Ausstellung »Exil und Fotografie«

Genau an diesem Ort

Rudi Weissenstein hat mit seiner Kamera die Geburt des jüdischen Staats dokumentiert. Eine Ausstellung in Berlin zeigt nun unbekannte Werke des israelischen Fotografen.

Nicht ohne Grund gilt Rudi Weissenstein als Chronist des jungen Israel. Den im Entstehen begriffenen Staat bereiste der Fotograf bis in dessen entlegenste Winkel, teils auch im Auftrag von zionistischen Organisationen wie der Histadrut und dem Jüdischen Nationalfonds. Weissenstein emigrierte 1936 aus dem heutigen Tschechien nach Palästina. Als der 26jährige mit nur wenig mehr als einer Kamera in Jaffa von Bord ging, war er überzeugt, mit seinen Fotos dazu beizutragen, den zionistischen Traum vom Judenstaat Realität werden zu lassen. Im böhmischen Iglau hatte er seine ­gesamte Familie zurückgelassen.

Weissenstein fotografierte nicht nur epische Landschaften oder historische Großereignisse wie das Ver­lesen der israelischen Unabhängigkeitserklärung durch David Ben-Gurion. Vor allem sind auf seinen Aufnahmen ein Staat im Aufbau und eine entstehende Gesellschaft zu ­sehen. Weissensteins Fotografien sind weniger von Herausforderungen und Widersprüchen in der israelischen Einwanderungsgesellschaft bestimmt, sondern zeigen das Neue, das Leben in frisch errichteten Städten und Kibbuzim; den Alltag der Immigranten, die in Israel ihr Glück sowie Schutz vor antisemitischer Verfolgung suchen.

Abgesehen von einigen Aufnahmen Prominenter ist über die meist europäisch aussehenden Abgebildeten wenig bekannt. Nur wenige Fotos geben Hinweise auf individuelle Biographien und Migrationsgeschichten. Ob verkleidet für Purim oder im schattig-verspielten Kaffeehaus in Haifa – was die Menschen auf Weissensteins Fotos auszeichnet, ist keine Sehnsucht nach der zerbrochenen Welt von gestern, sondern ein optimistischer Blick nach vorn. So als gebe es nichts Selbstverständlicheres als ein Leben genau an diesem Ort.

Feinsinnige Kompositionen und Situationskomik

Verweise auf die Verteidigungskriege gegen die Nachbarstaaten, in denen es um die Existenz Israels ging, finden sich auf den Bildern selten. Das verwundert, denn diese sind eigentlich von Anfang an Teil der ­israelischen Erfahrung und führten im Falle des Unabhängigkeitskriegs von 1948 auch dazu, dass viele arabische Bewohner Palästinas flohen oder vertrieben wurden. Israel, das war in Weissensteins Fotos vor allem ein Wunder, das, frei nach Theodor Herzl, kein Märchen blieb.

Rudi Weissenstein: David und Paula Ben-Gurion eröffnen ein neues Viertel, Tel-Aviv (1949).

Bild:
The PhotoHouse

Fotografie als Geschichtsschreibung kann man kritisieren, denn sie ist lückenhaft und ungenau. Doch Weissenstein war kein Histo­riker. Von seinem Werk in erster ­Linie dokumentarische Authentizität zu erwarten, würde den eigenständigen ästhetischen Wert der Fotos ausblenden: ihre feinsinnige Komposition und die in zahlreichen Motiven zu findende Situationskomik. Gleichwohl verweisen einige Fotos auf das zeitgeschichtliche Geschehen.

Eine Ausstellung in der Villa Grisebach in Berlin bildet diese Dimen­sionen von Weissensteins Werk ab.

Zu sehen ist eine Auswahl von 47 Fotografien aus dem etwa eine Million Negative umfassenden Weissenstein-Archiv, das derzeit von der Israelischen Nationalbibliothek digita­lisiert wird. Dazu kommen zehn Aufnahmen, die Weissenstein als Hausfotograf des Israel Philharmonic Orchestra in Tel Aviv gemacht und wie Autogrammkarten gesammelt hatte. Arthur Rubinstein, Yehudi Menuhin, Leonard Bernstein oder auch Kurt Weill und Arturo Toscanini sind darauf zu sehen, teils während der Konzerte in Aktion und oft in wenig vorteilhaften Posen. »Meine größten Erfolge« nannte Weissenstein diese mit persönlichen Widmungen versehene Sammlung.

