Im Erdölfördergebiet Kolumbiens wehren sich indigene Gemeinden gegen ihre Verdrängung

Hinter den Pipelines

In der Region Caño Limón im Nordosten Kolumbiens wurden in den neunziger Jahren Indigene und Kleinbauern vertrieben, um dort Öl zu fördern. Einige der vertriebenen Familien kehrten jedoch zurück und besetzten das Land, da sie sonst kaum überleben hätten können. Seither trotzen sie den Angriffen der Erdölgesellschaft, staatlicher Repressionskräfte und paramilitärischer Gruppen.

Über den Bildschirm des Fernsehers in einem kleinen Straßenimbiss flackern Bilder einer zerstörten Erdölpipeline. Der Reporter spricht vom auslaufenden Öl, den verheerenden Auswirkungen auf Mensch und Natur. Es geht um einen Angriff in der Region Caño Limón auf die 780 Kilometer lange Erdölpipeline im Besitz der Betreibergesellschaft Eco­petrol. Die Pipeline verbindet das Förder­gebiet in der Provinz Arauca mit dem Hafen von Co­veñas an der karibischen Küste, von wo aus durchschnittlich 50 000 Barrel Rohöl pro Tag in die ganze Welt verschifft werden.

Zuletzt wurde die Pipeline am 21. November angegriffen. Damit stieg die Zahl der Anschläge in diesem Jahr auf insgesamt 83. Etwas Öl trat aus und droht, Gewässer in der Region zu kontaminieren. Doch der Schaden hätte noch größer sein können. Denn die Pipeline war seit dem 25. August nicht in Betrieb – wie die meiste Zeit dieses Jahres. Denn immer wieder kommt es zu Anschlägen auf die Pipeline, für die meist die kolumbianische Guerilla Ejército de Liberación Nacional (ELN) verantwortlich gemacht wird, und zu Öldiebstählen. Die Anführer des ELN werfen der kolumbianischen Regierung vor, die natürlichen Ressourcen auf Kosten der Bevölkerung auszubeuten, die nicht davon profitiere.

Die Region Caño Limón liegt im Bezirk Arauquita in der Provinz Arauca, unmittelbar an der Grenze zu Venezuela. Caño Limón ist auch der Name des riesigen Erdölfelds. Nicht weit entfernt von den Erdölquellen verläuft der mächtige Fluss Arauca, der Kolumbien und Venezuela voneinander trennt.

Seine Nebenarme prägen die Landschaft aus Sumpfgebieten, Lagunen und feucht­tropischen Wäldern. Um das Erdöl zu fördern, vertrieb der Erdölkonzern Occidental Petroleum (OXY) in den neunziger Jahren die dort ansässigen Kleinbäuerinnen und -bauern mit Hilfe des kolumbianischen Staats. Doch einige von ihnen kehrten zurück, denn Entschädigungen oder andere Möglich­keiten, ihr Überleben zu sichern, wurden ihnen verwehrt.

 

Mitten im Urwald

Jedes Jahr besucht eine Delegation der Solidaritätsorganisation Red de Hermandad y Solidaridad con Colombia (Red Her) auf ihrer Caravana por el Territorio y la Dignidad de los Pueblos (Karawane für das Territorium und die Würde der Völker) bedrohte Gemeinden in Kolumbien. Der Weg nach Caño Limón ist beschwerlich. Auf der Fahrt in eine der Landbesetzungen passiert man zahllose Militärsperren. Die Mitglieder der Delegation steigen aus Fahrzeugen aus und ein, öffnen immer wieder das Gepäck, werden durchsucht und befragt. Bei der letzten Kontrolle sind nicht nur Militärangehörige anwesend, sondern auch Mitarbeiter des Ölkonzerns Oxy. Sie betreiben den Kontrollposten offenbar gemeinsam. Es gibt gar Gerüchte, dass Oxy das Militär direkt finanziert. Hier betritt man umkämpftes Gebiet.

Kurz nach der Einfahrt in das Ölfördergebiet schimmern in der Ferne die ersten Hütten durch den Wald. In dieser unwegsamen Region lebten traditionell vor allem drei indigene Gruppen, bevor die spanischen Kolonisatoren 1657 auch diese Gegend erreichten. Besiedlung in großem Stil begann allerdings erst 1962, als der Staat Bauern ansiedelte. Fast alle von ihnen waren Vertriebene und Opfer des bewaffneten Konflikts in Kolumbien, der 1948 begonnen hatte. In den neunziger Jahren machte die steigende Nachfrage nach Öl die ressourcenreiche Region inte­ressant. Die Regierung nutzte die Unwissenheit der Bauern und anderer Anwohner aus, versprach Arbeit und Fortschritt. Keiner hegte damals den Verdacht, dass der versprochene Boom für Vertreibung und Elend sorgen werde.

