Das neue Album von Michaela Melián basiert auf Schallplatten, die der Reeducation dienten

Records and Reeducation

Die Amerikahäuser waren im postfaschistischen Deutschland ein wichtiger Teil der US-amerikanischen Bildungs­arbeit. Im Amerikahaus in München fand die Künstlerin Michaela Melián zurückgebliebene Schallplatten, die dort einst ausgeliehen wurden und ihr nun als Material für eine Installation und ein Album dienen.

Entnazifizierung und Re­education waren zwei Vorhaben, denen sich nach der Zerschlagung des nationalsozialistischen Deutschland vor allem das US-amerikanische Militär gewidmet hatte. Das eine sollte die Zerschlagung der alten faschistischen Strukturen, das andere die Etablierung eines neuen demokratischen Bewusstseins vorantreiben. Dass etwa Armee, Geheimdienste, Gerichte und der Bundestag erst im Laufe der neunziger Jahre abschließend durch Rente und Tod entnazifiziert wurden, ist bekannt.

Was aber konnte die Reeducation leisten, die ab 1948 zum Beispiel durch die Einrichtung der ­Kultur- und Bildungszentren, die sich Amerikahäuser nannten, betrieben wurde? Und was ist heute, mehr als 20 Jahre nach dem Abzug des Großteils der stationierten US-amerikanischen Streitkräfte, davon übriggeblieben? Im Gegensatz zum wohlverdienten, vieltausendfachen Urteil »lebenslänglich«, das die Entnazifizierung hätte eigentlich bedeuten müssen, war bei der Reeducation von cultural dimplomacy und soft power die Rede. Ein kleiner Ausschnitt dieser Geschichte vom Überzeugen und Überreden zu demokratischem Denken (oder zumindest der Etablierung eines demokratischen Lebensgefühls) mag die Schallplattenab­teilung des Münchner Amerikahauses gewesen sein, deren Reste der Künstlerin und Musikerin Michaela Melián in die Hände gefallen sind.

Insgesamt 1 630 Platten einer wahrscheinlich sehr viel größeren Sammlung hatten die Amerikaner im Keller in Kisten verpackt zurückgelassen. Die Hüllen sind nummeriert, die höchste Zahl ist immerhin 3 629; die Ausleihetiketten verraten 1988 als letztes Ausleihjahr. Die Platten selbst hat Melián bereits im Mai während einer Installation im Münchner Amerikahaus dem Publikum für 24 Stunden wieder zugänglich gemacht. Besucher konnten aus den Kisten Platten wählen und über Kopfhörer selbst anspielen und anhören. Da die Zukunft der Sammlung ungewiss ist, entschied Melián sich für eine Art Reenactment dieser Demokratisierungsepisode. Nun ist auch ein Album erschienen, auf dem Melián aus Samples einiger der hinterlassenen Stücke neue Tracks komponierte. »Music from a Frontier Town« ist der Titel der Installation und der Platte.

Neben dem historischen Material findet immer wieder barocke Musik Eingang in Meliáns Werk – oder die britische Glam-Rock-Band Roxy Music.

Am 30. April 1945 wurde München durch US-amerikanische Truppen befreit, noch im selben Jahr eröffnete dort der »American Reading Room« als erste amerikanische Bibliothek in den Räumen der medizinischen ­Bi­bliothek am Beethovenplatz. Drei Jahre später eröffnete in München das erste der Amerikahäuser in Deutschland, zunächst im ehemaligen »Führerbau«, 1957 schließlich im modernistischen Neubau mit der charakteristischen Flachkuppel am Karolinenplatz, der nach Plänen der Münchner Architekten Karl Fischer und Franz Simm gebaut wurde.

In den Jahren nach der Eröffnung war das Amerikahaus bei der Münchner Bevölkerung sehr beliebt, man ließ sich lieber bilden als entnazifizieren. In den fünfziger Jahren kamen durchschnittlich 80 000 Besucher im Monat in das amerikanische Kulturzentrum, das einiges zu bieten hatte. Neben einem Zeitschriftenlesesaal und der Bibliothek mit einer riesigen Abteilung für Kinder verfügte das Amerikahaus über einen Konzertsaal mit Platz für 500 Personen, eine Galerie sowie Vortrags- und ­Unterrichtsräume. Mit dem Beginn des Kalten Kriegs hatten sich ame­rikanische Kulturinstitutionen in Deut­schland selbstverständlich vor allem der antikommunistischen ­Propaganda verschrieben. Betreiber war seit 1953 die United States Information Agency (USIA), eine Abteilung der CIA, die für den Kampf gegen den Kommunismus gegründet wurde.

