Gibraltar und der Brexit

Ungewissheit auf dem Felsen

Reportage Von Jan Marot

Im an Spanien angrenzenden britischen Überseegebiet Gibraltar versucht man angesichts des ungewissen Ausgangs des EU-Austritts, Gelassenheit an den Tag zu legen. Viele dort hoffen, dass es doch nicht zum Austritt kommt. Die Regierenden in Gibraltar bereiten sich derweil auf alle möglichen Szenarien vor.

Noch flattert das Sternenbanner der ­Europäischen Union am Grenzübergang zu Spanien gemeinsam mit dem Union Jack und der rotweißen Flagge Gibraltars. Der Grenzverkehr ist rege und flüssig, die Kontrollen sind lax. Hält man einen EU-Reisepass hoch, wird man prompt durchgewinkt und schon rollt man auf der Winston Churchill Avenue über das Rollfeld des Flughafens auf den ebenso imposanten wie geschichtsträchtigen Felsen von Gibraltar zu.

Für die Griechen der Antike war er eine der zwei Säulen der Herakles. Hier begann die islamische Eroberung des Westgotenreichs auf der Iberischen Halbinsel im Jahr 711. Der Feldherr Tariq ibn Ziyad gab dem markanten Berg seinen Namen, vom Arabischen »Jebel ­al-Tariq« (Berg des Tarik) leitet sich die Bezeichnung Gibraltar ab. Dicke Mauern, Artilleriebatterien, Bunker, Stollen und ehrfurchtgebietende Bastionen zeugen von Jahrhunderten der Belagerungen und Bedrohungen bis zum Zweiten Weltkrieg und der Blockade durch die faschistische Franco-Diktatur Spaniens. Der von Berberaffen bewohnte »Affenfelsen« ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Zwar musste Spanien bereits mit dem Frieden von Utrecht 1713 die nur 6,5 Quadratkilometer kleine Halbinsel den Briten abtreten, beansprucht sie aber bis heute.

»Das Beste wäre eine Aufhebung des Artikels 50. Damit würde man ein­­gestehen, dass die letzten zwei Jahre einfach nur ein Alptraum waren.«
Joseph John Garcia, stell­vertretender Chief Minister von Gibraltar

Es ist ein typischer Samstagvormittag. Einige der rund 35 000 Einwohnerinnen und Einwohner Gibraltars, von den Spaniern llanitos genannt, sitzen bei einem Pint Ale auf den Terrassen der Pubs oder lesen in der Sonne auf einer Bank am Hauptplatz, dem Casemates Square, den Gibraltar Chronicle. Die 1804 gegründete Zeitung ist eine der ältesten durchgehend erscheinenden der Welt. Jüdische Familien flanieren am Sabbat die Einkaufsmeile der Main Street entlang, Christen plaudern angeregt am Ausgang ihrer Kathedrale Saint Mary the Crowned. Spanische Tagesausflügler decken sich derweil mit Hochprozentigem und Zigaretten ein, britische ­Expats von der nahen Costa del Sol ebenso. Davon, dass womöglich ein chaotischer EU-Austritt droht, ist hier auf Anhieb nichts zu spüren.

 

Schmelztiegel am Südzipfel

Rechte spanische Parteien, allen voran die neofaschistische Vox, aber auch der rechtskonservative Partido Popular (PP), betonen stets, Gibraltar sei spanisch. Doch die kleine Halbinsel gibt sich very British – durchaus klischeehaft mit roten Telefonzellen, Sauberkeit, Ordnung und trockenem Humor – und darauf ist man hier stolz. Der ­Kontrast zur »andalusischen Lebensart« jenseits der Grenze ist groß. Zugleich ist Gibraltar ein regelrechter Schmelztiegel der Kulturen am südlichsten Zipfel Europas. Bergan von der Main Street wähnt man sich im Maghreb: Shawarma-Läden, Orient-Aromen, bunt getünchte Häuser und der nordafrikanische Dialekt des Arabischen sind omnipräsent. Auf dem Weg Richtung Jachthafen und »Klein-Irland« umgeben einen pakistanisch-indische Gerüche nach Curry und frisch frittierten Samosas. Auch der Schmuck- und Elektronikhandel Gibraltars ist fest in der Hand einstiger Auswanderer vom indischen Subkontinent. Jene Wirtschaftszweige sind nach Schiffsverkehr, Finanzdienstleistungen, Online-Glücksspiel, Immobilienhandel und Tourismus die wichtigsten der Ökonomie Gibraltars.

