Das Krisenmanagement zur Eindämmung des Coronavirus ruft in China Kritik hervor

Die Virenbande bekämpfen

Das Krisenmanagement zur Eindämmung des Coronavirus ruft in China Kritik hervor. Diese wird meist unterdrückt, nur an der Lokalregierung der betroffenen Stadt Wuhan und der Provinz Hubei wird sie in Maßen zugelassen, um die Zentralregierung zu entlasten.

Für viele es ist der wichtigste Feiertag des Jahres: China beging vergangene Woche das Frühlingsfest oder Mondneujahr. Am Neujahrsabend strahlt das Staatsfernsehen traditionell eine Frühlingsgala aus, das Programm ist eine Mischung aus Comedy, Musik und nationalistischer Propaganda. Mit über einer Milliarde Zuschauern ist es jedes Jahr eines der größten Fernseh­ereignisse nicht nur in China, sondern weltweit. Dieses Jahr wurde der Gala kurzfristig ein weiterer Programmpunkt hinzugefügt: eine Ermutigungseinlage für die mit dem Coronavirus infizierten Personen und die unter Quarantäne gestellten Einwohnerinnen und Einwohner der zentralchinesischen Millionenstadt Wuhan. Sechs bekannte Moderatoren und Nachrichtensprecher des Staatssenders CCTV bekundeten einer nach dem anderen ihre Unterstützung für die »Engel in Weiß« und die in der Provinz Hubei eingeschlossenen Menschen. Diese seien nicht allein, das ganze Land stehe hinter ihnen, so eine der Moderatorinnen. Ihr Kollege beschwor eine globale Schicksalsgemeinschaft und rief die Staaten der Welt dazu auf, China zu vertrauen, dann werde schon alles gut werden. Unter der »entschlossenen Führung der Parteizentrale« werde man den Kampf gegen das Virus mit Sicherheit gewinnen.

Die Abschottung einer Millionen­stadt wie Wuhan ist in der Geschichte der Volksrepublik ohne Beispiel und sorgte für panische Reaktionen in der Bevölkerung.

Von einem entschlossenen Krisenmanagement konnte allerdings bis vor kurzem keine Rede sein. Noch am ­selben Tag, dem 24. Januar, hatte die Chinesische Volkszeitung, die offizielle Zeitung der Kommunistischen Partei Chinas, einen Artikel über die neuesten Entwicklungen in Wuhan ans Ende der Seite vier verbannt, hinter eine Reihe euphorischer Berichte über die Arbeit der Partei und die landesweiten Vorbereitungen auf das Frühlingsfest. Tatsächlich reagierte die Zentralregierung erst sehr spät auf die eskalierende Situation in und um Wuhan. Auch die in der Nacht zum 23. Januar kurzfristig angeordnete Quarantäne konnte die Verbreitung des Virus nicht mehr verhindern. Auf einer am Sonntag ein­berufenen Pressekonferenz musste Zhou Xianwang, der Bürgermeister Wuhans, zugeben, dass vor der Quarantäne bereits fünf Millionen Menschen die Stadt verlassen hatten, fast die Hälfte der elf Millionen Einwohner. Die meisten von ihnen sind wohl schon früh in ihre Herkunftsdörfer zurückgekehrt, um die Feiertage mit der Familie zu verbringen. Einige nutzten aber auch die acht Stunden zwischen der Ausrufung und dem Inkrafttreten der Quarantäne, um aus der Stadt zu fliehen.

Einer im Medizinjournal The Lancet veröffentlichten Studie chinesischer Forscher zufolge traten bereits am 1. Dezember beim ersten bekannten Patienten Symptome des neuartigen Coronavirus auf. Erst einen Monat später ­informierten die chinesischen Behörden die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über die zu dem Zeitpunkt bekannten 27 Fälle. Es dauerte weitere drei Wochen, bis die Zentralregierung die Schwere der Situation erkannte und Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ergriff. In der Zwischenzeit verpassten lokale Behörden Ärzten und Pflegepersonal in den betroffenen Gebieten ein Redeverbot und drohten mit Strafen, sollten Informationen über die Ausbreitung der Lungenkrankheit an Medien gegeben oder online geteilt werden. So wurden am 1. Januar acht Internetnutzer von der Polizei in Wuhan beschuldigt, falsche Informationen über das Virus verbreitet und die Gefahr schlimmer dargestellt zu haben, als sie sei. Das ist eine Standardanschuldigung, um ­öffentliche Kritik an der Regierung bereits im Keim zu ersticken.

Wegen der Nachrichtensperre und der Unterdrückung von Online-Diskussionen kam die Quarantäneanordnung für viele Anwohnerinnen und Anwohner völlig überraschend. Die Abschottung einer Millionenstadt wie Wuhan ist in der Geschichte der Volksrepublik ohne Beispiel und sorgte für panische Reaktionen in der Bevölkerung. Vor allem in den ersten Tagen der Quarantäne zwängten sich Erkrankte massenhaft in die überfüllten Gänge der lokalen Krankenhäuser – ein perfekter Nährboden für eine rasante Ausbreitung ­einer Viruserkrankung. Gleichzeitig sorgten Hamsterkäufe dafür, dass Mundschutze und viele Lebensmittel schnell ausverkauft waren.

