Die Ermittlungen der Berliner ­Polizei gegen Nazis in Neukölln sind fragwürdig

Hotspot Neukölln

Das Vorgehen der Berliner Polizei im Fall einer Serie neonazistischer Angriffe im Bezirk Neukölln wird immer fragwürdiger.

Mehr als 70 rechtsextreme Angriffe gab es im Berliner Bezirk Neukölln seit 2016, 23 davon waren Brandstiftungen. Diese Zahlen nennt ein Zwischenbericht des Berliner Landeskriminalamts (LKA), den die Polizeipräsidentin Barbara Slowik im Februar dem Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses in Teilen vorlegte. Das LKA hat seine Ermittlungen demzufolge aus­geweitet. Statt gegen zwei richten sie sich mittlerweile gegen drei Verdächtige aus dem neonazistischen Milieu. Bisher wurde nur gegen den ehemaligen Vorsitzenden des Neuköllner NPD-Bezirksverbands, Sebastian T., und den ehemalige Neuköllner AfD-Funktionär Thilo P. ermittelt.

Nach Angaben des Leiters des Berliner Staatsschutzes, André Rauhut, liege bei den meisten Betroffenen keine konkrete Gefährdung vor. Was ihn so sicher macht, bleibt unklar.

Dem Tagesspiegel zufolge soll es sich bei dem dritten Verdächtigen um Julian B. handeln. Den mehrfach vorbestraften Neonazi hatten im Februar 2017 Zeugen dabei beobachtet, wie er gemeinsam mit T. mögliche Anschlagsziele in Neukölln ausspähte. Im Zusammenhang mit einem Brandanschlag auf das Haus der Demokratie im brandenburgischen Zossen war 2010 B.s Wohnung durchsucht worden. Drei Jahre zuvor hatte ihn ein Gericht wegen gemeinschaftlichen Angriffs auf einen aus Äthiopien stammenden Mann verurteilt. Im Februar 2017 durchsuchte die Polizei wegen des Verdachts der Volksverhetzung erneut seine Wohnung. Die Beamten gingen davon aus, dass B. am 9. November des Vorjahrs, dem Jahrestag der Pogromnacht von 1938, im Internet eine Karte mit 68 jüdischen und israelischen Einrichtungen und Gedenkstätten veröffentlicht hatte. Untertitelt war die Karte mit den Worten »Juden unter uns« und dem Kommentar »Heute ist so ein schöner Tag! Lala­lala«. Das Verfahren wurde eingestellt.

Als gesichert gilt, dass die drei Verdächtigen sich kennen. Fotos einer Veranstaltung mit dem damaligen Berliner AfD-Landesvorsitzenden Georg Pazderski im September 2016 im Neuköllner Ortsteil Rudow zeigen das damalige AfD-Mitglied P. neben B. und T. Die strategisch motivierte Hinwendung des örtliche Neonazimilieus zur AfD sorgte letztlich für den Zusammenbruch des lokalen NPD-Bezirksverbands. So verwundert es nicht, dass sich immer wieder Angehörige der lokalen Nazikreise auf Veranstaltungen des AfD-Bezirksverbands einfanden, beispielsweise im November 2017, als P. eine Veranstaltung in Neukölln mit den bekannten AfD-Politikern Guido Reil und Andreas Kalbitz organisierte. Neben T. war dort auch Harald B. anwesend. Ein Gericht verurteilte den NPD-Sympathisanten 2014 zu einer Geldstrafe, weil er mit einem Komplizen zwei Schweinekopfhälften vor der Şehitlik-Moschee in Neukölln abgelegt hatten.

Obwohl drei Hauptverdächtige bekannt sind, tappt die Polizei, zumindest was die konkrete Zuordnung der Straftaten betrifft, weiterhin im Dunkeln. Die 2017 eingerichtete Fahndungs­gruppe »Resin« (Rechtsextreme Straf­taten in Neukölln) ermittelte ohne Erfolg. Die Angriffe gehen unvermindert weiter. Im vergangenen Frühjahr tauchten Morddrohungen in Nordneukölln auf, die nach Einschätzung von Bianca Klose von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR), wegen der Auswahl der Opfer sowie der Art der Bedrohungen nur den Schluss zulassen, dass die Taten mit den früheren Schmierereien in Zusammenhang stehen beziehungsweise die rechtsextreme Tatserie fortsetzen. Auf Weisung von Innensenator Andreas Geisel (SPD) übernahm danach die 30köpfige Besondere Aufbauorganisation (BAO) »Fokus« die Ermittlungen. Einziger ­Erfolg der Sonderkommission war bislang die Erweiterung des Kreises der Verdächtigen um eine Person.

