Wie sich das Gedenken an die Maidan-Proteste geändert hat

Was von der Revolte übrig blieb

Vor fünf Jahren begannen in der Ukraine die als »Euromaidan« bekannten Proteste gegen die Regierung von Wiktor Janukowytsch. Inzwischen werden sie oft nationalistisch und religiös aufgeladen.

»Wer nicht da war, weiß nicht, wie kalt es gewesen ist, wie furchteinflößend. Nur der Geist der Freiheit wärmte die Seele! Und die Hoffnung, das Böse zu bekämpfen!« Es ist der 21. November.

Eine alte Frau hält eine aufgeregte Rede vor ein paar Dutzend Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Vor exakt fünf Jahren versammelten sich hier die ersten Protestierenden gegen die damalige Regierung von Präsident Wiktor Janukowytsch. Die meisten Einwohnerinnen und Einwohner Kiews ignorieren das Jubiläum der Proteste. In den Einkaufszentren am Maidan sitzen die Menschen in Cafés, während auf der anderen Seite der Fensterscheiben verfrorene Männer patri­otischen Reden lauschen. Die meisten von ihnen sind älter, einige tragen ­Uniformen.

2014 kamen am selben Datum Tausende, um das erste Maidan-Jubiläum zu begehen. Trotz des Kriegs im Osten des Landes zwischen prorussischen ­Separatisten und ukrainischen Soldaten und Milizen herrschte damals noch Aufbruchstimmung. Das hat sich geändert. An diesem Abend ist von Reform und Europa wenig die Rede. Die Reden sind patriotisch, kriegerisch, teilweise religiös und voller Wut. »Was werden wir tun?« ruft die alte Frau inbrünstig. »Werden wir tanzen, werden wir singen? Nein, nein, meine Brüder, wir werden unsere Waffen nehmen und sie töten und sie mit Feuer verbrennen! Gott soll sie strafen! Wofür tötet ihr unsere Söhne? Die ukrainische Nation wird euch nie vergeben!« Immer wieder hallen schwach der Ruf »Ruhm der Ukraine« und die formelhafte Antwort »Ruhm den Helden« über den Platz, während sich die Redner abwechseln.

Wären da nicht die Kamerateams der ukrainischen Fernsehsender, hätte man kaum das Gefühl, einem historischen Jubi­läum beizuwohnen, sondern eher der Demonstration einer patriotischen Kleinpartei.

»Warum bin ich hingegangen? Auf der einen Seite war es unsere patriotische Pflicht. Auf der anderen Seite war es einfach sehr extrem, große Gefühle.« Ilya, ehemaliger Maidan-Demonstrant

Ein anderer Redner spricht von den »Moskowitern, die seit 300 Jahren versuchen, die Ukraine an sich zu reißen«. Für Nationalisten ist der derzeitige Konflikt nur eine Etappe im jahrhundertealten Kampf der Ukrainer um ihre Selbstbehauptung. Freiheit heißt für sie, eine souveräne Nation zu sein, die sich verteidigen kann und ihre Sprache pflegt. Es ist schwer zu sagen, wie viele derjenigen, die vor fünf Jahren auf die Straße gingen, einer solchen Idee von Freiheit anhingen. Aber heute ist sie allgegenwärtig. »Armee, Sprache, Glaube«, heißt der Leitspruch des Wahlkampfs von Präsident Petro Poroschenko.

Poroschenko, einer der mächtigsten sogenannten Oligarchen des Landes, ist unpopulär. Korruption, Armut, Krieg – daran hat sich wenig geändert. Er tut deshalb, was in der ukrainischen Politik Tradition hat: Er stellt nationale Fragen in den Mittelpunkt, Sprachenpolitik, Themen, die polarisieren, aber zumindest manche an die Wahlurnen treiben werden, auch wenn sie andere Teile der Bevölkerung von der Regierung entfremden.


Geschichte mit Facebook

Eine große Installation auf dem Unabhängigkeitsplatz preist die bevorstehende Unabhängigkeit der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die sich endlich vom Patriarchat von Moskau lossagen wird. Erst da­hinter, im Schatten der Ikonenwände, befindet sich das anlässlich des Jahrestags errichtete Maidan-Denkmal. Es gleicht einem Heldengedenken. Wo in den schweren Tagen im Februar 2014 die Barrikaden brannten und schließlich wahllos in die Menge geschossen wurde, soll ein Denkmal für die Toten errichtet werden. Ein deutsches Architekturbüro hat den Designwettbewerb mit einem großen, klassisch anmutenden Bau gewonnen. Wie ein Tempel wird das »Maidan-Museum« über dem Platz thronen. »Dies ist ein heiliger Ort nicht nur für uns alle, die wir dort die Stellung hielten, sondern für jeden Ukrainer«, hatte Poroschenko angekündigt, als er das Gesetz zur Errichtung des Denkmalkomplexes unterzeichnete.