Sunita Shahani führt das Geschäft »Euro-Electronics« in der Main Street. Seit fünf Jahren lebt sie in Gibraltar, doch ihr Ehemann betreibt hier schon seit über 25 Jahren Elektronikläden. Erst wohnten beide in Spanien, mittlerweile haben sie eine Wohnung in Gibraltar. »Wir expandieren weiter. Mittlerweile haben wir zwei Läden an der Main Street«, sagt Shahani stolz. »Bisher ist das Geschäft auch nicht von den Brexit-Wirren negativ beeinflusst. Güter und Menschen können frei bewegt werden.« Sie verfolge die Nachrichten sehr genau und hoffe, »dass alles so bleibt wie bisher, ganz gleich wie das Abkommen aussehen wird«.

Essentiell sei die Beibehaltung der Landgrenze, denn die Zulieferung per Luftfracht würde die Preise ansteigen lassen. Verheerend wäre für das Geschäft eine ­restriktive Einreisepolitik für Arbeitnehmer aus dem grenznahen Spanien: »Wir hätten einen Engpass bei der Arbeitskraft«, konstatiert Shahani. Ihre Klientel sei international, die meisten Kundinnen und Kunden kämen aus Großbritannien, aber es seien auch Spanienurlauber darunter, die einen ­Tagesausflug nach Gibraltar machen. »Wir hoffen, dass unser Chief Minister ein gutes Abkommen herausschlagen kann«, sagt sie. Chief Minister von Gibraltar, also Regierungschef, ist derzeit Fabian Picardo, der Vorsitzende der ­Gibraltar Socialist Labour Party (GSLP).
Gegenüber von Shahanis Geschäft, bei »Krish Diamonds«, appelliert der Inhaber, der anonym bleiben will, an die Menschlichkeit. Als kleines Kind ist er 1947 mit seinem Vater aus Pakistan geflohen. »Wegen der Flüchtlinge und Immigranten stimmte England für den ›Brexit‹«, sagt er. »Man flieht nicht aus Jux und Tollerei. Mein Vater hatte Land und einen Betrieb in Pakistan, als der Krieg begann. Es ging ums Über­leben. Aber nichts wäre ihm lieber gewesen, als in seiner Heimat in Sicherheit leben zu können.« Die Menschen hätten alle dieselben Grundbedürfnisse, Sicherheit, Gesundheit und geliebt zu werden.

»Ressourcen gibt es für alle genug auf dieser Welt«, sagt der Diamantenhändler, dessen Kunden in erster Linie Betuchte aus Marbella und Puerto Banús sind.
Zwei Jahre Alptraum

Am Sitz des Gouverneurs und der Regionalregierung am Convent Place, vis-à-vis des Pubs »The Angry Friar« (Der wütende Mönch), empfängt den Besucher erst das Porträt der Queen, Elisabeth II., dann erscheint Joseph John Garcia, der stellvertretende Chief Minister. »Das Beste wäre eine Aufhebung des Artikels 50«, sagt er. »Damit würde man eingestehen, dass die letzten zwei Jahre einfach nur ein Alptraum waren und wir endlich daraus aufgewacht sind.«

»In Gibraltar, wo 96 Prozent im ›Brexit‹-Referendum für den Verbleib in der EU stimmten, ist man auf alle Szenarien vorbereitet«, sagt er. Garcia, 1967 in Gibraltar geboren, hat sein ­Regierungsamt seit 2011 inne. Er ist studierter Historiker und für die Außen­beziehungen verantwortlich. Als Vorsitzender der Gibraltar Liberal Party (GLP) war er einst auch Vizepräsident der Liberalen Internationale.

Er habe anstrengende Monate, ja zwei anstrengende Jahre, hinter sich, sagt er. Müde wirkt er aber nicht. »Es ist sehr schwer vorherzusehen, was passieren wird. Insbesondere wegen der politischen Lage im Vereinigten Königreich, die sehr instabil ist. Sie verändert sich so gut wie jeden Tag«, sagt Garcia in diesem Gespräch knapp zwei Wochen vor dem 29. März, dem ursprünglichen Austrittstermin. Das von der britischen Premierministerin Theresa May vorgelegte Austrittsabkommen ist bislang im britischen Parlament gescheitert, es droht ein Austritt ohne Abkommen (»No-Deal-Brexit«). Vergangene Woche wurde das Austrittsdatum verschoben.

Nichts von dem, was die vergangenen zwei Jahre passiert sei, habe man in Gibraltar gewollt, aber man akzeptiere die Mehrheitsentscheidung der britischen Wählerinnen und Wähler und bereite sich auf den Austritt vor, sagt Garcia. »Das beste Szenario: Gibraltar und England verbleiben in der EU, als ob nichts passiert wäre.« Dies sei ihm zu Jahresbeginn noch ziemlich unwahrscheinlich erschienen, doch »alles ­bewegt und verändert sich so schnell«.

