Die Niedrigszinspolitik verschafft Unternehmen mit zweifelhaften Gewinnaussichten Kredite

Die Zombies müssen leben

Gefördert durch die Geldpolitik der Zentralbanken erhalten immer mehr Firmen mit zweifelhaften Gewinnaussichten Kredite.

Der 10. März 2016 ist einer jener Tage, die vermutlich nur wenigen im Gedächtnis geblieben sind, tatsächlich aber von historischer Bedeutung waren. An diesem Tag senkte die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins für den Euro-Raum auf null Prozent. Banken konnten sich fortan also umsonst bei der EZB Geld leihen. Bereits einen Monat zuvor war die japanische Zentralbank einen Schritt weiter gegangen und hatte die Zinsen auf minus 0,05 Prozent gesenkt. Auch in den USA und Großbritannien war der jeweilige Leitzins zu diesem Zeitpunkt extrem niedrig, inzwischen ist er wieder leicht angestiegen.

Neun Prozent der 600 größten Unternehmen in Europa sollen laut einer Studie der Bank of America »lebende Tote« sein.

Noch nie war es so günstig, sich Geld zu leihen. Die Banken geben die niedrigen Zinsen an ihre Kunden weiter. Daraus ergeben sich zwei Probleme. Die Banken müssen nur einen geringen Teil des verliehenen Geldes selbst besitzen. Je nachdem, für wie vertrauenswürdig die Wirtschaftsprüfer den Kreditnehmer halten – was sich im sogenannten Rating ausdrückt –, kann die Eigenkapitalquote geringer oder höher sein. Meist ist sie geringer, und so »erschafft« die Bank Geld aus dem Nichts. Die Geldmenge weltweit wächst daher kontinuierlich.

Das größere Problem im Zusammenhang mit günstigen Krediten ist aber, dass sie immer mehr Kreditnehmer anziehen. Auch solche, deren Kreditwürdigkeit fraglich ist, beispielsweise weil sie keine Gewinne erwirtschaften. Einer dieser Kreditnehmer mit schlechtem Rating ist Netflix. Das Unternehmen verzeichnete 2018 einen Verlust von 2,85 Milliarden US-Dollar – die Ausgaben unter anderem für »Streaming Content Obligations«, also künftige Produktionen, lagen erheblich über den Einnahmen. Die Aktien des Streamingdienstes werden gemäß Ratings der Agenturen Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch als spekulative Anlage gehandelt. Die Netflix-Aktie hat »Ramschniveau«.

Dabei geht es dem Streamingdienst noch verhältnismäßig gut, die Kundenzahl wächst, die enormen Schulden sind Teil der Unternehmensstrategie. Die Verantwortlichen vertrauen darauf, die bisher geliehenen zehn Milliarden US-Dollar in Zukunft zurückzahlen zu können. Aber es gibt andere Unternehmen, die ebenfalls hohe Schulden und eine schlechte Bewertung haben, deren Zukunft weniger rosig aussieht, als die von Netflix. Insgesamt drei Billionen Dollar Schulden sollen in den USA allein Unternehmen mit einem Rating von BBB haben.

Sobald das Rating für ein Unternehmen schlechter ausfällt, werden die Anleihen spekulativ. Dann gelten Firmen als nicht mehr für Investitionen geeignet, viele Banken würden ihnen kein Geld mehr geben, ihnen droht die Insolvenz. Banken, die noch damit rechnen, das geliehene Geld irgendwann zurückbekommen, müssten diese Schulden abschreiben. Das Geld würde in anderen Bereichen, beispielsweise im Bildungs- und Sozialsektor, fehlen, überdies ist nicht sicher, dass staatliche Finanzhilfe eine Krise abwenden kann.

Eine Studie der Bank of America stufte bereits 2017 neun Prozent der 600 größten Unternehmen in Europa als »lebende Tote« ein. Dabei ist das Problem der überbordenden Schulden keines, das nur Europa und die USA betrifft. Auch in China, der zweitgrößten Nationalökonomie der Welt, droht eine Schuldenkrise. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) schätzt die Schulden in China auf 240 Prozent der Wirtschaftsleistung, mehr als 33 Billionen US-Dollar. Das Wirtschaftswachstum ist zwar weiterhin recht hoch und scheint stabil – es wurde durch die Finanzkrise und den Handelsstreit mit den USA kaum beeinträchtigt –, beruht aber weitgehend auf Krediten und teils gewagten Gewinnerwartungen. Auch in China gibt es viele »Zombies« unter den Unternehmen.

