Lob der Staatsverschuldung

Mehr Schulden, bitte!

Der letzte Schrei der Wirtschaftswissenschaften, die Modern Monetary Theory, begrüßt die Staatsverschuldung.

Eine der augenfälligsten Folgen der zu Unrecht als Finanzkrise bezeichneten Weltwirtschaftskrise ab 2007 war die Diskreditierung der Ökonomenzunft und ihrer diversen mathematischen Mo­delle aus dem Fundus der neoklassischen Nationalökonomie. Unvergessen bleibt der Auftritt der britischen Königin Elisabeth II. im November 2008 vor den Wirtschaftswissenschaftlern der London School of Economics, bei dem sie Rechenschaft darüber verlangte, warum niemand von ihnen die Krise vorausgesehen habe. Ratloses Schweigen war die Antwort. Erst acht Monate später waren die Ökonomen in der Lage, auf die Frage zu antworten. Das dreiseitige Antwortschreiben gipfelte in der Aussage, es habe sich um »ein Versagen der kollektiven Vorstellungskraft vieler kluger Menschen« gehandelt. Mehr kam nicht. Als »sinnlos« hatte es bereits kurz zuvor der keynesianische US-Wirtschaftswissenschaftler James K. Galbraith bezeichnet, »Diskussionen weiterzuführen, die sich auf die konventionelle Wirtschaftswissenschaft stützen«.

Seitdem haben alle möglichen bekannten und weniger bekannten Konzepte und ihre Verfechter in den Feuilletons und an den Universitäten ein wenig reüssieren dürfen. Neben der erwartbaren Renaissance des nach dem Ökonomen John Maynard Keynes (1883–1946) benannten Keynesianismus – in seinen klassischen linken wie auch konservativen Varianten – wurden auch allerlei eher esoterische Voll- und Schwundgeldtheorien oder Joseph Schumpeters einst bahnbrechendes Konzept der »schöpferischen Zerstörung« relativ breit diskutiert. Selbst die Kritik der politischen Ökonomie erfuhr wieder mediale Resonanz, was einige schon von der sozialen Revolu­tion oder zumindest der Wiedereinrichtung von Lehrstühlen für Marxismus an den Fakultäten träumen ließ. In der Praxis aber setzten sich die Befürworter einer strikten Austeritäts- und Wettbewerbspolitik durch. Diese wurde ­allerdings von einer ungeahnt expansiven Geldpolitik und gigantischen Konjunkturmaßnahmen begleitet – von dem marxistischen Ökonomen Robert Brenner treffend als »Bastard-Keynesianismus« bezeichnet –, die vor allem der Rettung von allerlei Finanzinstituten und sonstigen fiktiven Kapitaltiteln dienten und die soziale Ungleichheit auf ein in der Geschichte der Menschheit wohl einmaliges Maß vergrößert haben. Und dies, ohne dass ein relevanter Aufschwung der Weltökonomie eingeleitet worden wäre.

Der bislang letzte Schrei heißt Modern Monetary Theory (MMT). Auf einer ersten, Anfang Februar in Berlin abgehaltenen Konferenz der Anhänger dieser Theorie fasste ihr bekanntester deutscher Vertreter, Dirk Ehnts, in seiner Eröffnungsrede deren Versprechen zusammen: »Vollbeschäftigung und eine stabile Wirtschaft sind gleichzeitig möglich.« Wenn der Staat so viel Geld ausgeben dürfe, wie er für richtig und sinnvoll halte, so der Vorstandssprecher der von ihm und anderen MMT-Anhängern gegründeten Samuel-Pufendorf-Gesellschaft, könne er Arbeitslose einstellen und ihnen ein Gehalt zahlen. So werde die Wirtschaft angekurbelt. »Die Menschen können konsumieren, Unternehmen müssen mehr produzieren und brauchen Arbeitskräfte, die sie dem Staat wieder abwerben.«

Unschwer erkennt man das alte linkskeynesianische Versprechen wieder, nach dem soziale Reformen, im Zweifelsfall finanziert durch deficit spending, das heißt durch antizyklische, expansive Fiskal- und Geldpolitik, auch die Stabilität des Kapitalismus erhöhen würden. Bereits 1956 hatte der wichtigste Theoretiker dieser Strömung, John Strachey, in seinem Buch »Contemporary Capitalism« den »Anstieg des Arbeiter-Lebensstandards« als entscheidenden Hebel »zur Abwendung wirtschaftlicher und sozialer Krisen« benannt. Denn nur die Erhaltung der inneren Absatzmärkte könne dem Kapitalismus das Fortbestehen in Krisen dauerhaft ermöglichen. Allerdings sollte nach Keynes eine solche Abkehr von der unbedingten Erhaltung der Geldwertstabilität nur in Krisenzeiten erfolgen und bei besserer Konjunktur durch Steuererhöhungen und höhere Zinssätze wieder ausgeglichen werden. Dem stimmten im Grundsatz auch seine linken Anhänger zu. Denn während der Hochkonjunktur erwartete man Vollbeschäftigung und damit auch bessere Kampfbedingungen für eine offensive Lohnpolitik seitens der Gewerkschaften, die sich dann weniger auf die staatliche Konjunkturpolitik stützen müssten.