Entsprechend seltsam ist die Auswahl der Schallplatten, die Melián aus dem Keller des Amerikahauses geborgen hat. Denn darunter befinden sich auch Veröffentlichungen erklärter Kommunisten, Opern von Kurt Weill zum Beispiel oder Lesungen des schwarzen Schriftstellers James Baldwin. Grund für diese doch äußerst progressiv zu nennende Sammlung mag der historischer Zufall ­gewesen sein, der, wenn meist auch nur für kurze Zeit, neue Möglichkeiten eröffnete. Das Dilemma solcher Einrichtungen wie des Amerikahauses muss gewaltig gewesen sein: den Antikommunismus propagieren, gleichzeitig um den institutionellen Rassismus im eigenen Land wissen und zur selben Zeit in einem durch und durch postfaschistischen Land die Idee einer besseren Welt vertreten, die auf Freiheit, Vielfalt und Rechtsgleichheit beruht.

 

In den Plattenkisten fand Melián Platten, die Folkways Records veröffentlicht hatte. Dieser Fund spiegelt die Situation besonders gut wieder. Es handelt sich dabei nämlich um Platten, auf denen die riesige kulturelle Vielfalt der USA hörbar wird. Es finden sich darauf Lieder von Native Americans, Gospels, Spirituals und Jodler, aber auch Lieder von Sklaven und Arbeiterlieder. Es ist die Musik von Gruppen, die bei der amerika­nischen Musikindustrie wenig Gehör fanden, in der kulturellen Außenvertretung jedoch kamen sie durchaus vor. Mit der Musik aller Minderheiten und Underdogs, die die US-amerikanische Nation ausmachen, wird die Geschichte der amerikanischen Musik dargestellt. Überhaupt spielt das Herausstellen der amerikanischen Themen eine große Rolle. Mit dem schwarzen Jazz einer Billie Holiday oder eines Miles Davis war in der Phonothek eine ureigene amerikanische Musikrichtung stark vertreten. Jazz war darüber hinaus selbst in Europa als avantgardistische, künstlerisch wertvolle Musik anerkannt. Daneben gab es zahlreiche Sprech­plat­ten, die direkt oder auch ver­mittelt die US-amerikanische Politik spiegeln: Theodore Roosevelt spricht vor dem Kongress, Theodore Roosevelt erzählt Witze, Eleanor Roosevelt liest Kindergeschichten.

Die erste Platte, die Melián im Keller fand, war »The Man Who Invented Music« von Don Gillis, einem weitgehend Unbekannten, der lange Zeit für Arturo Toscanini als Korrepetitor und als Aufnahmechef für Radiomitschnitte gearbeitet hatte. Auf der B-Seite dieser Platte fand sie die Komposition »Portrait of a Frontier Town« von 1940, deren zweiter Satz »Where the West Begins« heißt. Hier wird etwas vorweggenommen, nämlich München als Frontstadt: Die Radiosender Radio Free Europe und American Forces Network sendeten später von dort aus. Somit war München »frontier town zwischen Ost und West«, wie Melián der Jungle World sagt. »Und dann hat die Platte noch dieses irre Cover mit einer Comiczeichnung, die einen Mann mit Lederschurz zeigt, der in einer Schmiede mit Musikinstrumenten steht und eine Note schmiedet«, erzählt Melián weiter. Sie übernahm diese Zeichnung für das Cover ihrer eigenen Platte und änderte sie etwas ab – statt Don Gillis ist es nun sie selbst, die die Note schmiedet. In ihrem Werk bediente Melián sich immer wieder historischen Materials, das sie dann durch ihre Bearbeitung aktualisiert. In ihrem Hörstück »Memory Loops« von 2010 verwendet sie zum Beispiel Erzählungen von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus in München, ließ sie nachsprechen und ordnete sie auf einer interaktiven Karte verschiedenen Orten in der Stadt zu. Neben dem historischen Material findet immer wieder auch barocke Musik Eingang in ihr Werk – oder die britische Glam-Rock-Band Roxy Music.

Nicht nur das Cover, auch die vier Stücke der Platte fußen auf den Kompositionen von Don Gillis. »Ich habe ein paar Akkordwechsel, also harmonische Wendungen, zitiert und das Tempo übernommen. Das Tempo des zweiten Satzes ist 60 beats per minute, und so sind alle meine Movements auch in 60 bpm. Das ist ein sehr langsames Tempo, ein Schreiten oder langsames Gehen. Und das passt ein bisschen zu München. Dieses Tempo peitscht einen nicht hoch, es entspricht einem entspannten Herzschlag«, beschreibt Melián ihre Adaption des historischen Materials. ­Insgesamt hat sie 300 Samples von 70 Stücken verwendet, die sie auf Platten der Sammlung gefunden hatte. »Ein Ton ist vielleicht von John Cage, der nächste dann vielleicht von Sun Ra«, erzählt sie. »Daraus habe ich sozusagen ein Schlagzeug gebaut. Eine Struktur aus den einzelnen ­Tönen. Und jeder Ton bringt einen anderen akustischen Raum mit, echte akustische Räume und Hallräume, die bei den Schallplattenaufnahmen im Studio dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend hinzugefügt wurden. Zum Beispiel bei den Cowboys, den Aufnahmen, wie sie ihre Kühe rufen, da ist immer die Landschaft als akustischer Raum im Hintergrund. So hat jede Platte ihren eigenen Raum.«

Michaela Melián: Music from a Frontier Town (Martin Hossbach)