Die Verhandlungen über eine Waffenruhe in Libyen verzögern sich

Auf die internationale Solidarität!

Während Russland und die Türkei offen im libyschen Bürgerkrieg intervenieren, scheinen die EU und die USA in dem Konflikt marginalisiert zu werden.

In naher Zukunft möchte die Bundesregierung eine bereits mehrmals verschobene »internationale Libyen-Konferenz« in Deutschland organisieren. Als Datum ist der 19. Januar im Gespräch. Dabei sollen sich die Konfliktparteien des Landes, das seit 2012 in einen Bürgerkrieg abglitt, versammeln und eine Lösung zu dessen Beendigung aushandeln. Gelingt es Deutschland, sich in der Libyen-Frage als »ehrlicher Makler« zu inszenieren? Angesichts der fortschreitenden Internationalisierung des Konflikts, vor allem durch die offenen Interventionen Russlands und der Türkei in den vergangenen Wochen und Monaten, und angesichts der Uneinigkeit der EU in dieser Frage deutet wenig darauf hin.

Der UN-Sondergesandte Ghassan Salamé sagte im Dezember, die Einmischung ausländischer Mächte in Libyen sei das größte Hindernis für Frieden in dem Land.

Der innerlibysche bewaffnete Konflikt begann wenige Monate nach der Ermordung des langjährigen Staatschefs und »Revolutionsführers« Muammar al-Gaddafi im Oktober 2011, der das Land von 1969 bis zu seinem erzwungenen Abgang im August 2011 mit eigenwilligen Methoden und abenteuerlichen ideologischen Kurswechseln regiert hatte. Da in Libyen nicht eine zivile Massenbewegung wie im Nachbarland Tunesien, sondern bewaffnete Rebellengruppen mit französischer und britischer militärischer Luftunterstützung den Sturz des alten Regimes herbeiführten, vor allem aber wegen der faktischen Implosion des Zentralstaats kam es zu zentrifugalen Tendenzen. Gaddafi hatte überkommene tribale Strukturen als Organisationsform der Gesellschaft reaktiviert, nachdem er alle Parteien und unabhängigen Organisationen verboten hatte. Das Regime verfügte seit deren Auflösung Mitte der siebziger Jahre nicht einmal über eine Staatspartei.

Viele der Milizen, die an der Rebellion gegen das Gaddafi-Regime teilnahmen, weigerten sich, ihre Waffen abzugeben. Einige von ihnen wiesen eine islamistische Tendenz auf, andere verfolgten eher regionalistische Ziele. Seit 2014 und der gerichtlichen Annullierung der zweiten Parlamentswahl nach Gaddafis Tod standen sich ferner ein Parlament und eine Regierung in Westlibyen, in der Hauptstadt Tripolis, sowie ein weiteres Parlament und eine Regierung im ostlibyschen Tobruk gegenüber. Infolge eines durch die UN vermittelten Verhandlungsprozesses im marokkanischen Skhirat wurde 2016 eine »Einheitsregierung« (GNA) gebildet, die im Frühjahr jenes Jahres in Tripolis Einzug hielt.

Die Regierung in Tobruk hielt ihre Strukturen jedoch aufrecht. Mittlerweile waren der General und später zum Marschall ernannte Khalifa Haftar, der ab 2013 zunächst jihadistische Gruppen sowie separatistische Kräfte im Raum Bengasi bekämpfte und seinen Einfluss ausweitete, zu ihrem starken Mann und Kommandeur ihres militärischen Arms geworden. Haftar hat auch eine salafistische Strömung, die mit Saudi-Arabien – einem seiner Unterstützer – verbündeten Makhdalisten, als Hilfstruppe in seine »Libysche Nationalarmee« eingegliedert. In Westlibyen stützt sich die in Tripolis an­sässige Regierung ihrerseits auf Milizen, zum Teil mit islamistischer Tendenz, und an dieser Regierung ist eine den Muslimbrüdern nahestehende Fraktion beteiligt. Diese Kräfte wurden von Anfang an von Katar und im Laufe der Jahre vermehrt von der Türkei, Haftar hingegen von den Golfstaaten und Ägypten unterstützt.

