Brexit und der Rassismus

Ärmer, aber weiß

Kommentar Von Jörn Schulz

Wenn das Ressentiment über die Vernunft siegt: Ein EU-Austritt wäre für das Vereinigte Königreich wirtschaftlich desaströs, doch dafür gäbe es weniger Ausländer.

Es ist noch gar nicht so lange her, da stand Konservatismus für Realitätssinn und Anstand, ja sogar intellektuellen Skeptizismus. Keineswegs immer zu Recht, aber in früheren Zeiten hätte die Führung einer konservativen Partei allzu unseriöse Politiker rechtzeitig auf ­einen Platz gedrängt, an dem sie wenig Schaden anrichten können. Nun aber gilt es in Großbritannien schon fast als Sensation, dass Premierminister Boris Johnson sich an das Gesetz gehalten und brieflich einen Aufschub des EU-Austritts beantragt hat – nicht ohne durch die Verweigerung seiner Unterschrift ein Zeichen spätpubertärer Bockigkeit zu setzen.

Eine Reihe von Fehleinschätzungen hat Großbritannien in die politische Krise manövriert. Zunächst wollte David Cameron den EU-kritischen Flügel der Tories zur Räson bringen und setzte deshalb 2016 ein Referendum an, bei dem die Briten und Britinnen bestätigen sollten, dass sie in der EU zu bleiben wünschen. Doch eine knappe Mehrheit stimmte für den Austritt und stärkte damit den EU-kritischen Flügel der Tories. Camerons Nachfolgerin Theresa May war mit ihrer knappen Mehrheit im Unterhaus nicht zufrieden und setzte 2017 Neuwahlen an. Die Tories verloren ihre Mehrheit und sind seitdem auf die Stimmen der nordirischen DUP an­gewiesen. Schließlich wollte Mays Nachfolger Johnson mit dubiosen Verfahrenstricks, demagogischer Hetze und leicht durchschau­baren Erpressungsversuchen einen EU-Austritt zum 31. Oktober erzwingen. Das Ergebnis ist eine Serie von Abstimmungen im Unterhaus, die, falls Johnson Erfolg haben und den von ihm ausgehandelten Vertrag durchbringen sollte, Nordirland ökonomisch von Großbritannien trennen werden.

Ob man das Spektakel des nicht endend wollenden Austrittsprozesses nun mit Belustigung oder Verzweiflung beobachtet – es gerät derzeit leicht in Vergessenheit, worum es eigentlich geht. Die auf eine mehr als 300jährige Tradition zurückblickenden Tories haben aus Camerons Fehlkalkulation ein ideologisches Prinzip gemacht und wollen nun um jeden Preis den EU-Austritt durchsetzen. Der ökonomische Schaden wird immens sein, wie auch die Unternehmerverbände betonen. Der außenpolitische Einfluss Großbritanniens wird ebenfalls sinken. Oder auch der von England und Wales, denn in Schottland wird der Wunsch nach Unabhängigkeit wieder stärker. Das scheint die Konservativen erstaunlich wenig zu stören.

 

Postimperiale Traumtänzerei spielt hier eine Rolle, das zeigte die wohl oft echte Verwunderung über die Bedeutung, die die EU den ­Interessen Irlands beimisst. Zudem gibt es unter den Tories Marktextremisten, denen selbst die wirtschaftsliberalen Möglichkeiten, die der Vertrag von Lissabon bietet, nicht unternehmerfreundlich genug sind. Doch auch dies ist eher ein ideologisches Programm zur noch härteren Züchtigung der Arbeiterklasse als eine Strategie zur Wiedererlangung nationale Größe, denn dem bereits unter Margaret Thatcher recht erfolgreich deindustrialisierten Großbritannien fehlt die produktive Basis; Niedriglöhne allein machen ein Land nicht wettbewerbsfähig. Ohnehin müssen britische Exporteure sich an die Normen der Importeure, also auch nach einem Austritt nicht zuletzt der EU, halten. Die »nationale Souveränität« ist in ökonomischer Hinsicht im globalisierten Kapitalismus ein Mythos.

Nicht aber in der Migrationspolitik. Die Zuwanderung einschränken zu können, war neben fake news über angebliche Einsparungen durch einen EU-Austritt das wichtigste Argument der »Brexiters«. Hier trifft sich das Ressentiment einer weißen Oberschicht, die ihre Privilegien verteidigt, mit dem von weißen Arbeitern, Angestellten und Arbeitslosen, die, wenn sie schon ihr Einkommen und ihre sozialen Errungenschaften verlieren, wenigstens ihren Status erhalten wollen. Hinzu kommt in diesem patriarchalen Milieu wohl eine gewisse Freude auf die kommenden harten Zeiten, die man als ­Bewährungsprobe für eine verweichlichte Nation betrachtet.

Auch arme Leute können auf Kosten ihres Wohlstands für ihre Werte eintreten – und das können die falschen Werte sein. Die Labour-Partei wagt nicht, dem reaktionären Milieu unter ihren Wählern und Wählerinnen offen entgegen- oder propagandistisch gegenüberzutreten. Doch die von der Partei propagierte Sozialpolitik durchzusetzen, ist eine Machtfrage. Mit der einem EU-Austritt folgenden Rezession wird der Druck auf die Lohnabhängigen steigen, und die Gewerkschaften sind schwach. Jeremy Corbyns Granteln aber wird die Bourgeoisie nicht beeindrucken. Beim derzeitigen Kräfteverhältnis im Klassenkampf sind die Regeln der EU kein Hindernis für den sozialen Fortschritt, sondern eine Absicherung gegen Marktextremismus und Unternehmerwillkür.