Die irakische Armee greift ein Flüchtlingscamp der Volksmujahedin an

Die späte Rache des Rechtsgelehrten

Die irakische Armee hat ein Flüchtlingslager der iranischen Volksmujahedin überfallen. Dies war bereits der zweite Angriff.

Ein Mensch wird von einem Militärtransporter überfahren, Soldaten feuern gezielte Schüsse auf eine unbewaffnete Menge. Zu sehen sind auf den Videos keine Szenen aus dem Iran oder aus Libyen, sondern aus Ashraf, einem Lager im Irak, in dem sich etwa 3 400 Mitglieder der oppositionellen iranischen Volksmujahedin (Mojahedin-e khalq, MEK) befinden, die am 8. April von der irakischen Armee angegriffen wurden. Dabei wurden einer Untersuchungskommission der UN zufolge 34 Menschen getötet.
Bereits im Juli 2009 hatte die unter dem Oberbefehl von Premierminister Nuri al-Maliki stehende irakische Armee Ashraf attackiert, damals kamen mindestens elf Flüchtlinge ums Leben. Die filmische Dokumentation ihrer Taten hat die Soldaten auch diesmal offensichtlich keineswegs zur Zurückhaltung veranlasst. Nach Angaben des Nationalen Widerstandsrates des Iran, dem die MEK und verbündete Gruppen angehören, wurden 300 Lagerbewohner bei dem Angriff verletzt, sie könnten wegen einer seit Jahren andauernden Blockade medizinischer Hilfslieferungen nicht adäquat behandelt werden.

Die MEK wurden 1965 als gegen die Herrschaft des Schahs kämpfende Gruppe gegründet, ihre Ideologie basierte auf einer Mischung von Sozialismus und Reformislam. Die Volksmujahedin unterstützten die Errichtung einer Islamischen Republik im Iran. Allerdings führte ihre Ablehnung des khomeinistischen Prinzips der velayat-e faqih (Herrschaft des obersten Rechtsgelehrten) zum Bruch mit dem neuen Regime. 1981 nahm die Organisation den bewaffneten Kampf gegen die Islamische Republik auf, ihre Anführer flohen ins Exil nach Paris. Nach ihrer Ausweisung aus Frankreich nahmen sie Saddam Husseins Angebot zur Aufnahme im Irak an.
Im Jahr 2002 brachte die MEK mit Enthüllungen über das geheime Atomprogramm das iranische Regime in Bedrängnis. Nach dem Sieg der US-Armee ließ sich die Organisation entwaffnen, ihre Mitglieder standen fortan im Rahmen der 4. Genfer Flüchtlingskonvention unter dem Schutz der US-Truppen. Im Januar 2009 übergaben die USA die Hoheit über das Lager jedoch der irakischen Regierung, die seither mit verschiedenen Druckmitteln versuchte, es aufzulösen und die Bewohner zu deportieren.

Maliki wurde mit iranischer Unterstützung Premierminister, seine Regierung unterhält gute Beziehungen zum Regime des Nachbarlands, das in den MEK immer noch einen gefährlichen Gegner sieht. Nach Angaben der MEK waren Mitglieder der iranischen Quds-Brigaden am Angriff auf Ashraf beteiligt. Die Quds-Brigaden sind direkt dem religiösen Führer Ali Khamenei unterstellte Elitetruppen, die für terroristische Auslandsaktionen eingesetzt werden. Der Name Quds (Jerusalem) steht für das Ziel des iranischen Regimes, Israel zu vernichten.
Die Islamische Republik kann sich darauf berufen, dass auch die USA und die EU die Volksmujahedin auf ihre Terrorlisten gesetzt haben. Die EU musste diese Einstufung nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zurücknehmen. Nach Angaben des ehemaligen FBI-Direktors Louis Freeh lag der Grund für die Aufnahme der MEK in die Liste im Jahr 1997 in dem Versuch, mit einer solchen »Geste des guten Willens« für Entspannung in den Beziehungen zum Iran zu sorgen. Die Aufrechterhaltung dieser Einstufung trotz der längst gescheiterten Verhandlungen basiere auf der Illusion, man könne sich damit die Zurückhaltung des iranischen Regimes bei seinen Terroraktivitäten im Irak erkaufen.
Sowohl beim Überfall im Sommer 2009 als auch am 8. April war der US-Verteidigungsmi­nister Robert Gates im Irak anwesend. Eine Absprache ist nicht auszuschließen, möglich ist aber auch, dass Maliki den Zeitpunkt für günstig hielt. Zwingt er doch die USA, das Massaker her­unterzuspielen, um nicht als hilf- und einflusslose Besatzungsmacht dazustehen. Die Rechnung scheint aufzugehen, öffentlichen Druck auf Maliki hat die US-Regierung bisher vermieden, es blieb bei der vagen Mahnung, Zurückhaltung zu üben.