Angesprochen darauf, ob es Parallelen zur Lage Nordirlands gebe, betont er die fundamentalen Unterschiede zwischen den beiden britischen Gebieten: »Wir waren nie in der EU-Zoll­union, wir produzieren keine Güter, wir haben keine Landwirtschaft, keine ­Fischereiindustrie. Für uns geht es darum, wie Menschen und Güter zwischen Gibraltar und der EU, in unserem Fall eben Spanien, bewegt werden können.«

Die Frage, ob Gibraltar durch die zwei turbulenten Jahre wirtschaftlich Schaden genommen habe, scheint ihm eine unbequeme zu sein. Die Filiale von Lloyds wandert nach Jersey ab, selbst auf der Einkaufsmeile der Main Street sieht man überraschend viele leere Geschäfte – der Hinweis »going out of business« auf mit Holz zugezimmerten Schaufenstern ist offensichtlich keine reine Marketingstrategie. »Wir haben keine signifikanten Veränderungen feststellen können«, sagt indes Garcia. »Vielmehr zählen wir neue Unternehmen, die sich ansiedeln, Finanzdienstleister, Online-Casinos und Online-Gaming-Firmen, Blockchain-Unternehmen und solche, die im Bereich der Neuen Technologien arbeiten.« Er gesteht ein, dass »einige Banken Gibraltar verlassen haben«, diese hätten aber ohnehin nicht viele Mitarbeiter gehabt. Da man keine produzierende Industrie habe, seien große Abwanderungen wie im Vereinigten Königreich für Gibraltar kein Problem. »Die Zahl der grenzüberschreitenden Pendler, die in Gibraltar arbeiten, aber in Spanien ­leben, stieg um etwa 1 000 im vergangenen Jahr, insgesamt sind es rund 14 700. Diese Indikatoren widersprechen einem Abflauen der Wirtschaftsleistung von Gibraltar«, wirbt er für den Standort.

 

Transparenz und Tabakschmuggel
 

Am 4. März, erst wenige Wochen vor dem ursprünglichen Austrittstermin, haben das Vereinigte Königreich und Spanien einen Vertrag zu Gibraltar unterzeichnet – den ersten seit den Utrecht-Verträgen von 1713. Es geht um Transparenz in Steuerfragen sowie die Unterbindung von Steuerbetrug und Geldwäsche. Ein Quell des Reichtums Gibraltars versteckt sich in einem Tunnel in einer Seitengasse: Tausende Postfächer für Briefkastenfirmen. »Wir haben längst Informationsaustausch in Steuerfragen mit Deutschland, mit den USA und vielen anderen Staaten. Spanien hatte sich bisher stets geweigert, ein solches Abkommen zu unterzeichnen. Wir sind sehr zufrieden damit, dass es nun geklappt hat«, bekräftigt Garcia. Spanien werde nun keinen Vorwand mehr für Streit haben, hofft er. Damit spielt er auf den Vorwurf Spaniens an, bei Gibraltar handele sich um ein »Steuerparadies«. Die spanische Regierung habe stets versucht, »unser Image und unsere Wirtschaft zu beschmutzen«, so Garcia. Doch nicht nur Steuerflucht beschäftigt Spanien, auch der Tabakschmuggel aus Gibraltar kostet den spanischen Fiskus alljährlich dreistellige Millionenbeträge in Euro.

»In den vergangenen 46 Jahren, in denen Gibraltar EU-Mitglied war, hat es stets eine sehr enge wirtschaftliche ­Beziehung zu Spanien gegeben«, betont der stellvertretende Regierungschef. »Wir importieren jedes Jahr Güter im Wert von 1,5 Milliarden Euro aus Spanien.« Täglich passieren rund 300 LKW die Grenze zu Gibraltar. Von den 14 700 Pendlern, die täglich zum Arbeiten kommen, sind über 10 000 Spanier, zumeist aus den Nachbarstädten; über 4 000 weitere haben EU-Staatsbürgerschaften.
Eine Lösung für die Pendler aus Spanien zu finden, ist zentral, denn beide Seiten, Gibraltar und Spanien, sind voneinander abhängig. Gibraltar bietet ­Arbeitsplätze für krisengeplagte Spanierinnen und Spanier, vor allem in der Bucht von Gibraltar rund um die Hafenstadt Algeciras, und Spanien bietet ­Investitionsmöglichkeiten im Immobilienbereich, etwa im nahen Sotogrande und der Provinz Cádiz.

