Eine Kritik des Sterbehilfe-Urteils

Töten und sich töten lassen

Das Urteil des Bundesgerichtshofs am 25. Juni hat das Strafrecht an die im vergangenen Jahr legalisierten Patientenverfügungen angepasst. Die Diskussionen um die dadurch erleichterte Sterbehilfe sind seither wieder neu entflammt.

Sieg für die Selbstbestimmung, Fortschritt im Kampf gegen Entmündigung: Wo man hinhört, wird gejubelt, weil der Bundesgerichtshof (BGH) ein so treffliches Urteil gesprochen habe. Dessen Quintessenz laute: »Der freiverantwortlich gefasste Wille des Menschen muss in allen Lebenslagen beachtet werden.« Leider nein, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger! Um die Beachtung des freien Willens in allen Lebenslagen ging es nicht. Wäre auch komisch gewesen. Was der BGH liberalisiert hat, ist eine Sterberegelung. Wovor das Urteil schützen soll, ist die Zumutung, weiterleben zu müssen. Diese Freiheit muss es sein.
Weil er das Leiden vor dem Tod sinnlos und die damit einhergehende Verausgabung gesellschaftlicher Ressourcen widersinnig fand, hat ein Ökonomiestudent vor über 100 Jahren die Phrase vom Recht auf den Tod in die Welt gesetzt. Heute wird sie gerne von Redakteuren als Zwischenüberschrift bei der Berichterstattung über Sterbehilfevereine und BGH-Urteile benutzt. Was soll das für ein Recht sein? Sterben wird man ohne Rechtsanspruch. Will man den Zeitpunkt bestimmen, bringt man sich um. Ein Recht, dass ein Dritter mich tötet, kann es nicht geben, denn niemand kann zu einem Tötungsdelikt genötigt, gar gezwungen werden – egal, wie es mir geht. Aber diese Erwägungen sind überholt, die Situation ist längst eine andere. Sterbehilfevereine wie Exit und Diginitas in der Schweiz, Aktivisten wie der ehemalige Hamburger Justizsenator Roger Kusch und – glaubt man Leserbriefspalten – eine ganze Reihe von Privatpersonen sind bereit, jemanden, von dem sie wissen oder zu wissen glauben, er oder sie wolle nicht mehr leben, zu Tode zu bringen.
Im aktuell verhandelten Fall hat ein Rechtsanwalt der Tochter einer Frau, die seit fünf Jahren im Wachkoma lag, geraten, den Schlauch der Ernährungssonde durchzuschneiden. Das Pflegeheim bemerkte die Tat, ließ im Krankenhaus eine neue Sonde legen und zeigte die Tochter an. Die Mutter starb zwei Wochen später unabhängig vom Zwischenfall an den Folgen eines Infarkts, die Tochter wurde freigesprochen. Dafür wurde ihr Anwalt, auf dessen Rat sie sich als Laie verlassen durfte, angeklagt. Dessen Verurteilung vor dem Landgericht lag dem BGH zur Prüfung vor.
Der Revision des Anwalts wurde nun stattgegeben, es liege keine rechtswidrige Tötungshandlung vor, beschied der BGH. Das Urteil berührt mehrere Restriktionen, die hierzulande zwischen der populären Sterbehilfebefürwortung und einer ausgeweiteten Praxis stehen. Zum einen ist der Zustand des Wachkomas, in dem die alte Frau sich befand, kein Moment des Sterbevorgangs, es ging also im engeren Sinn nicht um Sterbeerleichterung. Wird das Urteil zukünftig als leitend angesehen, kann man schwerkranken Patienten unter bestimmten Umständen die Basisversorgung – Nahrung und Flüssigkeit – entziehen, woraufhin sie nicht etwa, infolge eines Behandlungsverzichts, an ihrer Krankheit sterben, sondern wegen der Vorenthaltung der Basisversorgung. Grundversorgung wird im Urteil unter Behandlung subsumiert, lang andauernde Bewusstseinsverluste werden wie Sterbevorgänge behandelt.

