Ein Jahr »MeToo«

It’s not about sex, baby

Wie aus einem Hashtag eine Debatte wurde und schließlich eine Bewegung entstand: ein Jahr »MeToo«.

»In Zeiten von ›MeToo‹« – diese Floskel hat sich im vergangenen Jahr im deutschen Feuilleton etabliert. Viel wurde in unzähligen Beiträgen auf allen möglichen Kanälen über die Liebe, den Feminismus, das Verhältnis der Geschlechter und selbstverständlich das Flirten »in Zeiten von ›MeToo‹« sinniert, ar­gumentiert und gestritten.

Zur Erinnerung: »Wenn alle Frauen, die sexuell belästigt oder genötigt wurden, ›me too‹ als Status angeben, könnten wir den Menschen das Ausmaß des Problems bewusst machen«, twitterte die Schauspielerin Alyssa Milano am 15. Oktober 2017. Einige Tage zuvor hatten das US-Magazin New Yorker und die New York Times über die Vergewaltigungsvorwürfe zweier Hollywood-Schauspielerinnen gegen den damaligen Produzenten Harvey Weinstein berichtet. 24 Stunden nach Milanos Tweet waren unter dem Hashtag rund 200 000 Tweets verfasst worden, auf Facebook waren es im selben Zeitraum etwa zwölf Millionen Postings.

Im Laufe des vergangenen Jahres ließ sich feststellen, wie viele Vergewaltigungsexperten es da draußen gibt, die offenbar ganz genau wissen, was ein Kompliment von einer Belästigung und eine »geschickte« von einer »ungeschickten« Anmache unterscheide. Ihre Bereitschaft, Frauen darüber zu belehren, wie sie bestimmte Erfahrungen zu deuten hätten, war nicht weniger erschreckend als die Anzahl der unter #metoo berichteten Fälle.

Milano etablierte in den sozialen Medien einen Slogan, den Tarana Burke bereits 2006 ins Leben gerufen hatte. Burke, die keine Hollywood-Schauspielerin, sondern die Leiterin der New Yorker Organisation Girls for Gender Equity ist, wollte damit unterprivilegierten, von sexueller Gewalt betroffenen Frauen signalisieren, dass sie eine Stimme haben.

Ein Jahr nach Beginn der Hashtag-Kampagne, die innerhalb weniger Wochen millionenfache Zustimmung fand und nach soviel Nachdenken darüber, was es damit auf sich habe, erscheint es naheliegend, Bilanz zu ziehen.

In den Beiträgen und Themenschwerpunkten zahlreicher Medien zum Thema »ein Jahr ›MeToo‹« – etwa im Spiegel, der am 10. Oktober eine Sonderausgabe mit dem Titel #frauenland herausgebracht hat, und in der Zeit – stand vor allem eine Frage im Vordergrund: »Was hat die Debatte bewirkt?«, beziehungsweise: »Hat sich wirklich etwas verändert?«.

Der allgemeine Tenor der Antworten: Nein, der Hashtag hat nicht Alltags­sexismus und Diskriminierung am Arbeitsplatz beseitigt, ganz zu schweigen von sexueller Belästigung, Nötigung und Vergewaltigung. Dennoch: »MeToo« hat die Welt verändert.

Das mag widersprüchlich erscheinen, jedoch nur auf den ersten Blick. Wer die öffentliche Debatte in den vergangenen zwölf Monaten verfolgt hat, wird festgestellt haben, wie sich diese entwickelt hat. Als die Kampagne noch stark von ihrem Empörungscharakter geprägt war, bemängelten viele Kritikerinnen und Kritiker, man vermenge dabei Erfahrungen, die nichts miteinander zu tun hätten, und stelle etwa »blöde Sprüche« auf die gleiche Ebene wie Vergewaltigung. Daraus entstanden zwei kritische Positionen: Die eine, die nach dem Motto »Habt euch nicht so!« operierte, sprach Frauen, die unter #metoo posteten, schlicht und einfach das Recht ab, ihre Leidenserfahrung zu artikulieren und spielte ihre Motivation zum Bedürfnis herunter, sich via Hashtag eine Portion Mitleid zu holen.

