Der neue britische Premierminister Boris Johnson bereitet den »No Deal-Brexit« vor

Bahn frei für den harten Ausstieg

Boris Johnson hat sein Kabinett mit rechten Hardlinern besetzt und droht mit einem EU-Austritt ohne Abkommen. Die schottische Regierung bringt bereits ein neues Referendum über die Unabhängigkeit ins Spiel.

Wie erwartet ist Boris Johnson, der exzentrische rechtskonservative EU-Ausstiegsbefürworter, der neue Vorsitzende der Konservativen Partei und damit britischer Premierminister geworden. Er gewann am 22. Juli die Wahl zum Vorsitzenden gegen seinen Konkurrenten Jeremy Hunt mit 66 Prozent der Stimmen der Parteimitglieder. Er löst die bisherige Parteivorsitzende und Premierministerin Theresa May ab.

Viele halten Johnson für unfähig und gefährlich. Dies zeigte sich auch in Straßenprotesten. Am 24. Juli, dem Tag von Johnsons Amtseinführung, versuchten Umweltschützer, seinen Autokonvoi zum Buckingham Palace zu blockieren. Dort hatte der neue Premierminister einen Termin mit der Königin. Linke Gruppen riefen kurzfristig zu Protesten gegen Johnson auf, der Schwarzafrikaner als Leute mit »Melonenlächeln«, Frauen, die eine Burka tragen, als »Briefkästen« und schwule Männer als »Tanktop-Stricher« bezeichnete. Einige Tausend Demonstranten versammelten sich am Russell Square in London. Plakate und Transparente kritisierten Johnson als Rassisten und Sexisten, auch EU-Fahnen waren zu sehen. Mit lauter Musik zog die Demonstration anschließend durch die Straßen.

Über Johnsons Sieg freuen sich vor allem die Rechten, nicht nur in Großbritannien. US-Präsident Donald Trump begrüßte Johnsons Wahlsieg. Er sieht in ihm einen »Großbritannien-Trump« und hält ihn für eine »starke und clevere« Person, die »einen guten Job« machen werde. Der italienische Innenminister und Vorsitzende der rechten Partei Lega, Matteo Salvini, betonte erfreut, dass die Linke Johnson als noch gefährlicher als die Lega bezeichne. Auf Twitter sandten der rechtsextreme Präsident Brasiliens, Jair Bolsonaro, und die Vorsitzende der rechtspopulistischen australischen Partei One Nation, Pauline Hanson, ihre Glückwünsche. Die deutschen AfD-Bundestagsfraktionsvorsitzenden, Alice Weidel und Alexander Gauland, gaben eine öffentliche Erklärung ab, in der sie Johnson beglückwünschten. »Die EU-Granden bekommen den Premierminister, den sie verdienen«, so Weidel.

Der rechte Flügel

Bei seiner ersten Rede als Premierminister im Parlament am Donnerstag voriger Woche sagte Johnson, seine Regierung sei verpflichtet, am 31. Oktober »unter allen Umständen« den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zu vollziehen. In den folgenden Tagen stellte er sein neues Kabinett zusammen. Es wurde fast ausschließlich aus dem rechten Flügel der Partei rekrutiert und umfasst ihre überzeugtesten Ausstiegsbefürworter. Zuvor waren unter anderen bereits Finanzminister Philip Hammond, Justizminister David Gauke und Kabinettschef David Lidington zurückgetreten, da ihre Regierungsvorstellungen zu stark von Johnsons Politik abweichen.

Zudem entließ Johnson eine Reihe weiterer Amtsträger, darunter Verteidigungsministerin Penny Mordaunt. Sie hatte das Amt erst Mitte des Jahres übernommen und für viele ist ihr Abschied eine Überraschung, da sie eine Ausstiegsbefürworterin ist. Wirtschaftsminister Greg Clark, der strikt gegen einen Ausstieg ohne Abkommen ist, wurde ebenfalls entlassen. Auch Handelsminister Liam Fox musste gehen. Er hatte Behauptungen von Johnson hinsichtlich der Folgen eines »harten Brexit« widersprochen.

Die Mitglieder des neuen Kabinetts teilen Johnsons Vorstellungen hinsichtlich eines »harten Brexit«. Zu ihnen gehört der neue Außenminister Dominic Raab, bisher Minister für den Austritt aus der EU und vorher Minister für Wohnungs- und Kommunalwesen, unter dessen Leitung sich die Wohnungsknappheit und die Qualität des Wohnraums besonders für Geringverdienende kein bisschen verbesserte.

Bedenkliche Personalien

Priti Patel, die 2017 unter May als Ministerin für internationale Entwicklung hatte zurücktreten müssen, da sie May ein Treffen mit der israelischen Regierung verschwiegen hatte, wurde Innenministerin. Sie will die Einwanderung von beruflich unqualifizierten EU-Bürgern beenden. Der ehemalige Verteidigungsminister Gavin Williamson ist nun Bildungsminister. Was ihn für dieses Amt qualifiziert, ist unklar.

