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Liberale und Sozialdemokraten geben der Identitätspolitik die Schuld für die selbstverschuldeten Niederlagen. Doch die Vernachlässigung von Klassenfragen in den vergangenen Jahren hat andere Ursachen.
Die Frage, wie man es mit der Identitätspolitik hält, ist seit geraumer Zeit ein Fixpunkt linker Debatten. Mittlerweile wird über sie jedoch auch in den Kommentarspalten bürgerlicher Zeitungen sinniert. Das liegt auch daran, dass bei den letzten US-amerikanischen Präsidentschaftsvorwahlen der Demokratischen Partei genau jene Dinge offen zutage traten, vor denen linke Kritiker von Identitätspolitik seit Jahrzehnten gewarnt hatten. Durch Schmeicheleien für Minderheiten und die Verwendung von akademischem Identitätsjargon versuchte Hillary Clinton ihren Konkurrenten Bernie Sanders als für Rassismus und Sexismus unsensiblen Klassenreduktionisten darzustellen. Recht mühelos konnte sich eine offen neoliberale Bürokratin, die während der Präsidentschaft Bill Clintons die Politik der Masseninhaftierung unterstützte, die überwiegend Afroamerikaner traf, und Gangmitglieder rassistisch konnotiert als Raubtiere (»super predators«) bezeichnet hatte, als antirassistische Vorkämpferin darstellen. Was Nancy Fraser als »Problem der Verdrängung« bezeichnete, wurde offensichtlich: Kulturelle Anerkennungsfragen sollten ökonomische Umverteilungsforderungen unterbinden.
Der Hauptgrund für die derzeitige Beliebtheit der Kritik an Identitätspolitik im Feuilleton ist aber ein anderer. Liberale und sozialdemokratische Autoren können sie nämlich auf bequeme Weise für ihre selbstverschuldeten Niederlagen der vergangenen Jahre verantwortlich machen. Deutlich wird das in einem Beitrag von Michael Bröning von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, der in der Zeit vom 25. März identitätspolitische Sensibilitäten für die »Selbstentmachtung der Linken« verantwortlich macht, ohne auch nur mit einem Wort die »Agenda 2010« zu erwähnen und zu erklären, wer diesen größten Angriff auf die Arbeiterklasse im Deutschland der Nachkriegszeit zu verantworten hat.
Angesichts solcher Tendenzen ist es zu begrüßen, dass Johannes Simon an dieser Stelle darauf hingewiesen hat, dass eine solche Kritik an Identitätspolitik groben Vereinfachungen und Fehlschlüssen aufsitzt. Er wirft Autoren wie Simon Strauß, Mark Lilla und Francis Fukuyama vor, fälschlicherweise den Aufstieg des Rechtspopulismus auf linke Identitätspolitik zurückzuführen und gleichzeitig soziale Antagonismen durch einen staatsbürgerlichen Universalismus verdecken zu wollen. Allerdings ignoriert Simon die linken Problematisierungen von Identitätspolitik, die mit dem öden Liberalismus von Lilla und Co. wenig zu tun haben. Nähme er diese zur Kenntnis, könnte er sein Fazit, dass zwischen Identitätspolitik und Sozialismus kein Widerspruch bestehe, kaum aufrechterhalten, ebenso wie die Auffassung, wonach die Identitätspolitik von Minderheiten einfach als Reaktion auf den Rassismus der Mehrheit zu verstehen sei und es keinen Zusammenhang zwischen dieser und dem Aufstieg des Rechtspopulismus gäbe. Doch ein solcher besteht durchaus, allerdings gänzlich anders, als sich Lilla und Fukuyama ihn vorstellen.