Die Eskalation der Gewalt auf dem Maidan vollzog sich damals schrittweise über den Winter. Am 16. Januar wurden die »Diktaturgesetze« verabschiedet, die öffentlichen Protest krimina­lisierten.

Die Protestierenden radikalisierten sich. Erstmals wurden bei Kämpfen Molotow-Cocktails eingesetzt. Ende Januar gab es die ersten Toten. Als die Demonstrierenden in Kiew am 18. Februar versuchten, die Polizeiabsperrungen in Richtung Regierungsviertel zu durchbrechen, wurde auf sie das Feuer eröffnet. In den folgenden Tagen wurden fast hundert Menschen erschossen. Viele der Täter sind nie eindeutig identifiziert worden. Als nicht ­sicher geklärt muss auch gelten, ob und in welchem Umfang es neben den ­Regierungstruppen auch bewaffnete Provokateure gab, die an der Eskalation mitwirkten. Angesichts ­dieser Ungewissheiten und der mangelnden Aufklärung propagiert die ­Regierung eine Erzählung, die vor allem moralische Klarheit schaffen soll. Die Regierung Janukowytsch habe sich durch die Taten Ende Februar ins Unrecht ­gesetzt. Die öffentliche Ehrung der ermordeten »Himmlischen Hundert«, die von der folgenden Regierung zu »Helden der Ukraine« erklärt wurden, den Umsturz ohne Ambivalenz.

Eine Installation auf dem Platz erzählt die Geschichte des Maidan anhand von Facebook-Posts ukrainischer Bürgerinnen und Bürger. Auch hier ist die brutale Repression seitens der Regierung eines der Hauptmotive. »Freunde sagten, dass sie weinten, als Demonstranten umzingelt und geschlagen wurden, als sie sahen, wie bewusstlose Mädchen von der Berkut an den Beinen über den Asphalt gezogen wurden«, heißt es in einem der ersten Posts. Die berüchtigte Sondereinheit Berkut, die für den Tod zahlreicher Demonstrierender verantwortlich gemacht wurde, wurde nach dem Sturz Janukowytschs aufgelöst.

Die sozialen Medien spielen eine wichtige Rolle für den Mythos Maidan. Es war schließlich ein Facebook-Post, mit dem alles begann. Zunächst kamen vor allem Studierende, die nicht ahnen konnten, was sich aus ihrer spontanen Demons­tration entwickeln würde. ­Wenige Tage später jagten und schlugen die Berkut-Einheiten die Demonstrierenden. Der Protest wuchs. Am 1. Dezember 2013 gingen Hunderttausende auf die Straße, empört über die Brutalität der Regierung. Es entstand eine Massenbewegung. Doch während die Bevölkerung eine friedliche Lösung wünschte, begannen bald die Kämpfe.

Im Ausland verbindet man mit den Maidan-Protesten große Themen wie Geopolitik, das Verhältnis zu Europa und die Verteidigung der Demokratie. Spricht man mit Beteiligten, scheint oft die Gewalt die prägendste Erfahrung dieser Monate gewesen zu sein. Gewalt durch den Staat, die Berkut-Einheiten, die Tituschki, vermummte Provokateure, aber auch durch militante Demonstrierende selbst.

Ilya war Student und gerade 18 Jahre alt, als es damals losging. Heute spricht er über diese Zeit mit der für viele ­Ukrainer typischen Direktheit: »Warum bin ich hingegangen? Das hatte zwei Seiten. Auf der einen Seite war es unsere patriotische Pflicht, für unsere Rechte einzustehen. Der Präsident war korrupt, kam aus der ostukrainischen Mafia. Auf der anderen Seite war es einfach sehr extrem, große Gefühle. Dort zu sein, mit Hunderten, Tausenden Menschen. Um dich herum Granaten, alles brennt – das war etwas Besonderes.«

Dass der Maidan von Rechtsextremen vereinnahmt worden sei, sei ein ­Mythos, meint Ilya. »Solche Leute waren da, mit Hakenkreuzen und Wolfs­angeln. Das ist ein Fakt. Aber das waren vielleicht fünf Prozent der Leute, die die Revolution gemacht haben. Die ­russischen Medien haben das dargestellt, als wären es 95 Prozent. Das ist Bull­shit«, sagt Ilya.

 

Immer wieder Gott
 

Auch die am Maidan-Denkmal offerierte Geschichtsversion benennt die Gewalt als prägendste Erfahrung dieser Monate. Aus den damaligen Facebook-Texten spricht glühender Patriotismus.

