Die Sharing Economy kommerzialisierte soziale Beziehungen

Das Teilen und das Ganze

Kommentar Von Jörn Schulz

Die kommerzielle Sharing Economy gerät in die Krise. Ob nach der Pandemie ein Zeitalter der Solidarität beginnt, ist jedoch fraglich.

Zu den erstaunlichsten Leistungen unternehmerischer Propaganda gehört es, jahrtausendealte Praktiken als Innovation zu verkaufen. Die Sharing Economy entstand mit Ackerbau und Viehzucht. Bauern teilten sich eine Milchkuh, ein Zugtier oder auch die Arbeitskraft eines Sklaven. Bereits in Babylon gab es Rent-a-slave-Anbieter. Und um die schon damals komplexen wirtschaftlichen Transaktionen zu dokumentieren, teilten sich die Schreiber im Coworking Space ihrer dunklen Kammer das Licht einer Öllampe.

Im Kapitalismus wurden diverse weitere Varianten der Sharing Economy erfunden, lange bevor diese einen Namen bekam. So teilen sich viele Unternehmer ein Kraftwerk, weil nicht jeder eines bauen kann oder möchte, und bringen das Kunststück fertig, die Stromrechnung mit den Kleinverbrauchern so zu teilen, dass diese für die Kilowattstunde aus demselben Kraftwerk wesentlich mehr bezahlen.

Noch immer soll es vorkommen, dass Menschen ihrem Nachbarn einfach so eine Bohrmaschine leihen.

Als besonders verdienstvoll vor den Menschen und Gott galt das Teilen, für das keine Gegenleistung erwartet wurde. Für die milde Gabe steht im Christentum exemplarisch der heilige Martin, der im Winter seinen Mantel mit einem Bettler teilte. Mit jeweils einem halben Mantel haben zwar vermutlich beide gefroren, aber die Geschichte ist ja höchstwahrscheinlich ohnehin erfunden. Die Zuspitzung diente der Verdeutlichung eines auch in anderen Religionen und der säkularen Ethik gängigen moralischen Gebots: Wer etwas übrig hat, das andere dringend brauchen, möge es ihnen zukommen lassen.

Diese Bereitschaft nutzten auch oftmals politische Aktionen. Als in den Jahren um 1970 in westdeutschen Großstädten gegen Preiserhöhungen oder für den Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr gekämpft wurde, ging dies einher mit der Rote-Punkt-Aktion. Autofahrer sollten den Roten Punkt an ihrem Fahrzeug anbringen, »als Zeichen dafür, dass Sie bereit sind, Fahrgäste mitzunehmen«. Dass die Mitfahrgelegenheit umsonst angeboten werden sollte, wurde nicht eigens erwähnt, da man es für selbstverständlich hielt. In Hannover wurden die Roten Punkte sogar von der Stadtverwaltung und der Lokalzeitung verteilt.

Noch immer soll es vorkommen, dass Menschen ihrem Nachbarn einfach so eine Bohrmaschine leihen. Doch schon wegen des Mangels an profitablen Anlagemöglichkeiten war es aus unternehmerischer Sicht fast zwingend, weitere Lebensbereiche zu kommerzialisieren, und aus PR-Gründen war es naheliegend, das Teilen als solidarisch und nachhaltig zu deklarieren. Es ist aber alles andere als solidarisch, prekäre Arbeitsbedingungen zu nutzen, und die Nachhaltigkeit ist, vorsichtig ausgedrückt, nicht nachgewiesen. So stellte das Transportation and Sustainability Research Center der University of California fest, dass Uber-Fahrten mit dem Auto eher anstelle des öffentlichen Nahverkehrs genutzt werden.

Die Coronapandemie könnte nun zum Ende der Sharing Economy führen, zumindest wird sie viele ihrer Branchen dauerhaft schädigen. Vorsicht ist allerdings geboten, wenn nun Linke ein neues Zeitalter der Solidarität prophezeien, denn die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie sind noch nicht absehbar. Solidarität kann sich in Tauschringen zeigen, doch solche aus der Not geborenen Formen der Selbstverwaltung von Armut beruhen auf vorkapitalistischen Austauschformen und sind kaum zukunftsweisend. Auch in den Streiks in Italien und Spanien äußert sich Solidarität, doch handelt es sich bislang um defensive Kämpfe wegen des mangelnden Infektionsschutzes am Arbeitsplatz.

Bemerkenswert ist, dass auch für rechte Regierungen wie die der USA ein Zugriff auf die Produktionsmittel kein Tabu mehr ist. In den Fabriken soll nun hergestellt werden, was dringend gebraucht wird, etwa Beatmungsgeräte und Schutzkleidung. Die Notwendigkeit, die Produktionsmittel dem Akkumulationsregime zu entziehen, war selten so deutlich erkennbar – allerdings merken das wohl fast nur Linke. Die Dominanz der wirtschaftsliberalen Ideologie ist noch nicht gebrochen.