Der Comic »Wir ­waren Charlie« von Luz

Charlie auf der Netzhaut

Der Zeichner Luz hat mit der Graphic Novel »Wir waren Charlie« ein Requiem für seine ermordeten Kollegen von Charlie Hebdo geschaffen. Zugleich korrigiert er das Bild, das nach dem Terroranschlag von dem französischen Satiremagazin verbreitet wurde.

Du benutzt deine Augenlider wie die Blende einer Kamera und die Netzhaut als Camera Obscura«, erklärt Luz seinem Kollegen Cabu seine ganz besondere Technik. Man schließt die Augen und nutzt das Nachbild auf der Netzhaut als Ausgangspunkt für eine erste flüchtige Skizze. »Nach und nach rekonstruierst du dann die Figur.« Der Wunsch, das Flüch­tige und Vergängliche festzuhalten und vor dem Verschwinden zu bewahren, spielt eine wichtige Rolle in der Graphic Novel »Wir waren Charlie« des französischen Zeichners Rénald Luzier, besser bekannt unter seinem Kürzel Luz.

»›Charlie Hebdo‹ war plötzlich der Bannerträger für irgendetwas, für etwas, das andere in uns sehen wollten. Aber ganz ehrlich, wir haben’s nicht so mit Bannerträgern.«

Cabu gehört zu den Mitarbeitern von Charlie Hebdo, die am 7. Januar 2015 während einer Redaktionskonferenz bei dem islamistischen Terroranschlag ermordet wurden. Luz hat den Anschlag, bei dem 12 Menschen starben, nur ­zufällig überlebt, weil er an jenem Tag, seinem Geburtstag, verschlafen hatte und verspätet in die Redaktion kam. In seiner Graphic Novel fügt er die Nachbilder aus einer Zeit vor dem Attentat zu Episoden zusammen und rekonstruiert die Redaktionsräume, die er nach dem Anschlag nie wieder betreten hat. »Indélébiles«, »Unauslösch­liches«, lautet der französische Originaltitel. Unauslöschlich sind die zu Papier gebrachten Erinnerungen. Sie haften ebenso wie die schwarze Farbe auf seinen Fingerkuppen: »Das sind nicht einfach Flecken. Das ist meine Identität! Die wird ein Zeichner sein Leben lang nicht los.«

Luz hat die Redaktion wenige Monate nach dem Anschlag verlassen. Nach der »Ausgabe der Überlebenden«, für die er die berühmte Titelkarikatur des weinenden Propheten Mohammed gezeichnet hat, hatte er eine Pause für die Redaktion eingefordert. »Ich fand, man sollte dazu stehen, dass wir verletzt waren. Aber die Herausgeber wollten sofort weitermachen, um zu zeigen, dass wir nicht besiegt waren«, erzählte er in einem Interview nach seinem Rückzug aus der Redaktion im Mai 2015. Seine Auseinandersetzung mit dem Verlust und seine vorsichtige Rückkehr zum Zeichnen hat er 2015 in seiner Graphic Novel »Katharsis« dokumentiert. Im neuen Buch blickt er auf seine Zeit bei Charlie Hebdo zurück, auf die Stimmung und die Persönlichkeiten, die das Blatt prägten. »Freiheitskämpfer, haben die Leute gesagt, wofür ich mich selbst nie gehalten habe, Helden waren wir auf einmal, aber das wollten wir gar nicht sein«, erläuterte er im Sommer 2015 in einem Interview. »Charlie Hebdo war plötzlich der Bannerträger für irgendetwas, für etwas, das andere in uns sehen wollten. Aber ganz ehrlich, wir haben’s nicht so mit Bannerträgern.«

 

Einerseits wurden die Zeichner von Politikern als Staatskünstler vereinnahmt, also von jenen, gegen die sie von Beginn an polemisiert hatten, andererseits wurden sie als rassistische Islamhasser verunglimpft, die sich mit ihren Karikaturen selbst zur Zielscheibe gemacht hätten. Diesem Zerrbild begegnet Luz mit seinem erstaunlich unaufgeregten Blick auf 23 Jahre Mitarbeit bei der Zeitung. Dabei kommen weder die Debatten über den Islam noch die Kontroverse über den Abdruck der Mohammed-Karikaturen 2006 oder der Brandanschlag auf die Redaktion 2011 vor. Es geht Luz nicht darum, ich zu ­erklären und redaktionelle Entscheidungen zu rechtfertigen oder erneut zu betonen, dass sich die Autoren des Blattes über ausnahmslos alle Religionen lustig gemacht haben. Luz rechtfertigt sich nicht, sondern ­rekonstruiert das politische Selbstverständnis der Zeitung, zu der Religionskritik ebenso gehört wie die Polemik gegen die Politik der Regierung oder der Spott über die neue Rechte in Europa.