Sowohl der Siegeszug der Identitätspolitik als auch jener autoritärer Politikprojekte haben multiple Ursachen und prägen sich in jedem Land unterschiedlich aus. Dennoch ist einer der Gründe für beider Erfolg in den siebziger Jahren zu suchen. Als damals der beispiellose ökonomische Aufschwung der Nachkriegsjahre an sein Ende kam, wurde ausgehend von Großbritannien unter Margret Thatcher versucht, die sinkenden Profitraten mittels Austeritätsprogrammen zu sanieren. Wesentlicher Bestandteil dieser Politik waren Angriffe auf Gewerkschaften sowie auf die gesamte Infrastruktur, die es Arbeitern ermöglichte, Ressourcen für Klassenauseinandersetzungen zu generieren. Ohne solche Strukturen bei gleichzeitiger Zunahme der Konkurrenz am Arbeitsmarkt ist es logisch, dass sich die privilegierten Lohnabhängigen immer mehr für Versprechungen von Parteien und Bewegungen zu öffnen begannen, die ihnen einen Konkurrenzvorteil aufgrund ihrer Hautfarbe, kulturellen Zugehörigkeit oder ihres Geschlechts versprechen. Daher ist es auch nur halbrichtig, wenn Simon schreibt, dass der Kapitalismus »rechte Ressentiments praktisch von selbst hervorbringt«. Zwar sind die ökonomischen und sozialpsychologischen Strukturen, die autoritäre Einstellungsmuster begünstigen, stets vorhanden, sie müssen aber in bestimmten Konjunkturen erst politisch aktiviert und eingebunden werden. Ökonomische Krisen alleine sind hier, anders als Simon meint, keine hinreichende Erklärung.
In etwa zu der Zeit, als es mit den Profitraten und den Überresten der alten Arbeiterbewegung abwärts ging, erreichten Bewegungen gegen rassistische, sexuelle und sexistische Diskriminierung maßgebliche Erfolge. Die Inklusion der vom Nachkriegsboom größtenteils ausgeschlossenen Bevölkerungsteile in die Arbeitsgesellschaft fand genau zu dem historischen Zeitpunkt statt, an dem diese ihre sozialen und integrierenden Aspekte einzubüßen begann. In den USA beispielsweise nahm die Arbeitslosigkeit der schwarzen Bevölkerung in den siebziger Jahren nicht ab, sondern trotz der kurz zuvor verabschiedeten Bürgerrechtsgesetzgebung sogar zu.
Gleichzeitig konnten aber Teile der afroamerikanischen Bürgerinnen und Bürger aus der Mittel- und Oberschicht in einflussreiche Positionen in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit gelangen. Diese Elite aus diskriminierten Bevölkerungsschichten hat von da an als Scharnier zwischen Staat und ethnischen Minderheiten fungiert, wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler Adolph Reed Jr. argumentiert. Identitätspolitik diente dabei zur Vermarktung neoliberaler Strukturprogramme, die gerade der schwarzen Arbeiterklasse noch stärker als der Mehrheitsbevölkerung schadeten. Von den radikalen, sozialistischen oder auch nur sozialdemokratischen Aspirationen der Bewegungen gegen Rassismus und andere Unterdrückungsverhältnisse blieb wenig übrig und ihr Fokus verlagerte sich auf kulturelle Anerkennungsfragen. Dies war die Geburtsstunde von dem, was wir heute unter Identitätspolitik verstehen. Der Begriff bezeichnet nicht einfach Widerstandsformen gegen identitätsbasierte Unterdrückungsverhältnisse, sondern, wie es Asad Haider in seinem Buch »Mistaken Identity: Race and Class in the Age of Trump« formuliert, deren Neutralisierung und Aneignung im Interesse von aufstiegsorientierten politischen und ökonomischen Eliten.