Das Problem erst zu leugnen und dann zu »extremen Maßnahmen« zu greifen, wenn es zu groß wird, sei ­»typisch für das autoritäre Regime«, so der Soziologe Ho-Fung Hung von der John Hopkins University zur Jungle World. So sei die Gelegenheit versäumt worden, die Ausbreitung des Virus früh abzuhalten, während der Nutzen der Quarantäne nach der Verbreitung der Krankheit zweifelhaft sei.

Der Pekinger Anwalt Chen Qiushi beschreibt in seinem Videoblog, wie er die Lage vor Ort erlebt. Er hält sich dabei auch mit Kritik an der Regierung nicht zurück. In einer Chat-Gruppe von Anwohnerinnen und Anwohnern versuchte Chen am Wochenende eine Hilfslieferung nach Wuhan zu organisieren, die erhoffte Unterstützung blieb jedoch aus. Keines der über 100 Gruppenmitglieder war bereit, die Hilfslieferung stellvertretend entgegenzunehmen. Die Gesellschaft Chinas sei wie ein Teller Sand, ohne jegliche Kohäsion, so Chen in einem am Montagmorgen veröffentlichten Video. Dies hänge auch damit zusammen, dass die chinesische Regierung gesellschaftliche Selbst­organisation ablehne und unterdrücke. Chen war am Neujahrsabend mit einem der letzten Schnellzüge nach Wuhan gereist und berichtet seitdem als Bürgerreporter von dort.

Patrick Poon, ein China-Experte von Amnesty International, beobachtet die Lage in Wuhan derweil über die sozialen Medien. »Auf Twitter berichten viele Personen aus Wuhan davon, dass sie sich von der Regierung alleingelassen fühlen«, sagt Poon der Jungle World. Nicht nur Wuhan sei mittlerweile wie eine Geisterstadt, auch die Situation in der näheren Umgebung sei sehr besorgniserregend. »Viele Bewohner gehen große Risiken ein, um die Wahrheit über die Situation vor Ort aufzudecken.« Ohne die sogenannte Great Firewall, das chinesische Programm zur Internetüberwachung und -zensur, zu umgehen, könne der einfache Bürger kaum etwas über die tatsächliche Situ­ation in Erfahrung bringen.

Dennoch nutzen viele Menschen auch chinesische soziale Medien, um ihren Sorgen und ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Vor allem die Kritik am Krisenmanagement des Bürgermeisters von Wuhan und des Gouverneurs der Provinz Hubei wird immer lauter. Aber warum lassen Chinas sonst so strenge Zensoren Kritik an der Lokalregierung überhaupt zu? Poon glaubt, dass die laxe Haltung der Behörden nur vorübergehend sei. Die Regierung sei derzeit zu sehr damit beschäftigt, die Ausbreitung des ­Virus einzudämmen, und komme mit dem Löschen von Inhalten nicht hinterher.

Vieles deutet darauf hin, dass Xi Jinping, der chinesische Staatspräsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei, bereit ist, die Lokalregierung für das anfangs mangelhafte Krisenmanagement verantwortlich zu machen. In einem Interview mit dem Staatsfern­sehen hat Bürgermeister Zhou bereits schwere Fehler eingeräumt. Xi, der ­üblicherweise für sein Mikromanagement bekannt ist, versucht derweil, sich vor Kritik zu schützen. Die am Sonntag ins Leben gerufene Führungsgruppe zur Bekämpfung des Coronavirus untersteht daher nicht etwa ihm selbst, sondern der gemeinsamen Führung des Ständigen Ausschusses des Politbüros unter Vorsitz des Ministerpräsidenten Li Keqiang. Dieser hatte unter der Führung Xis bisher weit­gehend ein Schattendasein geführt. Für Xi sei die Rollenverteilung nützlich, urteilt Ho-fung Hung, doch habe nur dieser »die höchste Autorität, alles Notwendige anzuordnen«.

Auch wenn die chinesischen Behörden derzeit Kritik in Maßen zulassen, so erinnert Poon doch daran, dass China in der Vergangenheit oft auf einen passenden Moment gewartet habe, um mit seinen politischen Gegnern abzurechnen: »Ob Kritiker diesmal bestraft werden, bleibt abzuwarten.«

Coronaviren können eine schwere Erkältung, Bronchitis oder Lungenentzündung verursachen. Die Lungenkrankheit Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom (SARS) geht ebenfalls auf Coronaviren zurück. An der SARS-Pandemie 2002/2003, die in Südchina begann, starben weltweit 774 Menschen. Die WHO bezeichnet das neuartige, für den jüngsten Ausbruch verantwortliche Coronavirus als 2019-nCoV. Bis Anfang dieser Woche sollen mindestens 100 Menschen daran gestorben sein, über 4 500 gelten als infiziert.