Personalisierte Medizin

Für jeden die richtige Pille

Die »personalisierte Medizin« weckt hohe Erwartungen. Sie soll in Zukunft die Heilungschancen enorm steigern. Oder geht es doch nur um neue Absatzmärkte?

Es hört sich an wie ein alter Menschheitstraum, oder zumindest wie der Traum eines jeden Arztes: Für jeden Kranken gibt es zur Heilung seiner ­Leiden die genau zu ihm passende Medizin. Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Asthma gehören der Vergangenheit an. Das hört sich wunderbar an – es sind die Versprechen der forschenden Pharmaunternehmen und der Tagesordnungen medizinischer Symposien, die »die frühe und therapiebeglei­tende Diagnostik und personalisierte Behandlungsansätze als Standard in Kliniken und Arztpraxen« propagieren, wie der Forschungsverbund »Leibniz Gesundheitstechnologien« im März auf seinem Symposium in Berlin.

Personalisierte Medizin, Individualmedizin, Prädiktivmedizin, Präzisions­medizin, maßgeschneiderte Medizin, individuelle Medizin – es gibt zahlreiche Begriffe, die nahezu synonym verwendet werden. Es soll möglich werden, für jeden Patienten eine passende, individuelle und damit eben auch personalisierte Medikation zu entwickeln – auf Grundlage der genetischen Bedingungen der jeweiligen Krankheit.

Was geschieht, wenn Krankenkassen Zugriff auf personalisierte Patientendaten einschließlich genetischer Dis­positionen erhalten?

Bei vielen Patienten kam an: Endlich hat mein Arzt wieder mehr Zeit für mich. Doch darum ging es nie. Nach der vollständigen Sequenzierung des menschlichen Genoms im Jahr 2 000 entstand eine Forschungsrichtung, die für genetisch bedingte Erkrankungen die genetisch passende Therapie finden sollte. Hierfür bedarf es vor allem Unmengen an genetischen Daten, um immer feinere Untergruppen von Erkrankten bilden zu können. In den vergangenen Jahren einigte man sich nach langen Diskussionen auf die ­Begriffe »personalisierte Medizin« und, ganz neu, auf »Präzisionsmedizin«.

Deutschland gilt mit seinen im ­internationalen Vergleich strengen Datenschutzrichtlinien als eher rückständig. Manche prophezeien den Untergang der Wissenschaft in Deutschland. »Die deutsche Wissenschaft verliert derzeit massiv den Anschluss in der Genommedizin«, sagte Jürgen Eils von der Universitätsklinik Heidelberg auf einem Workshop im Dezember in Berlin.

Die Digitalisierung der Medizin schreitet immer weiter voran und mit ihr steigt die Akzeptanz für Daten­erhebungen im Gesundheitsbereich. Nicht überall läuft dieser Prozess bruchlos. Großbritannien initiierte bereits 2012 das »100 000 Genomes Project«. Die Firma »Genomics England« vollzog in den vergangenen sieben Jahren 100 000 Genomanalysen bei Patienten, die beim Nationalen Gesundheitsdienst versichert waren. Die Versuche, Krankenakten für die Forschung zugänglich zu machen, waren allerdings weniger erfolgreich und wurden nach Kritik in den Medien 2014 beendet.

Was hat die Präzisionsmedizin bislang vorzuweisen? Vom »Zentrum für personalisierte Medizin« (ZPM) an der Universität Tübingen bis hin zu Abhandlungen des Ethikrates – lange Zeit herrschte Aufbruchsstimmung, Versprechungen wurden gemacht. In Deutschland flossen seit 2013 Forschungsgelder in Höhe von 360 Millionen Euro in den Bereich, während ­beispielsweise der Bereich Patientensicherheit lediglich mit 600 000 Euro bedacht wurde. Das Bundesgesundheitsministerium stellt darüber hinaus 2019 erstmalig nationale Fördermittel in Höhe von 1,5 Millionen Euro für das »ERA-Net PerMed« zur Verfügung, eine von der EU-Kommission initiierte weltweite Projektplattform.

Schaut man hingegen auf die Website des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen, sieht man schnell die derzeitigen Grenzen der »personalisierten Medizin«: »Bereits 30 Medikamente werden anhand vorheriger Tests auf ihre individuelle Wirksamkeit eingesetzt, Tendenz steigend.« Angesichts der ambitionierten Versprechen eine Zahl, die überrascht. Sieht man sich die Tabelle der zugelassenen Medikamente genauer an, wird deutlich, dass einige von ihnen bereits vor dem Aufkommen der »personalisierten Medizin« entwickelt wurden, um zum Beispiel gegen HIV eingesetzt zu werden.

