Lahme Literaten - Folge 10

Reinhard Jirgl

Ein Schriftsteller und sein »buntesprallesleben«.

Ende 2017 gab der Hanser-Verlag auf seiner Homepage bekannt: »Mit Beginn des Jahres 2017 hat Reinhard Jirgl sich vollständig aus der Öffentlichkeit ­zurückgezogen. Er verzichtet auf Lesungen sowie andere ­Auftritte, desgleichen auf jede Publikation seiner auch weiterhin entstehenden Manuskripte. Alle neu geschriebenen Texte verbleiben in Privatbesitz.« Dass er mit Öffentlichkeit jeglicher Art seine Probleme hat, stellte Jirgl in seiner 30 Jahre währenden Karriere mehrfach unter Beweis.

Weil er in der DDR, wo er aufgewachsen ist, nicht publizieren konnte, hat er die Geschichte seiner Werke vor 1990 performativ selbstwidersprüchlich eine »Geschichte von amtlich verhängtem Erstickungstod« genannt. Die Beliebtheit, die er sich damit in der totalitarismuskritischen Literaturschickeria der neuen Bundesrepublik ­sicherte, war ihm aber auch nicht recht. Vielmehr gab er von nun an den Botho Strauß, lamentierte über »die Oberflächlichkeit im Feuilletonstil« und ließ in dem Roman »Die Unvollendeten« sein Alter Ego, einen Buchhändler, die »kalkulierte Weichheit kampagnehafter Bücherfluten voll aufgestocherten Meinungsschlamms« beklagen. Wer in dieser Formulierung ein Knäuel unglücklich verfilzter Metaphern sieht, gibt sich als Neuling auf dem Gebiet der Jirgliana zu erkennen. Jirgls Vorbild ist nämlich Arno Schmidt, dessen unbestechliche Modernität, wie immer, wenn einer seinen Idolen nachschreibt, in Jirgls Werk zu einer Aneinanderreihung ebenso unfreiwilliger wie unkomischer Witze gerät. Schmidts Sprachkritik des Un­bewussten banalisierend, wird so aus dem »Honorar« ein »Hohn-oh-rar«, Frauen machen »Männer-Be-cunt-schafften«, Untote werden »Tsombis«, und um das Einverständnis mit dem Gegebenen zu kritisieren, wird das bunte, pralle Leben, das keines ist, »dasbuntepralleleben« genannt. Wem bei solchen Pointen eine Erkenntnis kommt, dem wird sie nichts nützen.

Doch weil das Feuilleton wirklich so doof ist, wie Jirgl behauptet, kriegt es sich gar nicht ein über des Autors »Eposmassiv voller Pathos« (FAZ), das mittels »Hyperlink-Verfahren« ein »nicht lineares Lesen« ermöglicht (Taz), über die »Sprengkraft« (Zeit) der von ihm veranstalteten »Begriffsgewitter« (SZ), in denen sich »Lebens- und Erzählfäden« zu einem »artifiziellen wie erdrückenden Teppich« (FR) beziehungsweise zum »Sprachkunstwerk« als »Ursuppe« (NZZ) verbinden, an dem nur die »floralen Orgasmusmetaphernwucherungen« (Zeit) ein bisschen stören. Dabei bedürfte es nur eines Blicks auf Jirgls Themenrepertoire, um zu erkennen, dass die auftrumpfend originelle »Jirgl-Orthografie« (FAZ) dem Zweck dient, das reaktionäre Weltbild zu verschleiern, das Jirgl im Unterschied zu Schmidt nicht nur hat, sondern auch unbedingt an den Mann bringen will. In der 2002 erschienenen Trilogie »Genealogie des Tötens« ist gereift, was ein Jahr später in »Die Unvollendeten« zur Vollendung kam: Literatur als Anthropologie der Gewalt, in der alle Menschen einander permanent vertreiben, bis der DDR-Übersiedler zum Wiedergänger des Ostpreußen und der zum entfernten Verwandten der deportierten Juden geworden ist. Die geringe mediale Resonanz auf Jirgls Rückzug ins Private lässt hoffen, dass sein Versuch scheitert, das Strauß-Kostüm mit dem von J. D. Salinger zu tauschen, seit dessen Tod vor neun Jahren die Welt müßig darüber rätselt, ob das Schreiben ohne marktvermittelte Gegenleistung denn nun den Stil verbessert oder nicht.