In Spanien versuchen rechte Parteien und Gruppen aus der Skandalisierung irregulärer Migration politisches Kapital zu schlagen

Unvorbereitet, aber gelassen

Von Jan Marot

Immer mehr Migranten aus Afrika kommen über die Mittelmeerroute nach Spanien. Rechte Parteien und Gruppen versuchen, aus der Skandalisierung der Migration politisches Kapital zu schlagen.

Dass es gut ankommt, eine betroffene Miene aufzusetzen, hatte ihm sein PR-Team im Briefing offenbar nicht eingebläut. Angeekelt wirkte der neue Vorsitzende der konservativen Volkspartei (Partido Popular, PP), Pablo Casado, als er am Mittwoch vergangener Woche im südspanischen Algeciras einer Gruppe neu angekommener afrikanischer ­Migranten medienwirksam die Hand ent­gegenstreckte. Tage zuvor hatte er ­gesagt, dass es »nicht Papiere für alle geben« und Spanien nicht »Millionen Afrikaner« aufnehmen könne. Das »würde der Wohlfahrtsstaat nicht verkraften«. Casado behauptete zudem, dass der sozialdemokratische Ministerpräsident Pedro Sánchez (PSOE) mit der Aufnahme der 629 Migranten an Bord des Seenotrettungsschiffs »Aqua­rius«, die Italien am 10. Juni abgelehnt hatte (Jungle World 25/2018), »den Schlepperbanden das Signal gab, Spanien anzusteuern«.

Auch wenn die Zahlen der irregulär über das Mittelmeer in EU-Länder kommenden Migranten im Vergleich zum Vorjahr insgesamt abgenommen haben, hatte Spanien Italien bereits Mitte Juli bei den Aufnahmezahlen überholt. Das liegt nicht nur an Italiens Weigerung, Rettungsschiffe anlanden zu lassen, sondern auch daran, dass die EU die libysche Küstenwache unterstützt. Der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge kamen vom 1. Januar bis 15. Juli dieses Jahres 18 016 Menschen über Marokko und Algerien nach Spanien, im selben Zeitraum ­kamen 17 827 Menschen auf der zentralen Route über Libyen nach Italien. Bis Ende Juli erreichten den vorläufigen Zahlen des spanischen Innenministeriums zufolge 26 260 Migranten irregulär das Land. Der überwiegende Teil kam auf dem Seeweg (22 301) – im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr ein Plus von 157 Prozent. Den größten Zustrom gab es bislang 2006, als mehr als allein 30 000 Menschen in sogenannten pateras, Holzbooten, auf die Kana­rischen Inseln kamen.

In die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika kamen in diesem Jahr fast 4 000 Migranten auf irregulärem Weg, der Großteil überwand die Grenzwallanlagen, nur ein Bruchteil kam über das Meer. Über 98 Prozent davon passierten Marokko, um auf spanisches Staatsgebiet zu gelangen. Auch alternative Routen werden wieder mehr genutzt, einschließlich der gefährlichsten, vom Senegal zu den Kanarischen Inseln im Atlantik oder von ­Tunesien aus in Richtung der Balearen.

Einer Umfrage zufolge steht das Thema Flüchtlinge an der fünften Stelle der Sorgen der Befragten.

Oberste Prämisse der sozialdemokratischen Regierung Spaniens sei, wie Arbeits- und Migrationsministerin Magdalena Valerio (PSOE) betonte, dass »sich das Mittelmeer nicht in ein Massengrab verwandeln darf. Mit den Leichen der Menschen, die vor Krieg und Misere flüchten.« Als Lösung sieht sie die Kooperation der EU-Staaten mit Marokko an – das Land soll die Migranten aufhalten und die Küste stärker überwachen, wofür die EU in den kommenden vier Jahren über 30 Millionen Euro bereitstellen will. Die marokkanische Regierung erachtet das allerdings nicht für ausreichend und wehrt sich auch gegen die Pläne einiger EU-Regierungen wie denen Spaniens und Frankreichs, in Marokko und anderen Ländern Nordafrikas und der Sahelzone sogenannte Aufnahmezentren zu ­errichten. In diesen soll endgültig über Asylanträge entschieden werden, um »Wirtschaftsflüchtlinge« auszusortieren und abzuschieben. Unklar ist, ob die Initiative innerhalb der EU und mit Drittstaaten überhaupt realisierbar und mit internationalem Recht vereinbar ist.

