In Peru kämpfen zwangssteriliserte Frauen für Gerechtigkeit

Weiblich, indigen, zwangsterilisiert

Reportage Von Knut Henkel

In Peru wurden unter dem autoritären Präsidenten Alberto Fujimori Ende der neunziger Jahre fast 300 000 Frauen vor allem indigener Herkunft sterilisiert, viele davon unter Zwang. Victoria Vigo ist eine der ersten Betroffenen, die an die Öffentlichkeit gegangen ist und gegen ihre Zwangssterilisation geklagt hat.

Ana María Vidal öffnet die Tür des unscheinbaren Hauses in der Straße José Pezet y Monel im Zentrum Limas. Vorbei am Konferenzraum weist die Anwältin den Weg in den ersten Stock des Hauses. »Ende Mai hätten Sie kommen sollen. Da waren fast alle Repräsentantinnen der zwangssterilisierten Frauen aus fast allen Regionen Perus hier in Lima – natürlich auch Victoria Vigo«, sagt die Mitarbeiterin der peruanischen Menschenrechtskoordination (CNDDHH). In deren Räumen können sich Betroffene von Menschenrechtsverletzungen mit Anwältinnen und Anwälten treffen. Die besagte Zusammenkunft im Mai, zu der über 15 Frauenorganisationen Vertreterinnen geschickt hatten, sei ein voller Erfolg gewesen, so Vidal, denn »vor drei Jahren gab es gerade vier Organisationen von Frauen, die zwischen 1995 und 2000 sterilisiert wurden«. Diese Sterilisationen seien oft »ohne die Einwilligung der Frauen, teilweise unter Druck und manchmal mit brutaler Gewalt« vorgenommen worden, so die Juristin. Sie setzt sich hinter ihren Schreibtisch und sagt: »Das ist ein Fortschritt, den wir Frauen wie Victoria Vigo und Rute Zúñiga zu verdanken haben, die sich seit Jahren unbeirrt für Gerechtigkeit einsetzen.«

Es geht um Gerechtigkeit für knapp 300 000 Frauen, die Ende der Neunziger im Rahmen eines Programms zur »Armutsbekämpfung« sterilisiert wurden. Der damalige Präsident Alberto Fujimori regierte Peru von 1990 bis 2000 autoritär und war für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Das Geburtenkontrollprogramm, das in erster Linie auf Sterilisationen zurückgriff, hatte er sich von der Weltbank und der US-amerikanischen Entwicklungsorganisation US-Aid finanzieren lassen. »Es war ein staatliches Programm, Ärzte wurden angehalten, in Armutsregionen systematisch die Sterilisation vor allem indigener Frauen zu betreiben. Es wurden Quoten vorgegeben und alles wurde vom Gesundheitsministerium koordiniert und vom Präsidenten und seinen Vertrauten überwacht«, sagt Vidal.

 

Sterilisiert ohne Einwilligung

Die erste Frau, die dagegen klagte, ist Victoria Vigo. Sie stammt aus der ganz im Norden Perus liegenden Stadt Piura, lebt aber seit ein paar Jahren in Lima. Sie gehört zu denjenigen, die seit Jahren eine umfassende Wiedergutmachung fordern und arbeitet eng mit der CNDDHH zusammen.

Vigos Haus in einem Mittelklasseviertel im Zentrum von Lima ist dank einer freundlichen Nachbarin schnell gefunden, denn Vigo wird öfter von Journalisten und Studierenden aufgesucht. Die 54jährige Erzieherin und Sozialarbeiterin steht im Eingang des orangefarbenen, zweistöckigen Hauses und weist den Weg ins Wohnzimmer, wo sie auf einem Sofa Platz nimmt. Nur ein Transparent, das hinter dem Sofa zu sehen ist, deutet darauf hin, dass Vigo regelmäßig unterwegs ist, um Gerechtigkeit einzuklagen, zuletzt immer wieder vor dem Büro von Marcelita Gutiérrez Vallejos, der verantwortlichen Staatsanwältin. »Viermal hat sie unsere Klage zu den Akten gelegt, sich beharrlich geweigert, die Namen der politisch Verantwortlichen in die Anklage aufzunehmen«, sagt Vigo und lässt entnervt die Hände auf das bunte Kissen fallen, das auf ihren Knien liegt.

Aufgeben sei nicht ihre Sache, sie wolle, dass die Verantwortlichen für die Politik der Zwangssterilisationen vor Gericht kommen – vor allem Fujimori, aber auch dessen Gesundheitsminister und Ratgeber. Höchstpersönlich hatte Fujimori im September 1995 an der vierten UN-Frauenkonferenz in Peking teilgenommen und sich dort über Programme zur Geburtenkontrolle informiert. »In Peru ging es aber nicht um die Beratung der Frauen, wie sie verhüten können, sondern darum, wie ihr Reproduktionsapparat außer Funktion gesetzt werden könne – in erster Linie der von indigenen Frauen«, sagt Vigo.