Hier findet sich also der wahre Zusammenhang zwischen linker und rechter Identitätspolitik also ein Zusammenhang, nur gänzlich anders als er zum Beispiel von Mark Lilla hergestellt wird: Wie auch der rechte Populismus wurde die Identitätspolitik diskriminierter Gruppen durch den Abschwung seit den siebziger Jahren und die Abwesenheit revolutionärer oder auch nur reformistischer Perspektiven begünstigt. Gruppenidentitäten wurden für alle Bevölkerungsschichten zu Rettungsankern in der ökonomischen Abwärtsspirale. Allerdings ist von solchen strukturellen und historischen Argumenten in den liberalen Beiträgen zu Identitätspolitik kaum eine Spur zu finden. Liberale Kritiker stellen die Attraktivität des Rechtspopulismus als Reaktion auf linke Identitätspolitik dar, anstatt beide als unterschiedliche und normativ auch nicht gleichzusetzende Reaktionen auf den neoliberalen Umschwung zu begreifen. Sie meinen, der Erfolg von autoritären Bewegungen und Parteien sei einer Abwehrhaltung der weißen Arbeiter gegenüber der politischen Korrektheit der akademischen Linken geschuldet. Zwar mag es sein, dass sich von diesen viele abgestoßen fühlen, allerdings ist das nicht der Punkt.
Problematisch an der linken Identitätspolitik ist, dass sie breit angelegte Organisierungsversuche unmöglich macht. Sie führt dazu, dass die Interessen von rassistisch stigmatisierten Bevölkerungsgruppen ausschließlich im Gegensatz zu Rassismus gedacht werden, wie auch die von Frauen als ausschließlich gegen patriarchale Geschlechterverhältnisse gerichtet. Werden Frauen und ethnische Minderheiten subtrahiert, bleibt für die dritte Großkategorie – Klasse– nur noch der weiße Mann übrig. Damit teilt die Identitätspolitik den Fehler jener sozialkonservativen Linken und liberalen Pseudouniversalisten, die meinen, man müsse endlich Abstand von Minderheitenproblemen nehmen, um die wesensmäßig chauvinistischen Arbeiter nicht zu verschrecken. Beide stellen sich die Arbeiterklasse als ausschließlich weiß und männlich und zugleich dumpf und reaktionär vor. Entgegen dieser Auffassung ist die lohnabhängige Klasse allerdings an sich eine äußerst intersektionale Kategorie. Auch aufgrund von rassistischer und sexistischer Diskriminierung sind Migranten und Frauen überproportional in ihr vertreten, weshalb universalistische Forderungen auf der Basis von Klasseninteressen keineswegs exkludierend wirken, wenn sie auch je nach Situation durch ethnisch und geschlechtlich spezifische ergänzt werden müssen. Die Kritik von Liberalen wie Fukuyama und Lilla hat also durchaus ein Wahrheitsmoment, wenn sie eine Rückkehr zum Universalismus einfordert, nur ist das, was sie darunter verstehen, nationalistisch beschränkt.
Simon hat völlig Recht, dass es nicht darum geht, »sich prinzipiell für oder gegen die Identitätspolitik zu positionieren«, situationsbezogen kann das jedoch durchaus geboten sein. Ob dies der Fall ist, ist jedoch nur anhand konkreter Analysen zu entscheiden. Und darin unterscheiden sich auch die Feuilletondebatten über Identitätspolitik von jenen Auseinandersetzungen, die in der US-amerikanischen Linken stattfinden. Diese kreisen beispielsweise um konkrete Organisierungsfragen, um die Klassenzusammensetzung der afroamerikanischen Bevölkerung oder das Vermächtnis der Bürgerrechtsbewegung, anstatt bei Abstraktionen und Prinzipien stehen zu bleiben. Die Argumente und Kategorien aus diesem sehr spezifischen Kontext einfach unbesehen auf andere Länder zu übertragen, muss daher notwendig scheitern. Eine Analyse des Verhältnisses von Identitäts- und Klassenpolitik in der hiesigen Situation müsste ebenso empirisch anhand der Geschichte und Gegenwart der eigenen Gesellschaft argumentieren. Erst damit wäre, wie Simon schreibt, das »Reich der Feuilletondebatten« tatsächlich verlassen.