Die Ermittler begründen ihre Erfolglosigkeit mit der Professionalität der Täter. So sollen sich diese nicht über SMS oder Whatsapp verabredet und weder in der Kneipe noch im Internet über ihre Aktionen geredet haben. Außerdem habe der Hauptverdächtige T. »wahnsinnig gute Antennen dafür, wann man ihm auf den Fersen ist«, sagte einer der Ermittler der Zeit. Deshalb habe sich die Überwachung ihrer digitalen Kommunikation, das Mitlesen ihrer Chats und das Mitschneiden ihrer Telefongespräche als nutzlos erwiesen.

Bei einer Durchsuchung der Wohnung des Tatverdächtigen Sebastian T. war im Frühjahr 2018 ein Datenträger gefunden worden, dessen schlampige Auswertung Empörung hervorrief. Eine auf der Festplatte befindliche Feindesliste übersahen die Beamten zunächst; erst nach einer weiteren Überprüfung entdeckten sie eine Ordnerstruktur mit der Liste, auf der mehr als 500 Personen aufgeführt waren. Im Berliner Abgeordnetenhaus sorgte vor allem die Tatsache, dass Innensenator Geisel den Bericht den Abgeordneten kurzfristig bereitgestellt hatte und dieser nur im Geheimschutzraum gelesen werden konnte, für Kritik aus der Regierungskoalition und aus der Opposition. Der Innensenator begründete die Geheimhaltung mit den laufenden Ermittlungen. In dem geheimen Bericht seien Ergebnisse enthalten, die die Tatverdächtigen warnen könnten. ­Dabei kursieren die Namen der Tatverdächtigen seit Jahren in den Berliner Medien. Auch Vertreter der Opferverbände kritisieren Geisel. So unterließen es die Behörden, alle Betroffenen darüber zu informieren, dass Neonazis sie ausgespäht hatten. »Der Wunsch der Betroffenen ist es, dass sie endlich diese Informationen erhalten – vollständig und schriftlich, einschließlich der Fotos, die über sie dokumentiert wurden«, sagte Sabine Seyb von der Opferberatung »Reach Out« dem Neuen Deutschland. Es könne nicht allein der Polizei überlassen werden zu entscheiden, wer akut gefährdet sei oder nicht. Auch die Betroffenen müssten Einblick erhalten, um zu beurteilen, »ob für sie, ihre Mitbewohner und ihre Familien noch eine Gefahr bestehen könnte beziehungsweise welche weiteren Schritte sie unternehmen, um die Gefahren zu reduzieren«, so Seyb.

Unter den benannten Personen seien Antifaschisten, Politiker und Behördenmitarbeiter. Nur 30 Personen seien von der Polizei kurzfristig informiert worden, die anderen sollten noch angeschrieben werden. Nach Angaben des Leiters des Berliner Staatsschutzes, André Rauhut, liege bei den meisten Betroffenen keine konkrete Gefährdung vor. Was ihn so sicher macht, bleibt unklar, zumal Daten auch bei der Polizei offensichtlich nicht sicher sind. Im Dezember 2017 versendete ein »Zentrum für politische Korrektheit« an drei linke Lokalitäten in Berlin einen Brief, der auf neun Seiten über 40 Personen aus linken Organisationen namentlich aufzählt. In dem Dokument wird gedroht, die Informationen an Identitäre, an Autonome Nationalisten und an die Polizei weiterzugeben. Wie sich herausstellte, hatte der Polizeikommissar ­Sebastian K. die Briefe verschickt. Gegen den Beamten erließ das Amtsgericht Tiergarten einen Strafbefehl in Höhe von 50 Tagessätzen zu 70 Euro, dem Antifaschistischen Infoblatt zufolge lediglich wegen des Verstoßes gegen das Berliner Datenschutzgesetz.

Ein Betroffener erfuhr erst in diesem Frühjahr davon, dass er sich mit einem Foto aus einer erkennungsdienstlichen Behandlung einschließlich vollem Namen, Gruppenzuordnung und Geburtsjahr auf dieser Liste befand. Der Jungle World bestätigte der Antifaschist, dass er weder vom Staatsschutz noch von anderen Stellen über diese Tatsache informiert worden sei. Das war offenbar kein Einzelfall. Nach dem Urteil des Amtsgerichts gegen Sebastian K. benachrichtigte die Staatsanwaltschaft den Anwalt zweier Betroffener. Diese erstatteten Anzeige. Alle anderen Betroffenen erfuhren nur davon, weil sie von anderen Antifaschisten informiert wurden – nicht von der Polizei.