebäude in Europa. Hier begann in der vergangenen Woche der Prozess gegen 56 Mitglieder der Kesk, einer türkischen Gewerkschaft für Angestellte des öffentlichen Dienstes. Ihnen wurde die Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation und Propaganda für diese Organisation vorgeworfen, einige sollen angeblich deren Führung angehört haben.
Die illegale Organisation ist die Revolutionäre Volksbefreiungspartei – Front (DHKP-C), die seit mehr als drei Jahrzehnten den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat führt. Die DHKP-C wird nicht nur von der türkischen Regierung, sondern auch von der Europäischen Union und den USA als terroristische Organisation eingestuft. Sie bekannte sich unter anderem zu einem Selbstmordanschlag auf die US-Botschaft am 1. Februar vergangenen Jahres, bei dem außer dem Attentäter eine Person starb und drei Menschen verletzt wurden.

Einige Tage später führte die türkische Polizei im ganzen Land Razzien in den Büros der Kesk durch, einer unabhängigen Gewerkschaft, die sich in vielen Bereichen, vor allem in Bildungsfragen, gegen die Politik der Regierung Recep Tayyip Erdoğans gewandt hat. Es gibt keine Beweise für eine Verbindung zwischen den angeklagten Gewerkschaftern und der DHKP-C. Nach Angaben der Kesk ist die Anklage konstruiert, der wahre Grund für die Strafverfolgung sei die Verteidigung gewerkschaftlicher Rechte gegen die kontinuierlichen Angriffe der Regierung. Die internationale Gewerkschaftsbewegung setzte sich in einer Online-Kampagne für die Angeklagten ein.
Die meisten der 167 im Februar vergangenen Jahres inhaftierten Gewerkschafter wurden mittlerweile freigelassen, doch von den 56 Angeklagten sitzen 29 seit fast einem Jahr im Gefängnis. Ihre Angehörigen wollten ebenso wie türkische und aus dem Ausland angereiste Gewerkschafter, Journalisten und Unterstützer bei der Eröffnung des Prozesses anwesend sein. Doch das Gericht entschied, das Verfahren in einem der kleinsten der zur Verfügung stehenden Räume abzuhalten, so dass sich die Zuschauer, viele stehend, in dem heißen, schlecht belüfteten Zimmer zusammendrängen mussten.

Die drei Richter stellten die Identität der Angeklagten fest, denen danach Gelegenheit zu einer Stellungnahme gegeben wurde. Zuerst sprach eine Lehrerin ausführlich über die türkische Gewerkschaftsbewegung, die nach dem Militärputsch im Jahr 1980 zerschlagen worden sei und nun wieder von der Regierung Erdoğan bedroht werde. Der vorsitzende Richter fragte sie, wie lange sie noch reden würde. »Solange wie nötig«, antwortete sie. »Ich habe viel zu sagen.« Nach dem Ende ihrer Rede applaudierten die Zuschauer. Während der Verhandlungspause schlossen sich die Gewerkschafter einer Protestkundgebung von mehreren Hundert Mitgliedern der Kesk auf einem Platz vor dem Justizpalast an.
Die Demonstrierenden riefen auch »Nieder mit dem Faschismus«, doch die Türkei ist kein faschistischer Staat, der unabhängige Gewerkschaften grundsätzlich verbietet. Die Türkei hat jedoch nur wenige der international vereinbarten Arbeiterrechte anerkannt und zahlreiche Konventionen der International Labour Organization nicht ratifiziert. So ist es Beamten nicht gestattet, kollektiv für ihre Rechte einzutreten. Überdies sind Gewerkschafter immer wieder von repressiven Maßnahmen betroffen. Der Prozess in Istanbul ist nur eines von mehreren Verfahren gegen insgesamt etwa 500 Mitglieder von Kesk. Zweifellos versucht die Regierung Erdoğans, die Gewerkschaft durch die Inhaftierung ihrer Mitglieder zu zerschlagen, sie, wie es ein europäischer Gewerkschaftsführer ausdrückte, zu »enthaupten«.