Dies sehen die Anhänger der MMT ausdrücklich anders. Ausgehend von Georg Friedrich Knapps 1905 veröffentlichtem Buch »Staatliche Theorie des Geldes« betrachten sie alles staatlich herausgegebene Geld – und anderes gibt es im modernen Kapitalismus kaum – immer als Kredit und als relativ wertstabil. Erst kürzlich haben die Ökonomen William Mitchell, L. Randall Wray und Martin Watts unter dem schlichten Titel »Macroeconomics« die Grundideen der MMT auf fast 600 Seiten zusammengefasst. Demnach gebe der Staat Geld heraus und bestreite damit seine Aus­gaben. Steuern und Staatsanleihen werden konsequenterweise nicht als Finanzierungsinstrument, sondern als Instrumente zur Begrenzung der um­laufenden Geldmenge, der Umverteilung und, im Falle der Anleihen, der Steuerung des Zinssatzes verstanden. So müsse der Staat seine Ausgaben nicht von seinen Einnahmen abhängig machen. In einer Kritik daran hat Heiner Ganßmann in der Zeitschrift marxistische Erneuerung (Z) ­diese Position folgendermaßen zusammengefasst: »Der Staat kann vielmehr durch Kredite jederzeit die wirtschaft­lichen Akti­vitäten auf dem für Vollbeschäftigung erforderlichen ­Niveau halten.«

Diese These, dass der Staat jederzeit gegenüber der Ökonomie handlungs­fähig sei, dürfte auch der Grund für den derzeitigen Erfolg der Theorie sein. Auch wenn etwa Ehnts betont, dass sie keine »linke Doktrin« sei, so ist der Hype überwiegend auf die Rezeption der MMT durch einige linke Demokraten in den USA zurückzuführen. Stephanie Kelton, eine Beraterin von Bernie Sanders, ist eine der offensivsten Anhängerinnen der MMT in den USA. Auch Sanders selbst hat sich bereits mehrfach positiv über die Möglich­keiten einer expansiven Geldpolitik auch über Krisenzeiten hinaus geäußert. Gleiches gilt für die den Democratic Socialists of America (DSA) zugehörige Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, die sich immer wieder für eine höhere Staatsverschuldung zur Finanzierung eines »Green New Deal« stark macht. Auch Galbraith bezog sich zuletzt wie einige andere linke US-Wirtschaftswissenschaftler positiv auf die MMT. So folgerte jüngst der bedeutendste wirtschaftspolitische Think Tank der EU, Bruegel, die MMT habe ­ihren »Weg in den Mainstream gefunden«. Google listet »MMT« als einen der Suchbegriffe, deren Häufigkeit am schnellsten zunimmt.

Doch es gibt auch Kritik an der MMT. Der einflussreiche Blogger und Finanzexperte Scott Sumner bezeichnete die MMT auf seinem Blog »als eine zu bizarre, unlogische und zusammengewürfelte Art des Denkens«, um sie überhaupt angreifen zu können. Ähnlich äußerte sich der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, Kenneth Rogoff: Unsinn und Quacksalberei seien die Grundlagen der neuen Denkschule. Der Vorsitzende der US-Notenbank, Jerome Powell, sah sich genötigt, vor dem US-Kongress Stellung zu beziehen. »Die Vorstellung, dass Defizite keine Rolle spielen, wenn ein Land sich in der eigenen Währung verschulden kann, ist einfach falsch«, ließ er die Abgeordneten Ende Februar wissen. War diese Kritik von Seiten der Monetaristen vorhersehbar, so überrascht doch die Vehemenz der Ablehnung durch marktfreundliche linke Ökonomen in den USA. Paul Krugman widmete der vernichtenden Kritik an der MMT gleich eine ganze Serie seiner Kolumnen in der New York Times und Larry Summers, Finanzminister unter Bill Clinton und Berater Barack Obamas, stellte klar, dass Regierungen sich nicht mittels der Notenpresse kostenlos finanzieren könnten: »Weder für die Rechten noch für die Linken gibt es ein kostenloses Mittagessen.«

Gegen die Vorwürfe, die Anwendung der im Kern sehr einfachen Theorie führe nicht nur zu unkalkulierbarer Staatsverschuldung, sondern auch zu Hyperinflation, führen ihre Vertreter die Erfahrungen der vergangenen Jahre an. »Es waren die Länder mit eigenen Währungen und hohen staatlichen Defiziten, die gut durch die Krise kamen. Die Länder ohne eigene Währung und mit Staatsausgabenkürzungen waren die Verlierer, deren Wirtschaft abstürzte und die teilweise auch heute noch nicht das Niveau von vor der Krise erreicht haben«, schrieb Ehnts Ende Februar in einem Artikel mit dem Titel »Keine Angst vor dem Kontrollverlust« für den Blog oekonomenstimme.org.

Die geringen Inflationsraten in Zeiten der expansivsten Geldpolitik in der Geschichte des Kapitalismus – die Europäische Zentralbank sowie die Notenbanken der USA und Japans hatten allein seit 2008 über zehn Billionen US-Dollar in die Märkte gepumpt – scheinen trotz der theoretischen Schwächen auf den ersten Blick die MMT tatsächlich zu bestätigen. So ignoriert die MMT, dass eben nicht ­alles Geld Kredit ist, sondern vor allem auch Zirkulationsmittel im Warentausch und Grundlage der Schatzbildung. Auch eben gerade kein Kredit ist frisches Zentralbankgeld. »Beim Aus­geben von Zentralbankgeld, das keine Deckung hat, entstehen für den Staat keine Verbindlichkeiten«, stellt Ganßmann richtig. Praktisch aber bedeutet dies, dass dieses zusätzliche Geld nur so lange keine Inflation in Gang setzen wird, wie es rein fiktives Kapital bleibt. Ansonsten müsste jede derart expansive Geldpolitik eine Spirale der Geldentwertung in Gang setzen wie in den frühen zwanziger Jahren oder, weniger dramatisch, in den siebziger Jahren, woran sich die Keynesianer noch gut erinnern können. Dann aber wird man die MMT wohl längst vergessen haben.