Fotografien deutscher Nachkriegsarchitektur von Arne Schmitt

Alles aus Beton

Arne Schmitt fotografiert deutsche Nachkriegsbauten und sieht ihnen beim Altern zu.

Peter O. Chotjewitz beschreibt in seinem Roman »Mein Freund Klaus« die westdeutschen Städte der Nachkriegszeit, wie er sie mochte: »Viele Trümmerhaufen in jeder Stadt, von Ameisenstraßen begrenzt, denn die Straßen hatte man inzwischen freigeschaufelt und die Reste der Häuser in die Luft gesprengt. Trümmerböschungen zu beiden Seiten der Trampelpfade. Brandmauern, halb zerstörte Häuser, Eisenskelette ragten aus diesen Karrees.« Ganz ähnlich sah er die Zukunft dieser Städte. Wiederaufbau? »Das war nicht mein Projekt. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man die deutschen Trümmerstädte so liegen gelassen, wie sie am 8. Mai 1945 ausgesehen hatten. So lange, bis sie ganz zerfallen waren und als struppige Scherbenberge in der deutschen Pissoirlandschaft standen.« Leider seien »die Fluchtlinien der Neubauten bereits abgesteckt«.
Diesen Neubauten widmet Arne Schmitt seine Fotoarbeit »Wenn Gesinnung Form wird«. Herausgekommen sind ein dicker Bild-Essay und eine kleine Installation ungerahmter Bilder im Hannoveraner Sprengel-Museum. Schmitt widmet sich zahlreichen Aspekten des nachkriegsdeutschen Städtebaus: Verkehrssysteme und Flusspromenaden, Universitäten und Kaufhäuser, allesamt Neubauten, die inzwischen ganz schön gealtert sind. Manchmal wirken sie selbst wie Trümmer und man fragt sich, warum sie niemand wegräumt. Schmitt zeigt diese Betonarchitektur in ihrer ganzen Hilflosigkeit und Unvermitteltheit und überzieht sie mit sehr viel Spott. Unverkennbar aber ist gleichzeitig die Sympathie für diese Trümmer zweiter Ordnung. Chotjewitz hätte es sicher gefallen.
Durch die Angriffe alliierter Bombergeschwader klafften in deutschen Großstädten riesige Baulücken. Trümmer und Krater zeugten vom verlorenen Krieg. Um diese Nielderlage unsichtbar zu machen, wurden die Trümmer weggeräumt und die Bombenkrater zugebaut. Heute markieren Neubauten diese Orte.
Die Nachkriegsarchitektur war bestimmt vom schnellen Wiederaufbau. Man versuchte, an die Bauavantgarden der Weimarer Republik anzuknüpfen und bediente sich klarer Formen, nutzte moderne Baustoffe wie Stahl, Beton und Glas und ging recht großzügig mit dem Raum um. Platz gab es schließlich genug. Man findet hier und da Anleihen an den Stil des Bauhauses. Viele der älteren Architekten, die während des Nationalsozialismus nicht bauen durften, bekamen Aufträge für öffentliche Gebäude: Hans Scharoun baute die Berliner Philharmonie, Hans Luckhardt die Bremer Bürgerschaft, Mies van der Rohe die Berliner Nationalgalerie und Walter Gropius errichtete Wohnhäuser in Berlin und eine Fabrik in Hamburg.
Gleichwohl gab es auch Kontinuitäten im Bauen. Architekten aus Albert Speers Mitarbeiterkreis waren an der urbanen Gestaltung der Bundesrepublik beteiligt. Bereits 1943 hatte Albert Speer in seiner Funktion als Generalbauin­spektor den »Arbeitsstab für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte« ins Leben gerufen.