Der Schwerpunkt liegt allerdings eindeutig auf Krebserkrankungen. So forscht beispielsweise das ZPM ausschließlich in diesem Bereich. Sein Leiter, der Internist Nisar Malek, hat das Ziel ausgegeben, die Erkenntnisse dieser Sparte möglichst bald möglichst vielen Patienten verfügbar zu machen. »Wir möchten es in die klinische Rou­tine überführen, dass das Erbgut von Krebsherden untersucht wird, bevor über die medikamentöse Behandlung eines Patienten entschieden wird«, sagte Malek in einem Interview. Wichtig ist Malek die detaillierte Datener­fassung. In der Forschungsdatenbank »CentraXX« werden diese Daten gespeichert. Eines der wichtigsten Ziele der personalisierten Medizin sei »die Nutzbarmachung aller erhobenen Patientendaten von einfachen Biosignalen – wie Blutdruck oder Herzfrequenz – bis hin zu den hochkomplexen Omics-Datensätzen aus Tumorgeweben«, heißt es beim ZPM.

Selbst in demokratischen Ländern dürfte unter dem Spardiktat in der Krankenversorgung eine solch detaillierte Datenerhebung mit Risiken verbunden zu sein. Es stellt sich die Frage, was geschieht, wenn Krankenkassen Zugriff auf personalisierte Patientendaten einschließlich genetischer Dis­positionen erhalten? »Was in der Medizin durch datengestützte Individualisierung vielversprechend erscheint, bringt gesamtgesellschaftlich jedoch auch Herausforderungen für unser Menschenbild und unser Zusammenleben mit sich. Lösen wir unsere soli­darische Gesundheitsversorgung durch verhaltensbasierte Versicherungs­modelle auf?« fragte die Medizinethikerin Christiane Woopen in ihrem Abstract zum Leibniz-Symposium.

Befürworter verweisen auf erste kleine Erfolge. Wie viel Potential die persona­lisierte Medizin haben könnte, wurde Anfang Juni 2018 bei der Jahrestagung der American Society of Oncology in Chicago deutlich. Dort präsentierte ein Team vom »MD Anderson Cancer Center« der Universität Texas eine Langzeitstudie mit 3 700 austherapierten Krebspatienten. 711 von ihnen konnten aufgrund einer Mutation, die in ihrem Krebs gefunden wurde, eine spezialisierte Therapie erhalten. Von diesen Patienten lebten nach drei Jahren noch 15 Prozent, von den übrigen waren es nur sieben Prozent.

Schwierig an einer ausgewogenen und differenzierten Betrachtung der Chancen und Risiken der personalisierten Medizin ist ihre Einbettung in ­Kostenminimierungsvorgaben. Während fast der gesamte Klinikalltag in Deutschland in Fallpauschalen eingezwängt ist, gibt es in vielen Ländern, wie beispielsweise den USA, gar kein einheitliches und verbindliches Krankenversicherungssystem. Auf dem Kongress des Internationalen Konsortiums für personalisierte Medizin in Berlin im November 2018 mahnte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), man müsse »immer auch die Bezahlbarkeit unseres Gesundheitssystems als Ganzes im Blick behalten«.

Darüber hinaus steht die Grundlagenforschung auch unter dem Einfluss  von Pharmaunternehmen, die gewinnorientiert arbeiten und in den ver­gangenen Jahren einen Einbruch im Bereich ihrer kommerziell besonders erfolgreichen Arzneimittel hinnehmen mussten. Wolf-Dieter Ludwig, Mitglied in der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, warnte vor einem zu großen Einfluss der Pharma­unternehmen, die mit einem enormen Werbeaufwand für die personalisierte Medizin den Eindruck erwecken, baldige Erfolge seien in greifbarer Nähe. Dabei sind für die Firmen oft nur die Gewinnaussichten von Medikamentenderivaten ausschlaggebend. Viele Pharmaunternehmen haben in den vergangenen Jahren nur leicht veränderte Versionen ihrer Erfolgsprodukte auf den Markt gebracht. Wenn es gelingt, diesen Medikamenten einen Nutzen in der Präzisionsmedizin zuzuweisen, wäre die Bilanz gerettet.

uch europäische Firmen sind stark an Patientendaten interessiert. So übernahm die Pharmafirma Roche im vergangenen Jahr für 1,9 Milliarden Dollar Flatiron Health, einen großen US-amerikanischen Anbieter von IT-Lösungen im Gesundheitsbereich. Roche erhält damit Zugang zu Daten von Krebspatienten. Das britische Pharma­unternehmen Glaxo-Smith-Kline kaufte für 300 Millionen Dollar Anteile an der Firma 23andme, die Gentests anbietet und entsprechende menschliche Genomprofile besitzt. Das Unternehmen sitzt in den USA, wo der Zugang zu den Daten wesentlich einfacher ist.