Klassenpolitik muss von unten kommen

Es rettet uns kein höheres Wesen

Disko Von Christopher Wimmer

Der Klassenkampf braucht Selbstorganisierung, um erfolgreich zu sein. Ansätze dazu gibt es bereits.


Wie kann sich die Linke im neuen Jahrzehnt ­orientieren? Soll sie sich auf ­Sozialpolitik in den Parlamenten oder auf neue soziale Bewegungen mit Massenprotesten konzen­trieren? Johannes Simon kritisierte den populistischen Versuch der Sammlungs­bewegung  »Aufstehen«  ­(»Jungle World« 2/2020), Martin Brandt das Konzept der »neuen Klassenpolitik« (3/2020). Lothar Galow-Bergemann richtet den Blick (4/2020) zurück auf die konkrete Frage der Arbeitszeitverkürzung.

 

In Chile brennen Barrikaden. Menschen sterben bei sozialen Unruhen im Irak und im Iran. Und auch in Deutschland tobt der Klassenkampf – jedoch verdeckter. Mit Hartz IV oder Armutsrenten wird er in erster Linie von oben ­geführt; Gegenmacht von unten findet sich nur vereinzelt. Zwar beschäftigen sich sozialwissenschaftliche Debatten zurzeit verstärkt mit einer »Neuen Klassenpolitik«, politischen Charakter haben sie jedoch kaum gewonnen. Die Frage, wie sich die Linke im neuen Jahrzehnt orientieren und organisieren soll, bleibt offen.

Johannes Simon setzte sich in seinem Beitrag (Jungle World 2/2020) mit dem Sozialpopulismus des Projekts »Aufstehen« auseinander. Martin Brandt (Jungle World 3/2020) kritisierte Simon dahingehend, dass Organisierungs- und Strategiefragen der Linken sich immer noch zu sehr auf die Arbeiterklasse bezögen. Er kommt zu dem Schluss, dass der Fokus auf diese »sowie ein davon abgeleitetes Arbeiterinteresse (…) notwendig auf den kapitalistischen Rahmen bezogen bleiben müssen. Diesen kann das Arbeiterinteresse nicht von sich aus überwinden.« Ihm zufolge soll daher die Einsicht in die Strukturen der Ausbeutung folgen. Klassenkampf ade?

Die Bewegungen sind selten geplant und koordiniert, meist spontan und unvorher­gesehen. Das Fehlen einer hierarchischen Struktur aus zeichnet sie aus.

Es stimmt ja, sobald der Klassenkampf nur nach rein ökonomischen Kriterien geführt wird, unterwirft er sich der Eigenlogik des Kapitals und trägt letztlich nur zu dessen Reproduktion bei. Das Proletariat ist hauptsächlich Produktivkraft und ein Teil der kapitalistischen Welt. Diese Art des Klassenkampfs bleibt systemimmanent, die Klassenzugehörigkeit verändert sich nicht: Die Arbeiter bleiben – auch mit besseren Arbeitsbedingungen oder mehr Urlaub – Arbeiter. Somit hat Lothar Galow-Bergemann in seinem Beitrag recht (Jungle World 4/2020), wenn er schreibt, dass der »Klassenkampf eine Nummer zu klein« sei für die notwendigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

Es muss dennoch Aufgabe der radikalen Linken sein, diesen Platzierungsraum der Klassen selbst zum Verschwinden zu bringen. Es ist vor allem den Theoretikern der neomarxistischen Strömung des Operaismus zu verdanken, den Begriff der Klasse einer zur Ökonomiekritik erstarrten linken Theorie und Praxis entrissen und repolitisiert zu haben. Sobald sich Beschäftigte einer Fabrik, eines Kindergartens oder eines gesamten Sektors zusammentun, wächst ihre politische Macht. Diese Erkenntnis ist so alt wie richtig. Wenn sich die Arbeiterinnen und Arbeiter als Klasse erkennen, wird es ihnen darüber hinaus jedoch möglich, kollektiv in Opposition zum Lohnarbeitsverhältnis zu treten. Die Kämpfe um die Arbeit transformieren sich zu Kämpfen gegen die Arbeit.

Während sich der klassische Klassenkampf an der Arbeitsteilung orientiert, behandelt der Klassenkampf als revolutionäre Theorie und Praxis das ganze Leben, der Klassengegensatz wird aus dem Produktionsprozess befreit. Was heißt das konkret? Die lebendige Arbeit lässt sich nie vollumfänglich in das ökonomische System integrieren, diese grundsätzliche Dimension des Klassenkampfs bleibt erhalten. Sie lässt sich aber nur vom Standpunkt des Politischen aus denken. Der Klassenkampf in diesem Sinn wird auch und vor allem ­gegen den Klassenkampf im eingehegten Sinn (der Parteien und Verbände) geführt. Solange er den bestehenden Organisationen verhaftet bleibt, geschieht mit ihm das Gleiche wie mit den ausschließlich ökonomischen Kämpfen: Er reproduziert nur die Bedingungen seiner Niederlage. Nachdem die Indignados und Nuit Debout 2016 verstärkt Verfassungsreformen gefordert und damit das Feld der repräsentativen Demokratie betreten hatten, brachen diese Bewegungen in sich zusammen. Podemos, Syriza und La France insoumise sind parteiförmige Zusammenschlüsse dieser Politik.