Johnsons neuer engster Vertrauter und Sonderberater ist Dominic Cummings, der hochumstrittene ehemalige Direktor der »Leave«-Kampagne für den EU-Austritt, der die Veruntreuung von Spenden vorgeworfen wird und die vor dem Ausstiegsreferendum gezielt Falschinformationen verbreitete. Zudem berief Johnson Jacob Rees-Mogg von der neoliberalen und die EU ablehnenden European Research Group zum Fraktionsvorsitzenden der Tories. Der knallharte »Brexiter« war bisher Hinterbänkler und informeller Sprecher des rechten Flügels der Partei.

Die Ernennung von Sajid Javid zum Finanzminister macht deutlich, welche Wirtschaftspolitik Johnson verfolgen will. Javid war früher Manager bei der Deutschen Bank und fordert Steuerentlastungen für Banken und Großunternehmen. Er kündigte in einem Interview mit dem Sunday Telegraph zusätzliche Ausgaben von ungefähr einer Milliarde Pfund für die Vorbereitung eines »No-deal-Brexit« an, unter anderem für die größte öffentliche Kampagne seit dem Zweiten Weltkrieg, um die Briten und die britischen Unternehmen auf die Zeit nach dem EU-Austritt einzustimmen. Zudem solle die Anzahl der Grenzbeamten erhöht und die Infrastruktur von Häfen verbessert werden, um eine zügige Abfertigung von Reisenden und Importen zu garantieren.

Streitfall Nordirland

Ungemach droht Boris Johnson insbesondere in der Nordirland-Frage. Am Montag sagte Johnsons Sprecherin, der Premierminister wolle keine EU-Regierungschefs zu Gesprächen über den EU-Austritt treffen, solange diese nicht den »antidemokratischen« backstop abschafften. Der backstop ist eine Notlösung, der eine »harte« Grenze mit Zollkontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und Nordirland, einem Teil des Vereinigten Königreichs, im Fall des »Brexit« verhindern soll; er ist ein wesentlicher Bestandteil von Mays Abkommen mit der EU. Die EU lehnt es strikt ab, das Abkommen nachzuverhandeln, den mit May ausgehandelten backstop bewertet sie als substantielles Zugeständnis an das Vereinigte Königreich, der unter keinen Umständen abgeschafft werden könne.

Am Montag schloss Außenminister Raab nicht aus, dass es im Fall eines »No-deal-Brexit« nach dem 31. Oktober zu einer direct rule der britischen Regierung in Nordirland kommen könne. Das folgt den Vorschlägen des führenden Think Tanks Institute for Government: Die direct rule sei »extrem umstritten«, aber ohne sie sei »Nordirland den ökonomischen Schocks eines No-deal-Brexit sogar noch stärker ausgesetzt« als derzeit.

Das ist ein Schock für die Parteien in Nordirland. Am Dienstag sagte die Vorsitzende der nordirischen republikanischen Partei Sinn Fein, Mary Lou McDonald, im Norden gebe es wegen des EU-Austritts eine wachsende Unterstützung für die irische Einheit; die irische Regierung sollte nun damit beginnen, die Wiedervereinigung von Irland vorzubereiten.

Deal or no deal?

Die Zentrifugaltendenzen im Vereinigten Königreich werden auch anderswo stärker. In Wales ist die nationalistisch-sozialdemokratische Partei Plaid Cymru in ­einer aktuellen Umfrage erstmals vor Labour, den Tories und Nigel Farages Brexit Party auf Platz eins gelandet. In Schottland bezeichnete die Regierungschefin Nicola Sturgeon, die Vorsitzende der für die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich eintretenden Scottish National Party, Johnsons neue Regierung wegen ihrer »No-deal«-Strategie als »gefährlich«; Schottland brauche eine Alternative zum EU-Austritt, das Parlament werde demnächst über ein erneutes Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands beraten. Das britische Pfund sank wegen der Befürchtungen eines »No-deal-Brexit« am Montag auf den niedrigsten Stand seit 28 Monaten.

Ob das Getöse von Boris Johnson und seinem Kabinett nur ein Bluff ist, um die EU doch noch zu Zugeständnissen zu bewegen und insbesondere die Tory-Partei angesichts der rivalisierenden, erstarkenden Brexit Party zusammenzuhalten, ist unklar. Die britische Tageszeitung The Guardian zitierte einen anonymen EU-Diplomaten, der argumentierte, der gesamte Austrittsprozess, von David Camerons Referendum 2016 bis Johnsons »No-deal«-Versprechen, sei ein Versuch, die Einheit der konservativen Partei aufrechtzuerhalten, mit den Worten: »Wie können wir mit einem Partner verhandeln, der gerade bewiesen hat, dass er komplett irrational ist und gewillt, Dinge zu zerstören, um seine Partei komplett vereint halten?«

Ein Sprecher der Europäischen Kommission fasste die Lage trocken zusammen: »Ob das Vereinigte Königreich auf einen No-deal vorbereitet ist, geht uns nichts an. Unsere Vorbereitung auf einen No-deal schützt die EU und unsere Interessen für den Fall ­eines No-deal-Brexit. Ein No-deal-Szenario ist nicht unser bevorzugtes Ergebnis.«