Vor rund 55 Jahren ließ sich hier auch die Familie von Dixon Torres nieder, dem Sprecher einer der Landbesetzungen, der Siedlung »El Vivero«. »Ein Bauer ohne Land ist kein Bauer. Aber das sollten wir erst später begreifen«, sagt er. Die Regierung vertrieb unter Einsatz der Polizei und des Militärs die Bauernfamilien und die hier ansässige indigene Gruppe der Sikuani. Die Indigenen mussten in die umliegenden Dörfer fliehen und verloren ihre kulturelle und ökonomische Selbstbestimmung. Staatliche Kräfte machten die Bauernsiedlungen dem Erdboden gleich, vergifteten die Ernte und inhaftierten massenhaft Anwohnerinnen und Anwohner.

»Mein Vater war im Gefängnis, als ich 1991 geboren wurde«, erzählt Torres in der Schule der Besetzung, die aus einem Dach auf Pfählen und ein paar provisorisch zusammengezimmerten Holzbänken im Schlamm besteht. Die schwüle Hitze macht schläfrig. Ein schwarzer junger Hund liegt am Boden und lässt sich nicht von den zahlreichen Fliegen um ihn herum stören. Überall schwirren Moskitos und Stechfliegen, aus dem sumpfigen Urwald ertönen immer wieder Rufe von Vögeln und anderen Tieren. Um dieses Land kämpfen die Besetzerinnen und Besetzer. Mit ihren Eltern und Großeltern wurden sie 1995 von hier vertrieben, 175 Familien mussten damals aus Caño Limón fliehen. Sie sollten laut einem Abkommen zwischen der Regierung, der Ölfirma Oxy und den Gemeinde­sprechern umgesiedelt werden, bekamen jedoch nichts. 175 Familien habe sehr viele Menschen bedeutet, erklärt Torres mit einem Grinsen: »Das Thema Verhütung interessierte damals noch niemanden.«

 

Das Land zurückerobern


Zwei der Bauern kochen zwischen improvisierten Hütten aus Plastikplanen und Scharen von Hühnern einen sancocho, einen deftigen Eintopf, auf Holzfeuer, um ihn den Besucherinnen und Besuchern anzubieten. Erst 2013 trauten sich die Vertriebenen wieder auf ihr Land zurück, 99 Familien organisierten sich. Torres war von Beginn an dabei: »Kaum waren wir aufgebrochen, stellten sich uns Militär, Polizei und die privaten Schergen von Oxy in den Weg.« Bei der ersten Besetzung gab es unzählige Verletzte, staatliche Kräfte schossen mit scharfer Munition. »Wir erkennen das Militär und die Polizei nicht als legitim an. Für uns sind das nichts als Söldner«, sagt Torres und ein älterer Mann pflichtet ihm bei.

»Dort, wo in meiner Kindheit unser Haus war, die Schule, der Weg zwischen den Häusern, fanden wir nur Urwald vor«, erinnert sich der ältere Mann, dessen Gesicht unter einem breiten Hut verborgen ist. Die entschlossenen Familien erobern das Land zurück. Sie bauen Nahrungsmittel an, halten Tiere und errichten improvisierte Behausungen inmitten der Natur. Sie bewirtschaften als Kollektiv die Felder mit Mais, Kürbis, Maniok, Kochbanane, Kakao, Salaten und Kräutern sowie Obstplantagen mit Maracuja, Papaya, Guaven und Zitrusfrüchten. Zudem hat jede Familie eine kleine Parzelle, auf der sie eigenes Gemüse anbauen kann. Alle haben gleich viel Land, unabhängig davon, wie umfangreich der Besitz ihrer Familien zuvor war.

Doch die Besetzungen bleiben bedroht. Militär und Polizei versuchen im Auftrag von Oxy weiterhin, die Siedlerinnen und Siedler zu vertreiben. Sie zerstören die Camps, vernichten die Vorräte an Lebensmitteln und bedrohen die Menschen. »Aber wir haben uns entschieden«, sagt Torres. »Hier holen sie uns nur mit den Füßen zuerst heraus.« Oxy hat mindestens 16 Bauern wegen Umweltzerstörung, Raub, Eigentumsverletzung und Bedrohung staatlicher Institutionen angezeigt. Para­militärische Gruppen haben Morddrohungen gegen die Besetzerinnen und Besetzer ausgesprochen und hinterlassen einschüchternde Schmierereien. Dem Protest der Besetzer wohlgesonnene Politiker und Richter bekommen Morddrohungen. Des Öfteren tauchen bewaffnete Männer in der Siedlung auf und fragen nach einzelnen Personen. Die Zugänge und Wege werden zerstört oder mit Stacheldraht versperrt. »Aber für jeden versperrten Weg tun wir einen neuen auf. Wir kennen diese Region besser, der Wald ist unser Zuhause«, erklärt ein Bauer.