»Drei Dinge sind mir heute passiert: 1. Ich glaube an Gott. 2. Ich wurde Nationalist. Und 3. Ich war frei von Angst. Gott ist mit uns, die Ehre und die Kraft sind mit uns, das Volk ist mit uns!« schrieb ­Fedor Siytsov. Viele Texte schildern, wie in den Kämpfen eine neue, patriotische Gemeinschaft entstanden sei. »Ein Verteidigungskämpfer bedeckte meinen Körper mit seinem eigenen. So brüderlich, so sanft, so dass, Gott behüte, keine Kugel mich treffen würde«, heißt es etwa in einem der ausgestellten Posts.

»Die Atmosphäre auf dem Maidan war schrecklich«, schrieb Natalka ­Didenko am 22. Februar 2014. »Ich habe nie zuvor geradezu körperlich erlebt, wie Wut, Schmerz und Machtlosigkeit tausendfach wuchsen, darüber, nicht unmittelbar die Verursacher unseres Schmerzes bestrafen zu können.« Kurz nach dem Massaker floh Januko­wytsch außer Landes.

Der US-amerikanische Historiker William Risch, der viele Jahre in der ­Ukraine lebte, erinnert sich, wie er damals in Kiew das Gespräch mit Sicherheitskräften suchte: »Das waren auch sehr normale Leute. Sie beklagten sich, dass die Polizei nicht genug respektiert werde. Einer war wütend. ›Die behaupten, ich verteidige einen Kriminellen‹, hat er uns gesagt. ›Aber ich verteidige die Verfassung.‹«

»Viele Menschen sprechen vom Maidan als dieser wundervollen transformativen Erfahrung. Aber die Wahrheit ist, dass viele Menschen auch sehr verroht sind«, sagt Risch. »Am Ende wollten viele Janukowytsch einfach nur tot sehen, und zugegebenermaßen war ich einer davon.« Heute sei er desillusioniert. »Im Rückblick fragt man sich: Wofür das alles? Das Regime ist implodiert. Und dann war irgendwie alles vorbei. Diese ganzen Ideen von der Macht des Volkes sind nie Wirklichkeit geworden.«

Die Verrohung betraf offenbar beide Seiten. »Ich habe später einen Berkut-Kämpfer getroffen, der Patenonkel des Kindes meines Cousins«, erzählt Ilya. »Er war vom Maidan traumatisiert, ein Alkoholiker. Er sagte mir, dass er jeden, der auf dem Maidan war, umbringen wolle. Das Regime hat diese Leute mit Propaganda verrückt gemacht. Er wolle uns verbrennen, uns die Haut ­abziehen für das, was wir getan hatten. Weil wir als ›Nazi-Abschaum‹ die jungen Polizisten, die doch bloß Befehle befolgten, mit Molotow-Cocktails verbrannt hätten.«

 

Für Markt und Selbstverantwortung

Die Frage, wofür sie demonstriert ­haben, stellen sich fünf Jahre nach dem Maidan viele. »Für die Journalisten aus dem Westen haben wir es ›Euromaidan‹ genannt, aber schon ab Anfang Dezember hat Europa auf dem Platz keine große Rolle mehr gespielt«, sagt Mychailo Wynnyckyj. »In den dunkelsten Momenten haben wir erkannt, dass wir ganz auf uns allein gestellt waren. Deshalb haben wir so oft die Nationalhymne gesungen. Wir haben eine Einigkeit gewonnen, wie das die Leute im Westen einfach nicht mehr verstehen.«

Wynnyckyj ist kein Nationalist oder Revoluzzer, sondern ein freundlicher, mittelalter Professor für Soziologie und Wirtschaft an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie, der ­renommiertesten Hochschule der Ukraine. Er sitzt in einem Café im angesagten Kiewer Stadtteil Podil, wo sich zwischen Bars, Galerien und den ­besten Technoclubs der Stadt das junge Kiew zu Hause fühlt. Um die Ecke demons­triert gerade eine kleine Gruppe Linker für die Freilassung des anarchistischen Maidan-Militanten Olexandr Koltschenko, der mit dem Filmemacher Oleh Senzow in russischer Gefangenschaft sitzt.