Auch in anderen Regionen der Welt haben sich immense Schulden aufgehäuft. Insgesamt beläuft sich die Summe des Geldes, das sich Unternehmen, Staaten und Privathaushalte weltweit geliehen haben, nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds auf rund 184 Billionen US-Dollar. Das ist fast doppelt so viel wie vor der Finanzkrise 2007/2008. Damals waren es rund 97 Billionen US-Dollar. All dieses Geld wurde verliehen in der Hoffnung, dass es mit Zinsen wieder zurückkommt. Welche Folgen hätte es, wenn dieses Geld nicht zurückgezahlt wird?

Dauerhaftes hohes Wirtschaftswachstum könnte dazu führen, dass der Schuldenberg abgebaut wird. Sehr wahrscheinlich ist dies derzeit nicht. Zu den üblichen Risiken der kapitalistischen Wirtschaft treten Handelsstreitigkeiten und Protektionismus, auch der Klimawandel bedroht die Weltwirtschaft. Der EU-Austritt Großbritanniens steht kurz bevor. Die EZB hat Anfang März angekündigt, dass der Leitzins mindestens bis Ende des Jahres bei null Prozent bleiben wird. Das angestrebte Wachstum bleibt jedoch aus.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geht davon aus, dass die Wirtschaft in Europa 2019 lediglich um ein Prozent wachsen wird, in Deutschland sogar nur um 0,7 Prozent. Es ist ein Dilemma: Steigende Zinsen könnten hochverschuldete Unternehmen in Bedrängnis bringen. Die Möglichkeit, die Konjunktur mit günstigen Krediten zu fördern, sind ausgeschöpft – billiger kann das Geld nicht mehr werden. Mit der Niedrigzinspolitik haben sich die Zentralbanken in eine Sackgasse manövriert.

Sollte die Konjunktur zurückgehenund die Kreditblase platzen, könnte dies eine Abwärtsspirale in Gang setzen. Leidtragende werden in erster Linie die Lohnabhängigen sein. Denn die kurzfristigen wirtschaftspolitischen Lösungsvorschläge auf die Krise folgen weiterhin vermeintlich bewährten neoliberalen Grundsätzen: Claudio Borio, Volkswirtschaftler bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, schlägt im Interview mit dem Magazin Capital etwa vor, den Arbeitsmarkt zu »flexibilisieren« oder »mehr Konkurrenz in der Wirtschaft zuzulassen«.

Im Falle eines Zusammenbruchs der Wirtschaft werden die Schuldigen vermutlich schnell gefunden sein. »Brecht die Macht der Banken und Konzerne!« lautet ein beliebter Slogan auf antikapitalistischen Demonstrationen. Dass das Problem jedoch nicht die Akteure in diesem bizarren Schauspiel sind, sondern dessen Drehbuch, gerät schnell in Vergessenheit.

Schulden und Kredite sind essentiell für das Funktionieren des kapitalistischen Wirtschaftskreislaufs. Man investiert in der Erwartung eines Profits. Mangelt es an sicheren und lukrativen Anlagemöglichkeiten, verlassen sich Investoren auf immer vagere und gewagtere Gewinnaussichten. Damit steigen die Ausfallrisiken, etwa wenn Netflix hinter den Konkurrenten Disney und Amazon zurückbleiben sollte.
Langfristige Lösungen für die Schuldenkrise sind derzeit nicht in Sicht. Ein Schuldenschnitt oder die Umstellung auf ein System, in dem private Banken kein Geld mehr durch Kreditvergabe schöpfen können, wären denkbar. Beides ist jedoch politisch kaum durchsetzbar. Schulden können auch durch Inflation entwertet werden, der EZB gelingt es jedoch nicht, die angestrebte Teuerungsrate von zwei Prozent zu erreichen.
Der Anlass einer Finanzkrise ist nicht vorhersehbar, die Voraussetzungen für eine solche sind jedoch in noch höherem Maß gegeben als 2007/2008. Aufgeschoben wird sie, indem man die Zombies weiter am Leben erhält.