Die Ölfirma arbeitet aber nicht nur mit Drohungen, sondern verhandelt auch. Sie wollte die Familien umsiedeln, aber die trauen den Versprechungen nicht mehr. Ihre Verbundenheit mit dem Land ist stärker als die Angst vor Repressalien. »Wir wollen, dass kein Öl gefördert wird. Weiter haben wir mit Oxy nichts zu besprechen«, sagt Torres bestimmt. Die Bäuerinnen und Bauern sind fest entschlossen, keine weitere Förderanlage zuzulassen. Denn der einst versprochene Fortschritt trat nicht ein, stattdessen wurde die Umwelt geschädigt. Wenige Meter neben den Hütten verläuft ein schlammiger Fluss, ehemals schiffbar, doch sind nur Morast und Pfützen übergeblieben. Der Ölkonzern pumpt das gesamte Wasser der Region ab. Torres zufolge gab es 29 solcher Zuflüsse zur Lagune Lipa. Dieses einmalige Ökosystem aus Flüssen und Seen mit endemischen Tier- und Pflanzenarten wur­de von Oxy bereits zerstört. Mehr als 200 Förderanlagen hat die Firma in Caño Limón in Betrieb, eine davon keine 50 Meter von der Siedlung »El ­Vivero« entfernt. Insgesamt umfasst das Erdölfeld ein Gebiet von rund 100 000 Hektar. Torres und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter haben bereits 4 000 davon zurückerobert. Er möchte, dass das Gebiet zur bäuerlichen Autonomieregion deklariert wird.

 

Bedrohtes Ökosystem

Derzeit ist es nicht für die Landwirtschaft ausgewiesen. Die Regierung verfolgt die Strategie, Gebiete zu Naturschutzzonen zu erklären, nur um sie später den Erdöl- und Bergbaufirmen zu überlassen. In Caño Limón hatte das Umweltministerium bereits in den achtziger Jahren eine Schutzzone eingerichtet. Mit der Erklärung zum Naturschutzgebiet wurden auf 142 125 Hektar das Jagen und Fischen sowie die Landwirtschaft verboten. Damit wurde Indigenen und Bauern die Lebensgrund­lage entzogen, die auf Subsistenzwirtschaft beruht. Das Schutzgebiet wurde dann an die Ölfirma Oxy übertragen, die dort Öl fördern darf, was angeblich nachhaltig geschieht. Für Torres ist das eine verkehrte Welt: »Mein Maisfeld soll die Umwelt zerstören, aber eine Ölförderanlage nicht?« Er ist überzeugt: »Die Umweltbehörde arbeitet mit der Wirtschaft Hand in Hand.«

Bereits zwei Jahre nach Beginn der Förderung kamen unabhängige Studien zu dem Schluss, dass die Ökosysteme der Flüsse stark bedroht seien. Sie berichteten von dramatischem Fisch­sterben. Die Artenvielfalt der Region, die einst dazu geführt hatte, dass sie zum Schutzgebiet deklariert wurde, war bereits beträchtlich reduziert und die Wasserläufe hatten sich radikal geändert. Die landwirtschaftliche Produktion ging wenige Jahre nach Förderbeginn auf den Ölfeldern spürbar zurück – allein der Maisanbau um 70 Prozent.

Wer auf Arbeit bei Oxy gehofft hatte, wurde schnell enttäuscht, denn die Firma brachte Facharbeiter mit und stellte nur wenige Menschen aus der Region ein – ohne langfristige Verträge. Es ist verständlich, dass so etwas bei einigen Menschen zu großer Wut führt und Gruppen wie die Guerilla ELN weiterhin aktiv sind. Angesprochen darauf, was die Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung vom Friedensprozess der kolumbianischen Regierung mit der Guerillagruppe Farc halten, sagt ein Mann, der sich bislang nicht geäußert hatte, nachdenklich: »Wir haben von der Regierung und der Farc nichts erwartet.« Auf eine Frage nach dem Friedensprozess mit dem ELN und dazu, wie deren Anschläge aufgenommen werden, erwidert er: »Was ist ein Anschlag auf eine Ölpipeline, die dann sofort blockiert, gegen den täglichen Angriff von Oxy und der Regierung auf unsere Lebensform? Weißt du eigentlich, wie viele Barrel Öl jeden Tag als Kollateralschaden bei der Ölförderung austreten?«