Sie ist ein Opfer dieser Politik. Damals lebte sie noch in Piura und arbeitete für die Kinderschutzorganisation Peru Hope. Im April 1996, im siebten Monat schwanger, wurde sie mit Unterleibsschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Per Kaiserschnitt wurde ihr Sohn zur Welt gebracht, wenig später starb er an Lungenversagen. Vigo war verzweifelt und wurde nur durch Zufall Zeugin eines Gespräch zwischen dem Arzt, der sie getröstet hatte, und dem, der sie operiert hatte. »Der eine Arzt erklärte dem anderen, dass sie mich sterilisiert hatten. Dass ich nie wieder Kinder haben würde und dass der Kollege aufhören solle, mir falsche Hoffnungen zu machen«, erinnert Vigo sich an die Situation, die ihr Leben veränderte.

Ohnmacht, Zorn und Wut empfinde sie bis heute – obwohl sie die Erste war, die den Mut aufbrachte, etwas dagegen zu unternehmen, zunächst auf eigene Faust im Jahr 1997, rund ein Jahr nach ihrer Sterilisation. »Ich habe Klage eingereicht und versucht, meinen Fall selbst zu vertreten. Die Klage wurde prompt abgewiesen. Ich hatte weder einen Anwalt noch Beweise vorzuweisen«, erzählt sie mit einem bitteren Lachen angesichts ihrer damaligen Unwissenheit. Das ist mittlerweile anders, die Mutter zweier erwachsener Kinder hat nicht lockergelassen. Direkt im Anschluss an ihren Prozess bekam sie erste Informationen von Studierenden zugesteckt, die für die Staatsanwaltschaft arbeiteten. »Am Anfang dachte ich wie viele andere auch, ich sei ein Einzelfall. Doch über die Studenten bekam ich immer mehr mit«, schildert sie den Beginn ihres Kampfes für Gerechtigkeit.

Damals habe sie begonnen, auf eigene Faust zu recherchieren, Frauen besucht, die auch sterilisiert worden waren, Zeitungsartikel über die wenigen Fälle gesammelt, die in die Presse gelangten, und 1998 ihre zweite Klage eingereicht, diesmal mit Unterstützung der schwedischen Entwicklungsorganisation Diakonia, die die Anwälte bezahlte. 2003 bekam Vigo recht und die Richter billigten ihr 2 500 US-Dollar Entschädigung zu. Sie ist bislang die einzige Peruanerin, die eine Entschädigung vom peruanischen Staat erhielt.

 

Indigene Kinder unerwünscht

Bereits damals sei ihr allerdings klar geworden, dass es vor allem indigene Frauen wie sie waren, gegen die sich das Sterilisationsprogramm richtete. »Diese Frauen, die oft nur Quechua sprechen, sind die ärmsten, die verletzlichsten, leben in abgelegenen Gegenden ohne staatliche Infrastruktur und wurden entrechtet, gequält und verletzt. Den Ärzten wurden sogar Prämien pro Sterilisation gezahlt«, sagt Vigo. Für diese Frauen engagiert sie sich, hat unzählige Leidensgeschichten gehört – von Frauen, deren Männer sie verstoßen hatten, weil sie unter Spätfolgen litten, nicht mehr auf dem Feld arbeiten konnten. Dies habe dazu geführt, dass diese Frauen in den indigenen Gemeinden an Ansehen und Geltung verloren hätten und oftmals in Armut lebten. »Viele leiden bis heute an Spätfolgen, weil oft schlecht operiert wurde und es keine medizinische Versorgung im Anschluss an die Operation gab«, schildert Vigo ihre Erkenntnisse aus vielen Gesprächen. 22 Jahre ist sie nun aktiv, 22 Jahre, in denen sie den Mund aufgemacht hat. »Ich habe die Wahrheit auf meiner Seite. Ich will, dass die Peruaner begreifen, was in ihrem Land vorgegangen ist, ich will Gerechtigkeit.«

Ein Grund für sie, nach Lima zu ziehen, sei die Tatsache gewesen, dass in Perus Hauptstadt alle für ihre Bemühungen wichtigen Instanzen sind. Hier befinden sich die Büros der Anwälte, die sich mit Menschenrechtsverletzungen beschäftigen, hier sitzen die Gerichte, hier leben aber auch die politisch Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen an den Frauen, Gesundheitspolitiker wie Marino Costa Bauer oder der Leibarzt und Berater Fujimoris, Alejandro Aguinaga. All diese Männer macht Vigo mitverantwortlich für das »Attentat auf meinen Körper und meine Reproduktionsfähigkeit«. Sie sollen sich, zusammen mit Fujimori, 17 Jahre nach dem Auslaufen der Sterilisationspolitik, die als Armutsbekämpfungspolitik verkauft wurde, vor Gericht verantworten.