Das deutsche Recht macht die Unzulässigkeit der »Tötung auf Verlangen« am Begriff der aktiven Sterbehilfe fest. Die Abgrenzung zur passiven Sterbehilfe – dem Hinnehmen eines vom Patienten selbst bewirkten Sterbens – ist naturgemäß schwierig, weil die Grenze zwischen Tun und Unterlassen alltagspraktisch verschwimmt. Im Spruch des BGH wird nun der Grenze gänzlich die Relevanz abgesprochen. »Ein zulässiger Behandlungsabbruch kann nicht nur durch Unterlassen, sondern auch durch aktives Tun vorgenommen werden.« Eine zentrale Rolle kommt nun, anstelle der Unterscheidung zwischen aktiv und passiv, der Willensbekundung zu. Im verhandelten Fall gab es für die Behauptung der Tochter, ihre Mutter habe gesagt, sie wünsche im Ernstfall keine lebensverlängernden Maßnahmen durch künstliche Ernährung, jedoch keine Zeugen oder andere Belege. Maßgeblich für den Entzug der Basisversorgung außerhalb des Sterbevorgang kann nach dem Urteil also nicht nur der Patientenwille sein, sondern auch der mutmaßliche Patientenwille.

Der Patientenwille, beziehungsweise der mutmaßlicher Patientenwille, erlangt entscheidende Bedeutung. Daher muss sich eine Kritik der Sterbehilfe in diesen Tagen, neben den immanenten Aspekten, auch der im Zentrum der Debatte stehenden Begriffe Selbstbestimmung und Freiwilligkeit annehmen. Wer die Berichterstattung über den sogenannten Pflegenotstand verfolgt, kann beobachten, wie der Horror grassiert. Was gestern das Koma war, ist heute die künstliche Ernährung und morgen die fehlende Blasenkon­trolle und der Verlust der Fähigkeit, sich selbständig zu waschen: ein Anlass, lieber sterben zu wollen. Stabil katastrophische Zustände in der Pflege, von investigativen Journalisten mit drastischen Bildern dokumentiert, befördern massenhaft selbstbestimmte Entscheidungen. Die Artikel über das BGH-Urteil in den Online-Ausgaben von FAZ, Frankfurter Rundschau und Süddeutsche Zeitung waren mit Bildern illustriert, die fast alle ein ganz anderes Motiv zeigten: Die runzelige Hand wird von der glatten Hand gehalten. Die idealtypische und leibhaftige Zuwendung dürfte das Gegenteil jener Vorstellungen sein, die heute naheliegend sind und die Verfahrensweisen und Werthaltungen der Gesellschaft weit verlässlicher abbilden. Dieser Zusammenhang zwischen Gesundheitsökonomie und freier Entscheidung ist in der dominierenden Thematisierungsweise der Sterbehilfe verstellt.
Die Fetischisierung des freien Willens unter Bedingungen der Budgetierung – die zum Beispiel den Versuch, ein behindertes Kind am Ende des Quartals mit Krankengymnastik zu versorgen, zu einem echten Rattenrennen macht – vollendet sich in der Konzeption einer Willensbekundung für Eventualfälle. Die Patientenverfügung, an deren Verrechtlichung im Jahr 2009 sich der BGH nun für die Auslegung des Strafrechts orientiert hat, bietet angeblich die Gewähr dafür, dass auch im Zustand der Nichteinwilligungsfähigkeit nur das geschieht, was einmal schriftlich fixiert wurde. An Körper und Geist halbwegs gesunde Menschen geben ihrer Entschlossenheit Ausdruck, sich Einschränkung und Verfall nur bis zu einem gewissen Maß bieten zu lassen. Tritt aber tatsächlich ein, was befürchtet wurde, könnte sich die Einstellung ändern – wie beim Rhetorikprofessor Walter Jens. Er lebt heute in einem Zustand, in dem er nach früherer Auffassung getötet werden wollte. Wie vielen anderen war ihm ein Leben jenseits der wettbewerbs­adäquaten Selbstkontrolle unvorstellbar. Allem Anschein nach empfindet er nun anders. Sein Glück ist es, dass er eine Frau hat, die seine früheren Texte zum Thema Sterbehilfe nicht als eine Art Patientenverfügung auffasst.
Das BGH-Urteil wurde parteiübergreifend begrüßt – eine ganz große Koalition ist sich einig, dass dem Willen, nicht mehr leben zu wollen, unter bestimmten Umständen unbedingt der Weg geebnet werden muss. Weit weniger leicht wäre es, ein Recht auf Geisteskrankheit, ein Recht auf Altersdemenz oder besser gleich auf Unproduktivität und Pflegebedürftigkeit – unter Einhaltung menschenrechtlicher Standards – durchzusetzen und zu popularisieren. Wenn Sie für das Recht auf ein Dasein kämpfen, das in den Augen der Leistungsfähigen und Vollflexiblen sinn- und wertlos ist – da haben Sie was zu tun.