Wynnyckyj ist spürbar geübt darin, den Maidan gegen westliche Skeptiker zu verteidigen – auch gegen den »russischen Propagandamüll«, wie er sich ausdrückt. Auf jede kritische Nachfrage hat er eine Antwort parat. Der Sprachenkonflikt etwa sei künstlich von Russland aufgebauscht. In seinen Seminaren werde, wie im Kiewer Alltag, nach wie vor ganz normal Russisch und Ukrainisch gesprochen. Zur Präsenz radikaler Nationalisten meint er: »Ich bin eher überrascht, dass wir so wenige radikale Nationalisten haben. Die Ukraine hat 7,7 Prozent ihres Territoriums verloren. Die patriotische Verteidigung ist die Reaktion darauf. Ich entschuldige diese Gruppen nicht, aber es ist eine natürliche Reaktion, wenn ein Land angegriffen wird.«

Und er fügt hinzu: »Der Patriotismus war ein Grund, weshalb vor allem die europäische Linke den Maidan nie verstanden hat. Der andere ist, dass es zwar eine Revolution war, aber eine bürgerliche Revolution. Kleinunternehmer, die Mittelschicht und Angestellte haben für Monate ihre Arbeit verlassen, um zu demonstrieren und zu kämpfen – erstaunlich.« Die Revolution sei wirtschaftsliberal gewesen, ist sich Wynnyckyj sicher: »Freiheit und Selbstverantwortung waren die Werte des Maidan.«

So müsse man auch die Veränderungen in der Ukraine heute verstehen. Die »neue Ökonomie«, der wachsende Sektor privater Unternehmen, versuche, das Joch der »alten Ökonomie« abzuwerfen, das seien die Oligarchen, deren Unternehmen noch aus der sowjetischen Wirtschaftsstruktur stammen. Anstatt ihre Unternehmen wie normale Kapitalisten zu führen, hätten die Oligarchen sie jahrelang nur ausgeplündert und ihre Kontrolle über den Staat und den Zugang zu billigem russischem Gas ausgenutzt, um die Marktkonkurrenz auszuhebeln. So hätten sie die ukrainische Wirtschaft in den Ruin getrieben. Nun gehe es langsam wieder aufwärts. »Den Oligarchen geht es heute schlechter, als viele denken«, sagt Wynnyckyj. »Stattdessen gibt es immer mehr mittlere Firmen, mit zehn bis 100 Millionen US-Dollar Umsatz im Jahr. Eine echte Marktwirtschaft eben.«

Tatsächlich kann man heute im Zentrum Kiews zumindest in einigen Straßenzügen den Eindruck bekommen, man sei in einer westeuropäischen Stadt. Überall wird gebaut, es gibt schicke Restaurants und Luxusgeschäfte. Vor allem auf dem Land verelenden viele Menschen allerdings weiter.

 

Kriegsmüde und perspektivlos

Während Wynnyckyj noch von den positiven Veränderungen der vergangenen Jahre schwärmt, tritt wenige Kilometer entfernt das Parlament zu einer Notfallsitzung zusammen. Nach den Kampfhandlungen im Asowschen Meer hatte in der Nacht zuvor der Präsident live im Fernsehen verkündet, das Kriegsrecht verhängen zu wollen. Russland habe an der Grenze seine Truppen deutlich verstärkt, warnte der Präsident. Belege dafür gibt es nicht, allerdings will Russland seine Militärpräsenz auf der 2014 annektierten Halbinsel Krim verstärken (siehe Seite 13).
Die Parlamentssitzung verlief tumult­artig, denn viele Abgeordnete befürchteten, Poroschenko ziele darauf ab die Wahlen im März zu sabotieren. Gilt das Kriegsrecht, können die Grundrechte der Bürger eingeschränkt, alle ­öffentlichen Versammlungen verboten und die Kontrolle über die Medien ­verstärkt werden. Wahlen dürfen nicht stattfinden. Schließlich erzwang das Parlament, das Kriegsrecht regional und auf 30 Tage zu begrenzen. Damit ist immer noch ein großer Teil des Landes betroffen, vor allem der Osten und ­Süden, wo die Bevölkerung mehrheitlich Russisch spricht und bei den ­Wahlen eher nicht für den Präsidenten stimmen würde.

Trotz dieses Rückschlags für Poroschenko war es ein geschicktes politisches Manöver. »Mit einem Schlag ­veränderten der Präsident und sein Team die Berichterstattung im ­gesamten Land«, schrieb die einfluss­reiche Onlinezeitung Ukrajinska ­Prawda am nächsten Tag. »Sie machten Poroschenko zur zentralen Figur. Er ist der Verteidiger, Kommandant, Stratege.«

Ilya will mit all dem nichts mehr zu tun haben. Wie viele junge Ukrainer versucht er, der Wehrpflicht zu entgehen. Solange in der Armee Rekruten ­geschlagen und misshandelt werden, werde er nicht dienen. Auch mit der ­Politik habe er abgeschlossen. »Viele junge Menschen waren damals idea­listisch. Als wir die neue Regierung sahen und kapierten, dass das System fast immer noch so funktioniert wie zuvor, hat uns das enttäuscht«, sagt er.

Mit einem Lachen erklärt er, wie er sich die Zukunft vorstelle: »Ich denke vor allem daran, wie ich mich bilden kann, Verbindungen knüpfen kann – und dann nichts wie raus aus diesem verdammten Land.«