Laut den Recherchen der Defensoria del Pueblo, der Ombudsstelle für die Rechte der Bevölkerung, wurden im Rahmen des Sterilisationsprogramms 272 028 Frauen und 22 004 Männer zwischen 1996 und 2001 sterilisiert. Der peruanische Kongress, das Einkammerparlament des Landes, geht hingegen von mehr als 300 000 Frauen aus, die in jenem Zeitraum sterilisiert wurden, viele davon ohne ihre Einwilligung. 77 Frauen haben vor vier Jahren Klage erhoben, darunter Vigo.

In dem seit Ende 2015 existierenden Register der Opfer von Zwangssterilisationen stünden mittlerweile die Namen von mehr als 6 000 Opfern, weiß Vigo. Immer mehr Frauen, aber auch einige Männer, machten den Mund auf, schildern, was ihnen angetan wurde. Beim Treffen im Mai in den Räumen des CNDDHH habe Vigo mit zwei Frauen gesprochen, die im Alter von 18 beziehungsweise 23 Jahren sterilisiert wurden und noch nicht registriert sind. »So jung sterilisiert zu werden, führen wir auf die Quoten zurück, die ausgelobt wurden, und die die Ärzte erfüllen sollten – was sie oft auch taten«, sagt Vigo. Anders als viele andere Frauen habe sie immer die Unterstützung ihres Mannes und ihrer Kinder gehabt. Das habe ihr geholfen, sich zu wehren, ihr Recht und Wiedergutmachung einzufordern.

 

Der Druck auf die Regierung steigt

Auch andere betroffene Frauen, etwa Inés Condori aus Santo Tomás im Verwaltungsdsitrikt Cuzco oder die von Vidal erwähnte Rute Zúñiga aus Anta nahe Cuzco,  und die sie vertretenden Anwältinnen und Anwälte der Frauenrechtsorganisation Estudio para la Defensa de los Derechos de la Mujer (Demus) fordern eine umfassende Wiedergutmachung. Auf dem Weg dahin haben Aktivistinnen wie Vigo bereits kleine Erfolge errungen. Ein Achtungserfolg war die Einrichtung des nationalen Registers der Opfer von Zwangssterilisationen Ende 2015 – auf Druck der Interamerikanischen Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS).

Doch trotz steigender nationaler und internationaler Aufmerksamkeit, unter anderem von Amnesty International, aber auch von Filmemacherinnen wie Rosemarie Lerner, die mit ihrer Freundin Maria I. Court einen Dokumentarfilm über das Thema mit dem Titel »Quipu Project« gedreht hat, wurde die Klage der Frauen von der verantwortlichen Staatsanwältin Gutiérrez mehrfach abgewiesen. Zuletzt am 7. Dezember 2017, als die 77 Klagen wegen gewaltsamer Sterilisation ins Archiv kamen.

Dennoch reißen die Inititiaven nicht ab. Lerner und Court haben Kontakt zum Lugar de la Memoria (Ort der Erinnerung, LUM) in Lima aufgenommen. Sie wollen, dass das Museum, in dem Hintergrund und Fakten zum blutigen Bürgerkrieg in Peru (1980–2000) aufbereit werden, den Film und eine Ausstellung mit Fotos und den Erinnerungen der Frauen zeigt. In der derzeitigen politischen Situation ist dies allerdings alles andere als einfach, so dass die Frauen immer wieder neue Anläufe unternehmen.

So hat sich auch Vigo mit ihrer Anwältin María Ysabel Cedano von Demus wieder zusammengesetzt, Fälle dokumentiert und Eingaben geschrieben. »Jedes Mal ist es ein Neuanfang, aber wir lernen dazu, werden mehr«, sagt Vigo mit entschlossener Miene und verschränkt die Arme über der Brust. Hoffnung macht den Frauen die Weisung des leitenden Staatsanwalts Luis Landa. Er hat Ende April 2018 seine Untergebene Gutiérrez angewiesen, Klage gegen den ehemaligen Präsidenten Fujimori und dessen direkte Vertraute zu erheben – darunter Gesundheitsminister Aguinaga. Allerdings hat die Staatsanwältin der Weisung bisher noch nicht Folge geleistet, weshalb es in den vergangenen Monaten mehrfach zu Protesten von Frauenorganisationen kam – in Lima, aber auch in Cuzco. Dabei forderten die Demonstrierenden neben Wiedergutmachung auch therapeutische Angebote und eine individuelle Gesundheitsversorgung für alle Opfer.

Sonderlich optimistisch ist Vigo trotzdem nicht: »In Peru gibt es keine unabhängige Justiz. Hier hat die Politik überall ihre Finger drin«, sagt sie. Wenn die peruanische Justiz nicht endlich tätig wird, bleibt nur noch der Weg zu einem internationalen Gerichtshof wie dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte der OAS in San José. Das wäre dann wieder ein Neuanfang für Vigo – vielleicht aber der letzte auf dem Weg zur Gerechtigkeit. Sie ist gewillt, diesen zu gehen.
Anmerkung: Die Recherche wurde mit Mitteln des Evangelischen Entwicklungsdiensts gefördert.