Luz, Jahrgang 1972, stieß als 20jä­higer zu Charlie Hebdo. Die Satirezeitung hatte sich 1992 neu gegründet, nachdem sie 1981 eingestellt worden war. Pierre Bourdieu rühmte die erste Phase von Charlie Hebdo in seiner berühmten Studie »Die feinen Unterschiede« als Produkt der Gegenkultur, das »in journalistischer Verpackung die Erzeugnisse der intellektuellen Avantgarde« biete. Die Auflage des Magazins von der ­intellektuellen Avantgarde und für diese lag in den Neunzigern bei 60 000 bis 90 000 Exemplaren. Mit ein paar Zeichnungen im Rucksack war Luz 1992 aus der Provinz nach Paris gekommen, um sich bei verschiedenen Zeitungen als Karikaturist zu bewerben.

Das zufällige Treffen auf der Straße: Cabu lacht über eine Zeichnung von Luz.

Bild:
Reprodukt

Im Buch erzählt er von seiner schicksalhaften Begegnung mit dem Zeichner Cabu, dem er zufällig auf der Sraße begegnet war und den er mit einer Karikatur zum Lachen brachte. Der 1938 geborene Jean »Cabu« Cabut war zu dieser Zeit bereits ein bekannter Zeichner, den sogar die Eltern des jungen Rénald kannten. »Wir waren Charlie« hält sich nicht damit auf, politische Debatten innerhalb der Redaktion abzubilden. Eine linke, religionskritische, antinationale Position wird als selbstverständ­licher Grundkonsens aller Mitarbeiter der Zeitung dargestellt. Charlie Hebdo setzt sich Woche für Woche mit der Tagespolitik auseinander, angetrieben von der Hoffnung, wie sie stellvertretend der Zeichner Gébé formuliert: »Wenn nur ein Leser oder eine Leserin sich eine deiner Zeichnungen zu ­eigen macht, um die Welt zu verändern, dann bist du es, der die Welt verändert.«

 

Luz konzentriert sich auf sein bevorzugtes Metier: die gezeichnete Reportage. Mal wird er auf einer antirassistischen Demonstration von Polizisten vermöbelt, weil er über seinen Skizzenblock gebeugt nicht schnell genug die Flucht ergreift. Ein paar Jahre später begleitet Luz den Sänger Renaud auf einer »Tournee für den Frieden« durch das kriegszerstörte ehemalige Jugoslawien, wo er von Soldaten verhaftet wird, da er militärisch relevante Gebäude gezeichnet hat. Weitere Reportagen führen ihn in die Pariser Banlieues, in ein Hochsicherheitsgefängnis im US-amerikanischen Louisiana, auf eine SM-Sexparty und in das Aktionskomitee zur Vorbereitung des Präsidentschaftswahlkampfs von Jacques Chirac. Ansonsten fängt Luz den Arbeitsalltag im Kreis seiner Kollegen ein und macht den Schmerz spürbar, die Freunde und Kollegen verloren zu haben und die Möglichkeit, sich gemeinsam mit ihnen über alles und jeden lustig zu machen.

Ausgangspunkt ist ein wiederkehrender Alptraum: Luz betritt verschlafen die Redaktion, in der jeder geschäftig seiner Arbeit nachgeht. Aber niemand beachtet ihn. Die Erinnerung reißt ihn aus dem Schlaf: »Ein Traum … Alles war so normal …Entsetzlich normal … Wie früher … Vielleicht doch ein Alptraum … « Zeich­nerisch wird diese Erzählebene in der Gegenwart von den in Schwarzweiß gehaltenen Erinnerungen durch dunkle Aquarellfarben abgehoben. Die Rückschau ist strukturiert von der Auseinandersetzung mit dem traumatischen Erlebnis, selbst banalste Alltagssituationen wie nicht funk­tionierende Drucker, wackelnde Tische, verrauchte Räume und der Standdienst bei Messen sind für Luz nicht mehr ohne den mörderischen Anschlag und seine Folgen erinnerlich. Denn der Alltag hat vor allem aus den Debatten und Frotzeleien mit denjenigen bestanden, die nicht mehr da sind, aus Sticheleien, Zuneigung und Freundschaftsbekun­dungen. Die ermordeten Zeichner Tignous, Charb und vor allem Cabu werden in umfangreichen Kapiteln gewürdigt, die ihre widersprüchlichen Charaktere nicht verklären und doch ihre Bedeutung für den Re­daktionsalltag wie auch für Luz einfangen.

Erst am Ende des Buchs führt Luz Gegenwart und Vergangenheit wie­der zusammen: Die blaue Aquarellfarbe schleicht sich in eine Büroszene, die Nachbilder der Ermordeten verblassen langsam, Luz hat ihnen mit seinem Comic einen Ort der Erinnerung geschaffen. Zuletzt schreibt Luz: »Da ist die Erinnerung, und da ist das Gedächtnis. Es bleiben ­Spuren. Du triffst die Freunde in Gedanken, die unauslöschlich sind. Zeichnen, ein verdammt schöner Beruf! Das ist nicht weg, geht nicht weg. Unauslöschlich!«

Luz: Wir waren Charlie. Aus dem Französischen von Vincent Julien, Karola Bartsch und Tobias Müller. Reprodukt, Berlin 2019, 320 Seiten, 29 Euro