Mit Haftars Offensive auf Tripolis seit Anfang April vorigen Jahres (Jungle World 29/2019) trat der Bürgerkrieg in eine neue Phase ein. Im September intervenierten auf Haftars Seite einige Hundert Söldner aus Russland, was seiner ins Stocken geratenen Offensive auf Tripolis neuen Schwung verlieh. Im Dezember 2019 veröffentlichten die UN einen Bericht, dem zufolge UN-Mitgliedstaaten systematisch das über ­Libyen verhängte Waffenembargo verletzten. UN-Angaben zufolge beliefern die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien und Ägypten die Truppen Haftars, während die Türkei die Regierung Sarraj mit Waffen versorgt. Der UN-Sondergesandte Ghassan Salamé sagte, die Einmischung ausländischer Mächte in Libyen sei das größte Hindernis für Frieden in dem Land, wegen der Uneinigkeit des UN-Sicherheitsrats sei die UN sei nicht einmal in der Lage gewesen, zu einem Waffenstillstand aufzurufen, obwohl die Lage in Libyen 15 Mal debattiert worden sei.

Anfang Januar stimmte das türkische Parlament einer zunächst auf ein Jahr begrenzten türkischen Militärintervention in Libyen zu. Ein durch die Türkei und Russland, zwei sich in Libyen in den Vordergrund drängende Mächte, vermittelter Waffenstillstand sollte dem militärischen Konflikt daraufhin ein Ende setzen. Die Waffenruhe trat am Sonntag in Kraft und wurde zunächst weitgehend eingehalten. Am Samstag traf in Moskau die deutsche Kanzlerin Angela Merkel Russlands Präsidenten Wladimir Putin, der einer Beteiligung an dem sogenannten Berlin-Prozess zustimmte. Dieser sollte bereits in den Monaten zuvor eine Einigung im libyschen Bürgerkrieg ermöglichen, führte jedoch zu nichts. Der FPD-Politiker Bijan Djir-Sarai brachte die neue Lage mit den Worten auf den Punkt, früher habe man in solchen Fällen »in Washington angerufen«, doch »heute müssen Sie in Moskau anrufen«.

Seit dem Ende der Herrschaft Gaddafis waren zudem machtpolitische Rivalitäten zwischen Staaten der Europäischen Union aufgebrochen. Italien versucht, Einfluss auf die westlibysche Regierung Sarraj zu bewahren. Innerhalb der EU war es in den vergangenen Monaten vor allem die italienische Regierung, die an der Regierung Sarraj in Tripolis festhielt, während insbesondere Frankreich Haftar hofierte. Präsident Emmanuel Macron hatte Haftar als erster westlicher Staatsmann empfangen, im Juli 2017 zu einem Gipfel zusammen mit Sarraj in La Celle-Saint-Cloud bei Paris, und ihn dadurch diplomatisch aufgewertet. Bereits unter Macrons Amtsvorgänger François Hollande folgte die französische Exekutive dieser Linie. Im Juli 2016 stürzte ein Hubschrauber von Haftars Armee ab, dabei starben auch drei französische Elitesoldaten, die für den französischen Auslandsgeheimdienst DGSE arbeiteten. Drei weitere DGSE-Mitarbeiter kamen im Oktober 2016 beim Unfall eines Aufklärungsflugzeugs beim Start von Malta nach Ostlibyen ums Leben. Die französische Regierung musste damals zugeben, mit Haftar und seiner Truppe nachrichtendienstlich zusammenzuarbeiten. Hollandes Verteidigungsminister war damals Jean-Yves Le Drian, er ist mittlerweile Macrons Außenminister.

