Ralf Fücks, geschäftsführender Gesellschafter des Zentrums Liberale Moderne, im Gespräch über die Achse Berlin – Moskau

»Es ist der alte Traum russischer Großmachtpolitik«

Interview Von Johannes Simon

Das Zentrum Liberale Moderne widmet sich der Verteidigung der offenen Gesellschaft gegen autoritäre Entwicklungen und antiliberale Kräfte in Deutschland, der Europäischen Union und darüber hinaus. Ralf Fücks gehörte in den siebziger Jahren dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) an. Seit 1982 ist er Mitglied der Grünen, bei denen er zum Flügel der »Realos« zählt.

Warum lehnen Sie Nord Stream 2 ab, also den Ausbau von Nord Stream, der Ostseepipeline des russischen Erdgasförderunternehmens Gazprom?
Die Kritik an Nord Stream 2 hat unterschiedliche Dimensionen. Das Projekt konterkariert die Klimaziele der Europäischen Union, weil es auf Jahrzehnte hinaus ein hohes Volumen an Gasimporten aus Russland festschreibt. Europapolitisch spaltet Nord Stream 2 die EU. Das europäische Parlament hat sich gegen das Projekt ausgesprochen, die baltischen Staaten, Polen und die Skandinavier opponieren seit Jahren dagegen. Während die Bundesregierung in anderen Fragen die Einheit Europas beschwört, handelt es sich hier um ein unilaterales Projekt ohne Rücksicht auf unsere europäischen Partner.

Die dritte Dimension ist die Ukraine: Nord Stream 2 fällt der Ukraine in zweifacher Hinsicht in den Rücken. Erstens würde die Pipeline der Ukraine jährlich Transitgebühren in einer Größenordnung von zwei bis drei Milliarden Euro entziehen, das sind etwa 1,5 Pro­zent des ukrainischen Bruttosozial­produkts. Und zweitens, und vielleicht noch gravierender, macht das Projekt die Ukraine sicherheitspolitisch noch verwundbarer, weil zukünftig eine ­militärische Eskalation von Seiten des Kremls nicht mehr die europäische Gasversorgung gefährden würde. Nord Stream 2 vergrößert den militärischen Handlungsspielraum Russlands gegen die Ukraine, und das in einer Situation, in der in der Ukraine Krieg herrscht. Insofern steht dieses Projekt auch in Konflikt mit der Sanktionspolitik der EU und den Solidaritätsbekundungen für die Ukrainer. Alles zusammengenommen, halte ich Nord Stream 2 für einen der größten strategischen Fehler der großen Koalition.

Ihr Parteifreund Jürgen Trittin hat in einem Interview mit dem »Spiegel« vor kurzem gesagt, dass der Weg­fall der Transitgebühren für die ­Ukraine eigentlich kein Problem sei, weil diese nicht dem ukrainischen Staatshaushalt zugute kämen, sondern vorher durch Korruption ab­gegriffen würden. Zudem sei Nord Stream 2 gerade das Instrument, mit dem man Russland dazu bringen könne, die Gasversorgung der Ukraine nicht abzuschneiden.
Das ist wirklich ein argumentativer Salto Mortale. Nord Stream 2 ist die Alternative zur Modernisierung des zentraleuropäischen Pipelinenetzes, durch das bisher Gas aus Sibirien über die Ukraine und Polen geleitet wurde. Genau das ist auch das strategische Ziel des Projekts, nämlich die Ukraine aus dem europäischen Transitsystem auszuschließen. Und was das erste Argument betrifft: Sicherlich gibt es Korruption in der Ukraine, aber der Energiesektor ist gerade einer der Bereiche, in denen es in den vergangenen Jahren signifikante Fortschritte gegeben hat.

Nord Stream 2 wird besonders von den USA abgelehnt. Trittin sagte dazu, dass die US-Amerikaner das Projekt deswegen so vehement ablehnten, weil sie ihr eigenes Flüssiggas in Europa absetzen wollten. ­Außerdem beabsichtigen die USA, Russland wirtschaftlich insgesamt in die Knie zu zwingen, während Europa kein Interesse daran habe, ­»einen nuklear gerüsteten ›failed state‹ in der Nachbarschaft« zu ­haben. Gibt es da einen transatlantischen Interessenkonflikt?
Zu unterstellen, dass die US-amerikanische Kritik an Nord Stream 2 in erster Linie durch eigene Exportinteressen motiviert sei, halte ich für maßlos übertrieben. Unter dem Druck der Öffentlichkeit und des Kongresses hat Trump tatsächlich weitere Sanktionen gegen Russland verhängt. Dabei geht es nicht darum, Russland wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Es geht um eine Antwort auf eine schwere Verletzung der europäischen Friedensordnung: die Annexion der Krim und die hybride Kriegführung im Osten der Ukraine. Ein zweites Motiv ist die gezielte Kampagne russischer Internetagenturen während des US-amerikanischen Wahlkampfs. Das war ein Angriff auf die US-amerikanische Demokratie.