Alltagsleben im Palästina

»Rudi Weissenstein – Exil und Fotografie« ist die Ausstellung betitelt. Allerdings ließe sich durchaus in Frage stellen, ob Weissenstein überhaupt als Exilant bezeichnet werden kann. Als überzeugter Zionist war Weissenstein, um in der klassischen Diktion zu bleiben, aus der Diaspora nach Hause gekommen, er hatte Alijah, also den Aufstieg, gemacht. In der alten Welt wurden bis auf seinen Vater alle engeren Familienmitglieder ermordet.

Jene Immigranten, die in Israel nicht heimisch wurden, repräsentiert in der Ausstellung die deutsch-amerikanische Fotografin Ellen ­Auerbach, die 1906 in Karlsruhe geboren wurde und 2004 in New York City starb.

Christian Boltanski: »Jüdische Schule« (1939/1992).

Bild:
Christian Boltanski, Galerie Klüser

Abgesehen von einem – alles andere als optimistischen – Selbstporträt ist auf ihren Fotos ebenfalls das Alltagsleben im Palästina der dreißiger Jahre zu ­sehen. Die Aufnahmen bilden Menschen nicht frontal ab, sondern ­zeigen sie seitlich, von hinten oder in größeren Gruppen – in jedem Fall undeutlich, fragmentiert. Beim Spazierengehen am Tel Aviver Strand, bei der Tashlikh-Zeremonie an Rosh Hashanah oder kurz nach der Beschneidung eines Neuge­borenen lässt sich kein vorwärtsgewandter Heroismus erkennen; viel eher Ratlosigkeit, Trott oder Melancholie.

Die aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Ellen Rosenberg studierte Kunst und Fotografie, war Mitbegründerin eines Studios für Werbe- und Porträtfotografie in Berlin und gehörte zur hedonistischen Boheme. 1933 emigrierte sie mit ihrem späteren Ehemann Walter Auerbach nach Palästina und eröffnete in Tel Aviv ein auf Kinderfotografie spezialisiertes Studio. 1936 verließ sie Palästina wieder und gelangte über Umwege in die USA. Mit dem Leben im entstehenden Staat Israel war sie nie vertraut geworden, zu hart waren die Lebensbedingungen, zu unsicher die Situation während der militärischen Auseinandersetzungen mit den arabischen Nachbarländern.

Geometrie der Bilder

Auch Rudi Weissenstein hatte sich mit einem eigenen Fotogeschäft in Tel Aviv selbständig gemacht – war damit aber erfolgreicher als Auerbach. Das 1940 gegründete Photohouse Pri-Or existiert noch immer und wird inzwischen von Weissensteins Enkel Ben Peter geführt. Weissenstein porträtierte viele nam­hafte israelische Politiker, sein Photohouse wurde zu einer anerkannten Institution. Davon zeugen etwa die heute noch im Laden ausgestellten Porträts von Shimon Peres, Yitzhak Rabin, Golda Meir und David Ben-Gurion.

Ellen Auerbach: Strand in der Nähe von Tel Aviv (1934).

Bild:
Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung. Inv. Nr.:Auerbach 4935 / VG Bild-Kunst, Bonn, 2019.

Bekannte Fotografien von Weissenstein, etwa die des enthusiastischen Luftsprungs seiner Ehefrau, der ausgebildeten Tänzerin Miriam Weissenstein, oder des überfüllten Gordon Swimming Pool im Tel Aviv der fünfziger Jahre, ragen aus dem Werk vor allem wegen ihrer bis ins kleinste Detail perfekten Komposition heraus. Sie verfügen zwar über einen geschichtlichen Bezug, sind aber in erster Linie schön und deshalb auch bei den Besuchern des Photohouse Pri-Or beliebt, wo zahlreiche Variationen dieser Motive verkauft werden.

Auch aus diesem Teil von Weissensteins Werk sind in der Ausstellung Fotos zu sehen. Auffällig ist beispielsweise die Aufnahme eines Schwimm­bads in Netanya, die möglicher­weise von einem Sprungturm gemacht wurde; oder die vom schummerigen Lichtspiel am Ben Zion Boulevard in Tel Aviv, von der Oran­genernte in der Hula-Ebene und den Fahrradfahrern, die den noch im Bau befindlichen Dizengoff-Platz, heut­zutage eines der Wahrzeichen von Tel Aviv, passieren. Die Geometrie der Bilder macht einen Großteil ­ihrer Faszination aus. Amüsant sind jene Fotos, auf denen Behältnisse mit obskuren Flüssigkeiten auf der Straße ausgeleert werden, oder das eines kleines Mädchens beim Konzert des Israel Philharmonic Orchestra aus Tel Aviv, das allein vor dem Ensemble sitzt.