Die andere, progressiver gemeinte Kritik behauptete, Alltagssexismus mit Vergewaltigung gleichzusetzen – was die Kampagne angeblich in perfider Absicht tue – sei unsolidarisch gegenüber Opfern von echten Vergewaltigungen. Auch in dieser Zeitung wurde behauptet, die »MeToo-Debatte«, beziehungsweise ein ominöser »Netz­feminismus« falle damit »den Opfern von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (…) in den Rücken.

An der einen wie der anderen Position ließ sich feststellen, wie viele Vergewaltigungsexperten es da draußen gibt, die offenbar ganz genau wissen, was ein Kompliment von einer Belästigung und eine »geschickte« von einer »ungeschickten« Anmache unterscheide.

Ihre Bereitschaft, Frauen darüber zu belehren, wie sie bestimmte Erfahrungen zu deuten hätten, war nicht weniger erschreckend als die Anzahl der unter #metoo berichteten Fälle.

Verknüpft mit der Frage, ob das Ganze nicht eine große Übertreibung sei, war die Sorge, #metoo würde eine »Denunziationskultur« und einen »neuen Puritanismus« fördern.

Auch hier gab es zwei Kritikpositionen: Die einen – nennen wir sie Vertreter einer etwas aus der Mode gekommenen Verführungskultur – echauffierten sich darüber, was sich Frauen nun plötzlich erlaubten, vermeintliche Komplimente, Kommentare über Teile ihres Körpers oder kleine harmlose Berührungen nicht mehr freundlich wegzulächeln.

 

Aufrichtige Liberale erkannten dagegen in der Weigerung von Frauen, permanentes Sexobjekt männlicher Begehrlichkeiten zu sein, beziehungsweise in der Art, wie sie diese Wei­gerung zum Ausdruck bringen, eine Form von »Neopuritanismus«, der kurz davor sei, den aufgeklärten und freiheitlichen Westen ins viktorianische Zeitalter zurückzukatapultieren: »Totalitären Feminismus« nannte es der Journalist Jens Jessen in der Zeit im April; erst vor einigen Wochen war im US-Magazin Spectator vom Zeitalter des »sexuellen McCarthyismus« die Rede. Auch hier: Eine vielleicht gut gemeinte Kritik, besonders dann, wenn sie von Frauen wie der französischen Schauspielerin Catherine Deneuve kommt. Sie gehörte zu den prominenten Unterzeichnerinnen eines offenen Briefs in Le Monde, in dem das »Recht zu beläs­tigen« als »unerlässlich für die sexuelle Freiheit« erklärt wurde. Viel wurde Deneuve, auch hierzulande, für ihre Aussage, der »MeToo«-Feminismus trage die Züge von »Hass gegen Männer und die Sexualität«, gefeiert, als hätte sie es heldenhaft gewagt, sich einer neuen drohenden, allerdings nur imaginierten Sexualordnung entgegenzustellen. Nur eine Woche später sah sich die grande dame des französischen Kinos gezwungen, sich bei Opfern von sexueller Gewalt für die im Brief enthaltenen relativierenden Vergleiche öffentlich zu entschuldigen.

Deneuve und ihre Kolleginnen kamen ohnehin zu spät. Die »Metoo«-Debatte hatte zu diesem Zeitpunkt auf­gehört, ein »Frauenthema« zu sein. Sie hatte an Komplexität und immer größerer politischer sowie gesellschaftlicher Relevanz gewonnen. Sie war eine Debatte geworden, in der es nicht mehr um Sex ging – von Anfang an ging es eigentlich um Machtverhältnisse und deren Missbrauch, aber es dauerte lange, bis sich der Fokus von der Sexualsphäre auf andere Themen richtete.

Als aus einem Hashtag eine Gelegenheit wurde, die Normen des Zusammenlebens neu zu verhandeln, entpuppten sich der Henxenjagd- und der Puritanismusvorwurf immer mehr als Versuche, eine gerade entstehende Bewegung zu diskreditieren.

»MeToo« war eine Debatte über sexuelle Gewalt, die zum ersten Mal weltweit stattgefunden hat. Selbstverständlich kann man sie materialistisch an ihren Ergebnissen messen – vorausgesetzt, man tut es nicht, um »den Feminismus« zu diskreditieren.