»Es gibt eine historische Strömung in Deutschland, die eine Achse Berlin – Moskau als strategisches Ziel verfolgt und ein Sonderverhältnis zwischen Deutschland und Russland wünscht.«

In der Öffentlichkeit kursiert die Darstellung, dass Trump prorussisch eingestellt sei, während der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) als Verteidiger der liberalen Weltordnung, also auch des westlichen Bündnisses gegen Russland, gilt. Bei Nord Stream 2 scheint die Sache aber andershe­rum zu sein: Die USA fordern eine härtere Politik gegen Russland, während Deutschland die wirtschaftlichen Beziehungen ausbauen möchte. Wie erklären Sie sich das?
Es gibt eine historische Strömung in Deutschland, die eine Achse Berlin – Moskau als strategisches Ziel verfolgt und ein Sonderverhältnis zwischen Deutschland und Russland wünscht. Das geht zurück bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts, wo es schon die Vorstellung gab, Russland als Rohstofflieferanten an Deutschland zu binden und im Gegenzug Deutschland als den Hauptindustriepartner Russlands ins Geschäft zu bringen. Das ist die alte Denke, und die ist immer noch virulent. Die deutsche Wirtschaft hat enorm viel in Russland investiert. Solange man sich mit der Machtspitze ­arrangiert, hat man Protektion. Das ist genau das Muster, das hinter Nord Stream 2 steckt.

Könnte man sagen, dass Nord Stream 2 eine Art Stellvertreterkonflikt ist in diesem größeren Konflikt um das deutsche Verhältnis zu Russland?
Ja, und ich denke, er bringt auch die Zwiespältigkeit der deutschen Politik zum Ausdruck. Einerseits hat Merkel nach dem Überfall auf die Ostukraine mit Sanktionen geantwortet und sich dafür eingesetzt, dass die EU bislang bei dieser Linie bleibt. Auf der anderen Seite gibt es immer noch die Vorstellung, man könnte die russische Politik durch intensive Geschäftsbeziehungen besänftigen. Ich halte die Idee von »Wandel durch Annäherung« im Falle Russlands wie Chinas für eine völlige Illusion. Putin braucht die deutsche Wirtschaft, um sein Herrschaftssystem zu stabilisieren.

Sie sehen den Konflikt aus einer normativ-politischen Perspektive als den Kampf zwischen liberaler Ordnung und autokratischer Aggression. Was spricht dagegen, diesen Konflikt als Ausdruck eines Interessengegensatzes zwischen Nationalstaaten zu betrachten?
Sie zitieren die realistische Schule der Außenpolitik, die nur von machtpolitischen Interessen ausgeht. Das wäre aus meiner Sicht ein schwerer Rückfall – nicht nur hinter 1989, sondern sogar hinter den Helsinki-Vertrag von 1975, in dem ausdrücklich nicht nur von militärischer Sicherheit und wirtschaft­licher Zusammenarbeit die Rede war, sondern auch von der Achtung der Menschenrechte, von Gewaltverzicht, Anerkennung der Grenzen. Das war die Grundlage für eine europäische Friedensordnung, die an bestimmte Werte gebunden ist. Darum geht es gegenwärtig international und auch in unseren eigenen Gesellschaften. Das, wovon wir dachten, es wäre eigentlich schon selbstverständlich, steht wieder zur Disposition. Das Völkerrecht, die Helsinki-Prinzipien, aber eben auch die Grundwerte einer offenen Gesellschaft. Das kann man nicht voneinander trennen.

Diese außenpolitischen Konflikte haben also auch eine gesellschaftspolitische Dimension?
Ja, natürlich. Es ist der alte Traum russischer Großmachtpolitik, das transatlantische Bündnis zu sprengen und damit Europa in das eigene Gravitationsfeld zu ziehen. Fatalerweise haben wir zurzeit einen amerikanischen Präsidenten, der selbst immer wieder lautstark über einen Austritt aus der Nato oder die Auflösung des transatlantischen Bündnisses nachdenkt, und damit den strategischen Zielen Putins in die Hände arbeitet. Bei aller Kritik, die man an ihrer Außenpolitik, der Irak-­Intervention etwa, haben muss, waren die USA ihrem Selbstverständnis nach immer ein Ankerpunkt der liberalen Demokratie. Das wird zurzeit von innen heraus grundsätzlich in Frage gestellt.