Im tunesischen Hafen von Zarzis konnte der Tanker »Sarost 5« am ­Mittwoch vergangener Woche nach 21tägiger Irrfahrt mit 40 aus dem Mittelmeer geretteten Migranten anlegen. Ähnlich wie im Fall der »Aquarius« verweigerten europäische Staaten die Aufnahme. Die tunesische Regierung fürchtet, dass Tunesien zum bevorzugten Transitland werden könne. Auch sie lehnt die Errichtung von Aufnahmezentren ab.
Im südspanischen Andalusien ist man auf die steigenden Migrantenzahlen nicht vorbereitet, auch wenn die Meerenge von Gibraltar im Sommer wegen der besseren Witterung vermehrt überquert wird. An der engsten Stelle sind es nur knapp 14 Kilometer, die Europa von Afrika trennen. Die Lage der Ankommenden – derzeit mehr als 3 000 Menschen pro Woche – ist prekär. Die Küstenwachen Spaniens und ­Marokkos retten Menschen im Akkord aus oftmals kaum seetauglichen Schlauch- und Holzbooten. Tagelang müssen Neuankömmlinge an Deck im Hafen von Tarifa nächtigen oder sie werden behelfsmäßig in Schulen, Turnsälen und sogar, wie in Barbate, in Fischverarbeitungsanlagen und auf anderen Industriegeländen untergebracht. Das neue Erstaufnahmezentrum (Centro de Atención Temporal de Extranjeros, CATE) in Algeciras wurde erst am Donnerstag vergangener Woche eröffnet. Es bietet 600 Migranten Platz.

Als in Ceuta vor zwei Wochen mehr als 600 Migranten den Grenzwall überwanden, war prompt die rechtsextreme Partei Vox, die über keine Parlamentssitze verfügt, mit ihrem Generalsekretär Javier Ortega vor Ort, um der mit dem Grenzschutz beauftragten paramilitärischen Guardia Civil »ihre Unterstützung zuzusichern«. Die Zeitung El País warnte vor »über 50 000 Menschen«, die auf ihre Chance warteten, via Ceuta nach Europa zu gelangen. Vox fordert Grenzmauern aus Beton und elektrifizierte Zäune sowie die Fortführung von Direktabschiebungen. Letzterer Praxis will Sánchez ein Ende setzen.

Auch der Vorsitzende der rechts­liberalen Partei Ciudadanos, Albert Rivera, unternahm eine Stippvisite an den Grenzwall. »Die Schlepperbanden wissen, wie man den Wall überwindet, mit Winkelschleifer, Exkrementen und Löschkalk«, sagte er. »Wir setzen auf Technik im Grenzschutz«, fuhr er fort, ohne zu klären, welche er meint. Innenminister Fernando Grande-Marlaska (PSOE) lässt den Nato-Draht ent­fernen und lehnt den Einsatz von Waffen zur Aufruhrbekämpfung, Tränengas und Gummigeschossen ab.
Bei der Betreuung ankommender Flüchtlinge helfen dem Roten Kreuz zahllose Freiwillige, die Gemeinden beweisen großes Improvisationstalent. Auch wenn es punktuell am Nötigsten fehlt, dominiert die Solidarität. Nicht zuletzt hat eine Welle rassistischer fake news das Thema »Flüchtlingskrise« aufgebauscht. Doch bislang wird es in Spanien weitaus gelassener behandelt als etwa in Deutschland oder Österreich: Im aktuellen CIS-Barometer, einer Umfrage vom Juli, steht das Thema Flüchtlinge an der fünften Stelle der Sorgen der befragten Spanierinnen und Spanier, nach der Arbeitslosigkeit, der Korruption, der Politik generell und wirtschaftlichen Problemen. Ministerpräsident Sánchez forderte in einem ersten Treffen mit Casado am Donnerstag vergangener Woche den Rechtskonservativen dazu auf, »verantwortungs­bewusst mit dem Thema Migration umzugehen«. Alarmismus sei nicht angebracht.

Aus wirtschaftlicher Sicht braucht Spanien, das zuletzt stark an Bevölkerung einbüßte – wegen einer niedrigen Geburtenrate, der Nachwehen der ­Krisenemigration junger, gut ausgebildeter Spanier (rund 2,3 Millionen) und Überalterung – mehr Arbeitnehmer, die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abführen. Immigration könne Teil einer umfassenden Lösung sein, betonen Ökonomen. Das Nachbarland Portugal empfängt unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten António Costa (PS) Flüchtlinge bereits mit offenen Armen. Wer einer Arbeit nachgeht und Steuern bezahlt, soll nach einem Jahr das Bleiberecht erhalten. Die Initiative ging auf Proteste von NGOs und Migranten zurück. Der Kalkulation der portugiesischen Regierung zufolge braucht Portugal jährlich knapp 75 000 Immigranten, um Abwanderung und Überalterung entgegen­zuwirken.