Hatte man sich hier an einer »Stunde Null« in Beton versucht, einer Kulisse, die den Bruch darzustellen hatte? Schon möglich, denn es ist äußerst schwierig, jenseits der personellen auch architektonische Kontinuitäten ausfindig zu machen. Es gibt eine deutliche Abkehr von der repräsentativen Nazi-Architektur: Flachdächer statt Spitzdächer, klare Formen anstelle von Ornament, Funktionalismus statt Pathos.
Als Vorwort zu Schmitts Foto-Essay dienen Aufnahmen von Hamburg, Gießen, Düsseldorf und Koblenz. Schmitt zeigt, wie in diese Städte eine zweite Etage eingezogen wurde, um verschiedene Lebensbereiche voneinander zu trennen. Um eine bessere Koexistenz von Autoverkehr und Fußgängern zu ermöglichen, wurden Über- und Unterführungen gebaut. Tatsächlich finden sich solche städtebaulichen Eingriffe in nahezu jeder westdeutschen Stadt. Diese Trennung hat durchaus etwas Großzügiges, alle bekommen dadurch mehr Platz, Autofahrer müssen nicht auf Fußgänger achten, Fußgänger können sich frei bewegen, niemand muss vor roten Ampeln warten.
Deutlich erinnern die Etagenstädte an die Pläne eines »unitären Urbanismus«, die der Architekt und Künstler Constant in der Zeitschrift der Situationistischen Internationale veröffentlichte. Der Unterschied liegt im Zweck. Denn die Situationisten wollten mit ihrer Stadtplanung die Möglichkeiten des Lebens auf die Grundlage des Standes der Produktionsmittel heben. Constants Städte sollten dem Spiel dienen, vielleicht würden sich die neuen Innenstädte von Hannover, Mainz und Marl dafür eignen?
Wie Teile von Raumstationen ziehen sich die Fußgängerbrücken in ausufernden, geschwungenen Bögen über innerstädtische Schnellstraßen und zwischen alten Kirchen und vereinzelten Jahrhundertwendebauten hindurch. Die Betonbauten wirken unbeholfen, wie sie so in diese innerstädtischen Landschaften eingelassen sind. Von einer breiten Fußgängerbrücke gleitet eine Rolltreppe zum Boden wie ein stählerner Wasserfall. Vielfach übereinandergelagerte Übergangswege in Koblenz, passenderweise an einer Einrichtung mit dem Namen »Haus des Straßenverkehrs«, spannen sich über eine Fahrbahn wie Masten und Taue eines Segelschiffs. Es ist eigenartig, auf welche Weise die Betonarchitektur plötzlich an Schönheit gewinnt.
Das mit dem Titel »Das Fachwerk brannte zuerst« versehene Kapitel des Essays vermittelt den Eindruck von Freiheit. Man sieht auf zahlreichen Aufnahmen aus Köln und Kassel vor allem unnütze Zwischenräume, Plätze, Treppenaufgänge und Grünanlagen zwischen Neubauten mit großen Fenstern und flachen Dächern. Man bekommt das Gefühl, mit dem Verschwinden der Fachwerkbauten hätte sich etwas aufgetan, eine große Chance, baulich und gesellschaftlich. Die Nazis und die Fachwerkhäuser, sie mussten gemeinsam verschwinden.
Die Abneigung gegen Neubauten ist in Deutschland nach wie vor groß, das Fachwerkhaus dagegen entspricht immer noch dem Ideal des Deutschen. Martin Heideggers Schwarzwaldhütte ist ein deutscher Mythos. Gerade die Achtundsechziger haben landauf, landab Tausende dieser dumpfen Sinnbilder eines Lebens in bäuerlicher Armut und ländlicher Enge gerettet, saniert und bewohnt.

Arne Schmitt: Wenn Gesinnung Form wird. Sprengel-Museum, Hannover. Bis 3. März 2013
Arne Schmitt: Wenn Gesinnung Form wird. Eine Essaysammlung zur Nachkriegsarchitektur der BRD. Spector Books, Leipzig 2011, 352 Seiten, 32 Euro