In einer Rede vor der Uno sprach Donald Trump davon, die USA wollten niemandem mehr vorschreiben, wie er zu leben habe; Amerika stehe nicht mehr für den Globalismus, sondern für die »Doktrin des Patriotismus«.
Ich bin auch nicht dafür, jemandem vorzuschreiben, wie er leben soll, aber die Weltgemeinschaft hatte sich auf normative Grundsätze verständigt, die nicht nur die Kriegsgefahr eingedämmt haben, sondern auch den Raum dafür öffneten, dass sich seit den sieb­ziger Jahren weltweit eine lange Welle der Demokratisierung aufgebaut hat. Zurzeit erleben wir einen autoritären Rollback. Wenn man diese Werte aufgibt, verschwimmt die Differenz zwischen Demokratie und autoritärer Herrschaft.

Stellt sich nicht die Frage, ob man diesem Anliegen der universellen ­liberalen Werte am besten dient, indem man eine aggressive Macht­politik gegen Russland betreibt, oder nicht doch eher durch Entspannungspolitik?
Ich halte das für eine falsche Alternative. Erstens geht es nicht um eine aggres­sive Machtpolitik. Ich kenne niemanden im Westen, der Russland militärisch bedrohen will. Russland stehen doch alle Türen offen, bis hin zu einer As­soziation mit der europäischen Union und der Partnerschaft mit der Nato – wenn die russische Politik bereit ist, die Prinzipien friedlicher Zusammenarbeit zu respektieren. Aber wenn diese Ordnung ständig von Russland angegriffen wird, müssen wir mit einer Politik antworten, die Kooperationsan­gebote mit Einhegung und auch mit Abschreckung verbindet.

Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage halten 73 Prozent der deutschen ­Bevölkerung Nord Stream 2 für richtig und 77 Prozent stimmen der Aussage zu, dass Trump und der US-amerikanische Botschafter Richard Grenell Deutschland erpressen wollten. Wie erklären Sie sich das?
Grenell ist ein Unglücksrabe. Selbst wenn er in der Sache mal was Richtiges sagt, tut er das in einer Weise, die all die antiamerikanischen Ressentiments bedient, die in Deutschland tief verwurzelt sind. Es ist schon was dran an dem bon mot, dass die Deutschen den Amerikanern nie verzeihen werden, dass sie von ihnen befreit worden sind. Grenell tritt wie ein Elefant im Porzel­lan­laden auf und macht sich zum Kronzeugen für eine komplett irreführende Sichtweise: dass nämlich Nord Stream 2 eine Auseinandersetzung zwischen ­Europa und Amerika sei. Das bringt mich wirklich auf die Palme. Wir haben jahrelang die Kritik der EU-Kommis­sion, des EU-Parlaments, der euro­päischen Nachbarstaaten ignoriert. Das hat die deutsche Politik einen feuchten Kehricht interessiert. Und jetzt versucht man auf europäische Einheitsfront ­gegen Amerika zu machen. Das ist eine völlige Verdrehung des Konflikts.

Ist der Kampf gegen Nord Stream 2 überhaupt noch zu gewinnen? Die Pipeline ist zum Teil schon gebaut, und man müsste große Vertragsstrafen an Gazprom zahlen, wenn man das Vorhaben noch abbricht.
Meines Erachtens hätte die Bundesregierung die Möglichkeit, unter Berufung auf europäische Sicherheitsinteressen dieses Projekt erst einmal auf Eis zu legen und zu sagen: Es gibt keinen Weiterbau, bevor es nicht eine Ver­ständigung über A, B und C gibt. Das wäre das Mindeste, was getan werden muss. Die Bundesregierung hatte kein Problem, Genehmigungen für Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien zu widerrufen, nachdem Jamal Khashoggi in der saudischen Botschaft in Ankara abgeschlachtet worden war. Sie hat damit gezeigt, dass es einen Primat der Politik gibt, wenn zentrale außenpolitische Interessen der Bundesrepublik berührt sind.

Aber realistisch betrachtet?
Es hängt sehr stark von dem Druck ab, nicht aus Washington, sondern aus ­Europa. Das ist die einzige Chance, dieses Projekt noch zu stoppen. Merkel wäre vielleicht dazu bereit, aber sie weiß, dass die SPD wohl nicht mitgehen würde. Dann würde sich wahrscheinlich die Koalitionsfrage stellen.