Eine der Pendlerinnen ist Miriam Martínez Mena (34). Sie stammt aus Barcelona und arbeitet in einer typisch englischen Bäckerei am Casemates Square. Ein Teil ihrer Familie lebt in der Grenzstadt La Linea, also beschloss sie, in Gibraltar eine Stelle zu suchen. Seit fünf Jahren arbeitet sie hier. »Eine bessere Arbeit als hier findet man nicht, schon gar nicht in Andalusien«, sagt sie. Der große Vorteil sei neben dem höheren Einkommen der feste Arbeitsvertrag, den sie hier hat – in Spanien hat nur ein Bruchteil der Lohnabhängigen ihrer Generation unbefristete Arbeitsverträge. Der Verfall des Pfunds (der Wert des Gibraltar-Pfunds ist an die britische Währung gekoppelt) sei jedoch stark spürbar, betont sie. »Ich habe keine Angst vor dem, was kommen wird«, sagt Martínez. Zur Arbeit komme sie zu Fuß. »Wichtig ist die Einigkeit zwischen Spanien, Gibraltar und England«, unterstreicht sie. »Wir Spanier leisten die meiste Lohnarbeit in Gibraltar. Alle Seiten profitieren von der ­Kooperation und offenen Grenzen.«

 

Die Rechte in Spanien

Neben dem EU-Austritt drohen Gibraltar weitere Probleme. Sollte nach den Parlamentswahlen in Spanien am 28. April eine rechte Regierungsmehrheit zustandekommen, gestützt von oder mit Beteiligung der rechtsextremen Partei Vox, dürften sich die Beziehungen zu Spanien drastisch verschlechtern. Javier Ortega Smith, der Generalsekretär von Vox, wird wegen einer ­Aktion in Gibraltar im Vereinigten Königreich per Haftbefehl gesucht. Er hatte eine überdimensionale spanische Flagge am Affenfelsen ausgebreitet.
»Wir haben natürlich Präferenzen, und wir wissen, mit welchen Kräften wir besser zusammenarbeiten und welche wir kritisch sehen«, sagt Garcia dazu. Mit der Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) habe man stets kooperiert. Der PSOE regiert Spanien wieder seit vergangenem Jahr. Im benachbarten Andalusien wurde die PSOE-Regierung Anfang des Jahres allerdings von einer rechten Koalition abgelöst (Jungle World 4/2019). »Das Erstarken der rechten Parteien ist kein spanisches Problem, sondern ein zutiefst besorgniserregendes in vielen Staaten. In Spanien ist die Position der Rechten eine weit härtere, wann immer es um Gibraltar geht«, so Garcia. »Insbesondere in Wahlkampagnen ist Gibraltar für die Rechte ein willkommenes Thema.« Sie müsse nur darauf schimpfen, um ihre Wähler zu mobilisieren.

Auch der Inhaber von »The Star Bar«, dem ältesten Lokal am Felsen, Zoltan Krawczyk, warnt vor einer Regierungsbeteiligung von Vox. Er ist Ungar, lebt aber seit fast einer Dekade in Gibraltar. Bei einem halben Pint urbritischen Ales erzählt er von seinen Sorgen: »Dieses Jahr kommen 20 Prozent weniger Kreuzfahrtschiffe nach Gibraltar.« Einen Plan für das Worst-Case-Szenario habe er nicht. »Hier sind wir alle noch extrem entspannt – weil wir einfach nicht wissen, was passieren wird«, sagt er. »Was auch immer am Ende des ›Brexits‹ steht, am meisten wird es die Spanier betreffen, auf der anderen Seite der Grenze, und die, die hier arbeiten.« Er selbst habe drei spanische Pendler ­unter Vertrag.

Schlimmstenfalls bräuchten jene, die die Grenze nach einem britischen EU-Austritt passieren wollen, eine spanische Meldebestätigung, hat Krawczyk gehört. Das wäre vor allem für jene knapp 4 000 EU-Bürger problematisch, die nicht in Spanien gemeldet sind, etwa Polen und Rumänen. Unklar sei auch, wer schließlich ein Visum brauchen werde. In einem EU-Papier konnte Spanien mit Erfolg die Bezeichnung »Kolonie« für Gibraltar unterbringen – die allseits fällige EU-Visagebühr von 60 Euro wäre die Folge. Krawczyk selbst hält derweil an seiner ungarischen Staatsbürgerschaft fest und träumt von einem Haus im marokkanischen Casa­blanca, wenn er sich zur Ruhe setzt.