Spuren der Erinnerung

Andere Fotos der Ausstellung hingegen beziehen sich stärker auf eine spezifische historische Erfahrung der damaligen Zeit. Dieser Bezug wird anhand des Datums der Aufnahmen und der Titel der Werke deutlich, etwa dass es sich bei den 1947 aufgenommenen Personen um Bewohnerinnen des Waisenhauses für Shoah-Überlebende handelt oder um Besucherinnen oder Mitarbeitende des polnischen Konsulats in Tel Aviv 1948. Auch hier wird nichts über individuelle Biographien, Familien- und Migrationsgeschichten mitgeteilt. Das Foto »Tel Aviv Port« (1939) treibt die Kunst der Andeutung auf die Spitze. Auf einem gerade ausgeschifften Holzcontainer ist lediglich zu lesen: »G.K. 103. Gustav Kneuer. Breslau – Tel Aviv. Via Hamburg«.

Rudi Weissenstein: »Port Tel Aviv« (1993).

Bild:
The PhotoHouse

Auch das Foto »People listen to news of the outbreak of World War II« (1939) wirft Fragen auf. Wie haben die vor dem Radiogeschäft in Tel Aviv Stehenden auf die Rundfunkmeldung reagiert? Einige der Abgebildeten scheinen von irgendetwas außerhalb des Bildes derart abgelenkt zu sein, dass sie zur Seite blicken. Bei anderen ist weder Mimik noch Gestik zu erkennen, da Weissenstein sie von hinten fotografiert hat. Um welche Radiosendung handelt es sich? Und mit welchen Worten und in welchem Tonfall wurde über den Beginn des Kriegs berichtet?

Das Wissen, dass in diesem Augenblick die Katastrophe ihren Lauf nahm, ist zentral für die Werke von Christian Boltanksi, dessen Arbeiten die Ausstellung ergänzen. Boltanski wurde 1944 als Sohn eines russischen Juden und einer korsischen Katholikin in Paris geboren, wo er auch gegenwärtig lebt. Vor allem wurde er durch Werke bekannt, die die Zeit der Shoah in den Mittelpunkt stellen. Seine Installationen wollen Spuren der Erinnerung festhalten und die Judenvernichtung vor dem Vergessen werden bewahren. Boltanski verfremdet zufällig gefundene Fotografien durch ästhetische Eingriffe und kombiniert diese häufig auch mit Alltagsobjekten.

Düstere Atmosphäre

Dabei ist meist unklar, um wen es sich bei den Abgebildeten handelt. So ist die Identität der Sängerin auf der trügerisch verschwommen Aufnahme »La Chanteuse« (1998) nicht bekannt. Boltanski gab lediglich an, sie stamme aus einem Amateurfilm der dreißiger Jahre, den er auf einem Berliner Flohmarkt entdeckt hatte. Auch bei »The Dancers« (1996) kann nicht beantwortet werden kann, ob es sich bei dem tanzende Paar um Opfer oder Täter handelt. In jedem Fall erschaffen die Verschwommenheit der abgebildeten Personen und die in beiden Arbeiten seltsam anwesend-abwesende Musik eine düstere Atmosphäre, die auf das nahende Verhängnis und den Tod verweist.

An beiden Eingängen zur Ausstellung sind Fotografien platziert. ­Boltanskis Arbeit »Jüdische Schule« (1992) basiert auf einer Fotografie von Schülerinnen der Jüdischen Mädchenschule in Berlin, die er auf transparentes Papier druckte, zerknitterte und an den Rändern mit Klebeband versah. Die Mädchen, die den Nationalsozialismus nicht überlebt haben, blicken den Betrachter direkt und heiter, fast schon übermütig an. Das Foto wurde 1939 aufgenommen.

Weissensteins Foto »Ben Yehuda School Tel Aviv« stammt ebenfalls aus dem Jahr 1939. Auch hier werden die Betrachtenden von einer großen, fröhlichen Schülergruppe angesehen, in diesem Fall sind es ausschließlich Jungen. Zwar ist auch hier unklar, wer diese Menschen sind, wie sie ihren Weg nach Israel gefunden haben, wen sie zurücklassen mussten und wie ihr Alltag verlief. Doch ähnlich wie bei der Aufnahme vor dem Radiogeschäft in Tel Aviv sind sie dem Geschehen in Europa entrückt: Vor den Nazis und ihren Helfershelfern befinden sie sich in Sicherheit.

Rudi Weissenstein – Exil und Fotografie. Fotografien von Rudi Weissenstein, Ellen Auerbach und Christian Boltanski. ­Villa Grisebach, Berlin. Bis 21. September.