Ein Hashtag kann und soll keine Menschen verhaften. Über ein System, das sexuelle Gewalt hervorbringt und über den strukturellen Sexismus, der diese Gewalt möglich macht, muss diskutiert werden. Sexismus strukturell zu nennen, bedeutet nicht, dass an ­jeder Ecke böse Männer lauerten, die nichts anderes im Sinne haben, als Frauen anzugreifen. Es bedeutet nicht, dass in jedem Büro ein Chef oder ein Kollege säße, der ständig sexistische Sprüche macht. Struktureller Sexismus ist es aber, wenn eine Frau wie Christine Blasey Ford sich aufgrund von Morddrohungen nicht mehr traut, ihr eigenes Zuhause zu betreten, während der Mann, dem sie eine versuchte Vergewaltigung vor über 30 Jahren vorwirft, zum Richter am Obersten Gerichtshof ernannt wird. Oder wenn der Fußballverein Juventus Turin die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Cristiano Ronaldo wie folgt kommentiert: »Die Dinge, die sich vor fast zehn Jahren angeblich ereignet haben sollen, ändern nichts an dieser Meinung, die jeder teilt, der jemals Kontakt zu diesem großartigen Champion hatte.« Eine gemeinsame Sprache suchen, die es ermöglicht, auch über nicht strafrechtlich relevante Fälle zu sprechen, bedeutet nicht, Männer zu hassen, es bedeutet, eine bessere Gesellschaft anzustreben.

Nicht nur Rechte und Liberale kritisierten die »MeToo«-Kampagne, sondern auch manche Linke. Abgesehen von der etwas bornierten Ablehnung, die manche durchaus feministisch sozialisierten Genossinnen und Genossen an den Tag legten – nach dem Motto: »Was soll eine von US-Schauspielerinnen initiierte mediale Kampagne denn bringen, für den Feminismus wird auf der Straße gekämpft« – gab es tatsächlich einen Punkt, an dem eine konstruktive Debatte von links nicht geschadet hätte, nämlich die Gefahr, dass im Zuge einer solchen Kampagne der Opfer­status der Betroffenen identitätsstiftend wirkt: Wie artikuliert man Solidarität mit den Betroffenen, ohne sie auf die Opferrolle festzunageln?

Leider wurde, vor allem in sozialen Medien, häufig nur dann diskutiert, wenn es darum ging, den »falschen« Feminismus der anderen vorzuführen. Man spaltete sich in ein Pro- und einem Kontra-»MeToo«-Lager, oft wurde wenig argumentiert und viel psychologisiert – auf beiden Seiten. Einigen Männern, die sich an der Debatte beteiligten, wurde viel zu schnell unterstellt, unreflektierte Sexisten oder gar »Täter« zu sein; auf der ­anderen Seite wurde propagiert, »Metoo« sei bloß ­verkürzte Patriarchatskritik. Wäre die Debatte weniger von Abwehrreaktionen geprägt gewesen, wäre es vielleicht möglich gewesen, den Feminismus, der ja noch nie eine monolithische Einheit war, zu bereichern.

Die Weigerung, subjektive Erfahrungen von Diskriminierung, Belästigung und Gewalt als Teil einer gesellschaftlichen und politischen Debatte anzuerkennen, ist Teil des Problems, das »MeToo« sichtbar gemacht hat.

»MeToo« war eine Debatte über sexuelle Gewalt, die zum ersten Mal weltweit stattgefunden hat. Selbstverständlich kann man sie materialistisch an ihren Ergebnissen messen – vorausgesetzt, man tut es nicht, um »den Feminismus« zu diskreditieren.

Viel interessanter ist, was »MeToo« dort bewirkt hat, wo es nicht messbar ist – im Privaten wie im Öffentlichen. Etwa, wie sie sich auf die jüngeren Generationen auswirken wird. Vielleicht wird es für junge Männer und Frauen dank »MeToo« leichter zu begreifen sein, dass es nicht um einen Krieg der Geschlechter geht, sondern darum, in welcher Gesellschaft wir leben möchten.