Hingegen empfing Italiens damaliger und – trotz eines Koalitionswechsels – derzeitiger Ministerpräsident ­Giuseppe Conti am 16. April vorigen Jahres in Rom den Berater des GNA-Ministerpräsidenten al-Sarraj, Ahmet Meetig, und den katarischen Außenminister Mohammed bin Abdulrahman al-Thani, was eine klare Präferenz für die andere Fraktion im libyschen Bürgerkrieg beweist. Während Frankreichs Staatsspitze davon ausgeht, es sei realistisch, auf Haftar als künftigen »starken Mann« zu setzen, und die Terrorismusbekämpfung bei ihm in guten Händen sieht, zieht Ita­liens Regierung die offiziell durch die sogenannte internationale Gemeinschaft anerkannte GNA als Partnerin bei der Migrationsabwehr vor.

Am Dienstagabend vergangener Woche traf der italienische Außenminister Luigi Di Maio von der Retortenpartei »Fünf-Sterne-Bewegung« (M5S) in Istanbul mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu zusammen. Kurz vor diesem Treffen sagte er am Nachmittag bei einer Pressekonferenz in Brüssel, es sei entscheidend, in Sachen Libyen mit wichtigen Partnern wie den USA, aber auch Russland, Ägypten und der Türkei im Gespräch zu bleiben, »mit allen Akteuren, die einen Einfluss in Libyen ausüben können, um zusammen eine Lösung zu finden«. Zugleich warf er nicht benannten Ländern vor, in den libyschen Bürgerkrieg einzugreifen und diesen in einen Stellvertreterkrieg zu verwandeln. Auf Nachfrage hin weigerte sich Di Maio zu präzisieren, ob er diese Frage der äußeren Einmischung auch im Gespräch mit dem türkischen Außenminister anschneiden werde.

Im Laufe des folgenden Tags trafen die Außenminister Italiens, Frankreichs, Griechenlands, Zyperns und Ägyptens in Kairo zusammen. Griechenland und Zypern bilden dabei in gewisser Weise ein Gegengewicht zueinem Bündnis der Türkei und Katars mit der GNA, da die türkischen Ambitionen zur Erdgasförderung im östlichen Mittelmeer in eklatantem Gegensatz zu Interessen Griechenlands, Zyperns sowie Israels stehen.

Di Maio brachte bei seiner Pressekonferenz in Brüssel die USA neben Russland und den beiden von ihm genannten Regionalmächten wohl auch deswegen ins Gespräch, weil er sich verspricht, die US-Regierung könne in der derzeitigen Situation eher die Türkei unterstützen. US-Präsident Trump hatte sich nach einem Treffen mit dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis geweigert, mit diesem an einer Pressekonferenz teilzunehmen. Auch vermied er tunlichst jegliche gegen die Türkei gerichtete öffentliche Erklärung.

Am Sonntag trat der durch Russland und die Türkei angeregte Waffenstillstand in Kraft, den Khalifa Haftar zuvor zunächst abgelehnt hatte. Haftar hätte in Moskau eine Waffenstillstandsvereinbarung unterzeichnen sollen, doch am Dienstagmorgen wurde bekannt, dass er ohne eine solche Unterschrift aus Moskau abgereist war. Der starke Mann in Ostlibyen möchte sich offenbar auch von auswärtigen Unterstützermächten nicht unter Druck setzen lassen. Umgehend drohte Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Ankara: »Wir werden nicht zögern, dem Putschisten Haftar eine verdiente Lektion zu erteilen, wenn er die Angriffe auf die legitime Regierung des Landes und unsere Brüder in Libyen fortsetzt.«

Realistischerweise warnte die französische Zeitung Le Monde kürzlich in einem Editorial: »Wenn eine gemeinsame türkisch-russische Herrschaft sich in Libyen durchsetzt, genau so wie es im Norden Syriens geschehen ist, wird Europa, das von seinem Logenplatz aus zusieht, den Preis seines eigenen Versagens zahlen.«