Lust mit Derrick

Die beste Serie des deutschen Fernsehens läuft aus. Schade.

Elke wollte absolut nichts mehr von mir wissen. Ich hatte ungewöhnliche Dinge von ihr gefordert. Die waren ihr nun wirklich zu schmutzig gewesen. Eben noch hatten wir zusammen unter der Bettdecke gelegen. Es war Freitag, im Fernsehen lief "Derrick". Da raffte meine Jugendliebe wütend ihre Klamotten zusammen, lief mir weg und kam nie wieder. Ich war traurig. Was war mit mir, dem sexuellen Otto-Normal-Konsumenten, passiert? Was hatte mich bewogen, meine geheimsten Phantasien auszutesten?

Es war "Derrick" - genauer: der Schauspieler Tappert. Mein Schlüsselerlebnis mit "Derrick" stammt aus einer Zeit, als es ihn noch gar nicht gab. Irgendwann im Jahr 1971 muß es gewesen sein, als ich Horst Tappert in irgendeiner Soft-Erotik-Produktion sah. Er spielte einen ledigen Mann um die 40, war im Urlaub an der Nordsee. Am Strand taucht eine Gruppe Jugendlicher auf, die aussah, wie die Gruppen Jugendlicher damals so aussahen (ähnlich den Les Humphries Singers, deren Chef später die Derrick-Melodie komponieren sollte). Dann kam die knackige Blondine, die Tappert gerne mal angefaßt hätte. Er traut es sich aber nicht; mit seinen dünnen Ärmchen, muskellosen Schultern und dem blassen Teint wurde ihm seine eigene Anwesenheit in der erotischen Welt Schande und Scham. Und deshalb wurde ich zu seinem Fan: Tappert verkörperte dieses Gefühl nicht nur in einer Rolle. Man merkte auch dem Schauspieler selbst an, daß ihm dieser Dreh Bauchschmerzen verursachte. Dieser Mann mußte einfach Deutschlands gründlichster Ermittler werden.

"Derrick" wurde meine Privatprojektionsfläche. Sein Leben enthielt nichts. Wahr ist, was der Fall ist, und die von "Derrick" zu bearbeitenden Fälle waren also alles, was er war. Der Rest: die reine Leere. Eine mädchen- und drogenfreie Zone. Bei "Derrick" wurde nicht mal gegessen! Diese freudlose Welt hatte der im Nationalsozialismus zur Karriere gekommene Drehbuch-Autor Herbert Reinecker entworfen. Sie war die Zuspitzung der stupiden Atmosphäre, in der ich aufgewachsen war. Langweilig bis zum Tod. Reineckers Welten finden tatsächlich ohne irgend etwas statt, was mit Welt und Spaß zu tun haben könnte. Und Tappert schien sich auch in den Drehbüchern unwohl zu fühlen. Ohne Pause. Der Typ fühlte sich überhaupt immer unwohl. Wie ich, dachte ich.

Mußte dieser Mann nicht geheime Phantasien haben? Geheim, wie die, die er bei mir hervorrief? Und der subalterne Harry Klein, hatte der nicht wenigstens ein paar schmutzige Heftchen im Schreibtisch? Wenn die beiden verkniffenen Typen mal im Puff ermittelten, da waren sie drauf wie Tappert im Erotiksommer 1971: zugeknöpft und förmlich bis über die knallroten Ohren, dabei mit vordergründiger Beamtensouveränität ausgestattet. Da entdeckte ich die Parallelen: Mein Körper ist leicht leptosom wie seiner, die Tränensäcke deuten sich an, mein erotisches Leben ist die Geschichte des Sieges der Verkrampfung über die uferlose Phantasie, der internalisierten Moral der deutschen Klemmseele über das pralle Leben. Weil Derrick nicht leben konnte, ging er eben gründlich arbeiten.

Im Alltag des Kindes von westdeutschen Wirtschaftswundereltern waren Erotik und Verrückheit ebenso zu unterdrücken. Und zwar genauso effektiv, wie das Ermittlerteam die kriminellen Elemente einzutüten pflegte. Schnell und klinisch. Klein und Derrick - das Ärzteteam am Leibe der Gesellschaft. Der Schauspieler Tappert verkörperte in meinen Gedanken all das, was auch ich mich nicht traute. Ganz klar: Der Typ mußt ein Doppelleben führen. Wo macht der die schweinischen Sachen?

Ich stellte mir vor, was der erlebt, wenn der Zuschauer mal nicht dabei ist. Und ich erkannte in Tappert den Serientäter-Typen, als der ich mich selber fühlte. Derrick - er unterdrückte bestimmt auch alles, was er an sich haßte. Und die unterdrückten Wünsche trieben es angesichts dieser bis zur Unkenntlichkeit gesäuberten Kriminalserie, in der die Irren immer die Bösen waren, immer bunter. Meine wenigstens. Ordnung und Disziplin des deutschen Fahnders - was der Körper nicht wollte und der Verstand eisenhart zu bekämpfen wußte, bis der Rest zerstört war. So eine Serie konnte nur in der hiesigen seltsamen Kultur der beamteten Kleinbürger mit ihrer Angst vor allem und jedem entstehen.

Derrick zeigte die "Verwandlung" Kafkas mit reaktionären Ambitionen: ein paranoides, von allen Störungen freies Gedankensystem, wie der Deutsche sich das vorstellt. Ein Faschismus, den wir an uns selber erkannten und im übrigen auch gleich die Zuschauer in den 102 Ländern, in die die Serie verkauft wurde. Gerade deswegen ist es schade, daß Derrick nicht mehr weiterläuft: Zu gut konnte man daran ablesen, wie deformiert man selber ist.

Wohin also jetzt mit der Phantasie, ohne Derrick, der den Fernseher zum Aquarium beförderte, in dem man sich selber schwimmen sah? Ich hoffte auf eine letzte Erotisierung dieses Abziehbildes: Horst Tappert als Briefmarke. Das wäre die Erfüllung meiner geheimsten Wünsche. Die deutschen Tugenden - ab sofort für eine Mark zehn zum Lecken.