Somit gewinnen die politische Taktik und die konkreten Kämpfen an Bedeutung. Von Nordafrika über Griechenland und Frankreich bis nach Chile kommen Jugendliche, Abgehängte, Frauen, Migranten und militante Teilen der Arbeiterklasse zusammen, um miteinander neue Beziehungen einzugehen und verschiedene Formen des Protests auf die Straße zu bringen. Die Bewegungen sind selten geplant und koordiniert, meist spontan und unvorhergesehen. Das Fehlen einer hierarchischen Struktur zeichnet sie aus.

Kein sozialdemokratisches oder leninistisches Programm greift. Die vielfältigen Aufstände all jener Ausgebeuteten und Unterdrückten, die nichts zu sagen und keinen Einfluss auf den Gang der Dinge haben, zeugen davon, dass sich die Menschen mit den gegebenen Zuständen nicht mehr abfinden wollen.

Ihre Gegnerschaft zum Bestehenden zeigt sich im Aufstand. Darin haben sie ihre Artikulationsform, ihre Sprache gefunden, und somit stehen Streiks, ­Revolten, Mobilisierungen gegen die Finanzindustrie, Besetzungen und ­Auseinandersetzungen mit der Polizei auf der Tagesordnung. In Spanien ­wurden Zwangsräumungen verhindert, Arbeitslose und Landarbeiter plünderten Supermärkte. Die »Gelbwesten« zogen in Paris durch die Luxusviertel und verwüsteten diese. In Santiago de Chile wurde in einem Hauptquartier eines Energiekonzerns Feuer gelegt. Solche Aktionen sind Teil des Klassenkampfs und bringen ­zusammen mit Stadtteilversammlungen, Demonstrationen oder direkten Aktionen die Frage nach einer wirklichen Alternative auf die Tagesordnung. So erregen sie das Interesse der Menschen, die der Wunsch nach einer eigenen Stimme und einem würdevollen Leben eint.

Den Bewegungen ist zudem gemeinsam, dass sie sich nicht mehr auf die Produktion und die Fabrik als Ort des Widerstands beschränken. Die Zirkulation rückt ins Zentrum. Es geht um die ­Verteilung und die Konsumtion von Waren. Dabei ergreift die Revolte das gesamte Leben. Der Gegensatz zwischen Aufstand und Alltag wird überwunden, das Leben selbst wird zum Aufstand und neue Verbindungen werden möglich.

Dafür stand unter anderem der neuartige Cortège de Tête bei den Protesten gegen das Arbeitsgesetz 2016 in Frankreich. Dort bildeten Arbeiterinnen und Arbeiter zusammen mit den Teilnehmern von Nuit Debout einen Frontblock auf den Demonstrationen. In Quebec schaffte es die Studierendenbewegung, ihren Kampf gegen Studiengebühren auf die gesamte Stadtgesellschaft auszuweiten und ein Programm gegen neoliberale Politik zu formulieren. Dabei entwickelt sich im produktiven Chaos auf der Straße eine neue Art der Kommunikation. Der Aufstand und die Unordnung werden zur neuen Normalität.
Diesen Bewegungen als Linke nun mit dem Gestus der Überheblichkeit der gut ausgebildeten Revolutionäre zu begegnen und deren Uneindeutigkeit oder Destruktivität zu kritisieren, führt nur zu größerer Isolation der Linken. Jeder weitere Ratschlag, jeder weitere Zeitungsartikel bleibt Phrase, wenn er nicht zu konkreten Kämpfen etwas beiträgt.

Der Klassenkampf braucht Selbstorganisierung. Praktiken der Massenillegalität wie Hausbesetzungen, Sabotage oder Diebstähle benötigen Koordination, wollen sie den Angriffen der staatlichen und ökonomischen Gewalt standhalten. Dafür bedarf es einer neuen Form der Vernetzung und Organisation, die Bedingungen ermöglicht, unter denen Menschen den Weg des kollektiven Widerstands wählen und die herrschende Ordnung radikal herausfordern.

In den gegenwärtigen Bewegungen zeigt sich dies in Ansätzen: So werden Ausgangssperren nicht mehr respektiert und die Gegnerschaft zu Polizei und Militär wächst. Die Menschen ­finden sich in Stadtteilversammlungen und Basisgruppen. Es liegt nahe, das Konzept der Räte zu aktualisieren. Eine solche antikapitalistische Organisierung kann jedoch nur »eine Ordnung im Dienste der Unordnung« sein, wie es Alain Badiou einst nannte. Für den Kapitalismus ist diese Unordnung der Klassenkampf von unten. Welche Möglichkeiten sich dort für emanzipatorische Kräfte bieten, findet man heraus, indem man sich versucht. Dabei gilt es, sich von lange liebgewonnen Sicherheiten zu verabschieden – der Rahmen des Legalismus ist nicht naturgegeben und nicht um jeden Preis zu wahren – und dorthin zu gehen, wo es wehtut: zur herrschenden Klasse.

Eine Langfassung des Textes erscheint im März im Sammelband »Where Have All the Rebels Gone?« im Unrast-Verlag.