Ist Nikotin Doping?

Fit mit Nikotin

Nikotin erhöht die Konzentrationsfähigkeit. Das könnte in manchen Sportarten durchaus einen ­leistungsfördernden Effekt haben. Verboten wird die Einnahme trotzdem nicht.

Vor sieben Jahren verkündete die Welt-Antidoping-Agentur (WADA) mit viel Getöse, sie werde den Gebrauch von Nikotin im Sport streng beobachten und sehr wahrscheinlich das aus der Tabakpflanze gewonnene Nervengift auf die Liste der verbotenen leistungsfördernden Substanzen setzen. Nikotin als Doping? Das klingt doch wie »Kokain gegen Schlafstörungen« oder »besser Auto fahren mit Alkohol«. Das freilich liegt an den propagandistischen Bemühungen vieler Regierungen, der Bevölkerung zum Wohle von Versicherungen und »Volksgesundheit« das Rauchen auszutreiben, weswegen Nikotin fast nur mehr mit Krankheit und Siechtum in Verbindung gebracht wird. Nikotin hat aber eine lange Geschichte nicht nur als Genuss- und Suchtmittel, sondern auch als Geheimwaffe zur Leistungsstei­gerung. Auch im Sport.

Als Reklame für nikotinhaltige Produkte noch nicht verboten war, warben die Hersteller von Tabak­waren gern mit Bildern von jungen, vitalen Menschen, die zum Beispiel nach einem Segeltörn zum Genuss rauchten. In den USA war sogar eine ganze Sportart mit Nikotin verbunden: Kurz nachdem 1876 die National Baseball League gegründet worden war, lagen schon Sammelbildchen von ihren Stars Zigarettenpackungen bei. In den Jahren zwischen 1920 und 1940 hatte jedes Team seinen ­eigenen Sponsor aus der Zigarettenindustrie, brav rauchten die Spieler in der Öffentlichkeit nur die jeweilige Vereinsmarke.

1964 wurde es den Herstellern verboten, Prominente in der Zigarettenwerbung zu zeigen. Sportveranstaltungen wie Nascar-Rennen und Rodeos wurden trotzdem weiter von der Industrie gesponsert, erst seit der Jahrhundertwende kommt das Geld von Nikotinkaugummi- und Kautabakherstellern. Ganz vorbei sind die Kooperationen zwischen ­Tabakkonzernen und Sportlern allerdings noch nicht: In China machte der gefeierte Hürdenläufer Liu Xiang, der 2004 in Athen die Goldmedaille über 110 Meter gewonnen hatte, noch während seiner aktiven Zeit sowohl Fernseh- als auch Printwerbung für den Zigarettenhersteller Baisha.

Zwischen 50 und 60 Prozent der Athleten aus den Sportarten Fußball, Eishockey, American Football, Baseball, Basketball, Curling und Wasserball wiesen einer Schweizer Studie zufolge einen hohen Nikotinpegel auf.

Der französische Diplomat Jean Nicot und der britische Politiker und Seefahrer Sir Walther Raleigh hatten den Tabak im 16. Jahrhundert in Europa populär gemacht. Nicot glaubte, damit endlich ein Heilmittel gegen alle Übel bis hin zur Pest in Händen zu haben. Raleigh hingegen machte es sich zur Aufgabe, möglichst vielen Menschen das Rauchen schmackhaft zu machen, weshalb John Lennon ihn im Song »I’m So Tired« als »dummen Kerl« verewigte. Die Einwohner Amerikas hatten bereits jahrhundertelang aus Tabakpflanzen Drogen gewonnen, die sie im Verlauf von Ritualhandlungen in sehr hohen Dosierungen zu sich nahmen, um das halluzinogene Potential auszunützen. Nikotinab­hängigkeit war bei ihnen hingegen kaum bekannt. Erst die Europäer veredelten Tabakblätter zu einer Droge, die, in kleinen, aber regelmäßigen Dosen zugeführt, die Konzen­trationsfähigkeit erhöhte, freilich aber auch die Suchterkrankung mit sich brachte.

Lange waren es nicht Sportler, die Doping mit Nikotin betrieben, sondern Geistesathleten. Künstler, Philosophen und Schriftsteller experimentierten zwar mit allen möglichen Drogen, doch während Opium rasch das Interesse an allem außer Opium schwinden ließ, Kokain nur sehr kurzfristig kreativ und dafür rasch psychotisch machte und Haschisch nicht gerade die Tatkraft erhöhte, erwiesen sich Koffein, Alkohol und Nikotin als jene Stimulanzien, die man jahrelang bei etwa gleichbleibender Wirkung zu sich nehmen konnte.

 

Regelmäßig zugeführtes Nikotin ­erhöhte nicht nur die Konzentrationsfähigkeit, sondern die Denkfähigkeit insgesamt, weswegen im Zeitraum zwischen ungefähr 1800 bis 1985 Intellektuelle und Tabakqualm zusammengehörten wie katholischer Gottesdienst und Weihrauch. Sigmund Freud und Karl Marx rauchten bis zu 20 Zigarren täglich. Wenn Freud versuchte, weniger oder nichts zu rauchen, wurde er unproduktiv und depressiv. Der Philosoph Emil Cioran schrieb sechs Jahre, nachdem er mit dem Rauchen auf­gehört hatte, in seine cahiers: »Seitdem kann ich nicht mehr schreiben, außer mit Mühe, Überlegung, Ekel.« Der Kettenraucher Robert Musil bezeichnete das Leben als »etwas Unangenehmes, über das man durch Rauchen hinwegkommen kann«. Thomas Mann qualmte auch nach einer Lungenkrebsdiagnose weiter und Mark Twain sagte, falls im Himmel Rauchverbot herrsche, wolle er nicht dort hin.

Berühmte Athleten wie der italienische Radfahrer und »Gerechte ­unter den Völkern« Gino Bartali rauchten zwar Kette, doch taten sie dies nicht, um schneller oder stärker zu werden, sondern weil sie gerne qualmten. Im Sport wird Nikotin erst seit wenigen Jahren gezielt zur Leistungssteigerung eingesetzt. Seit aber mit immer genaueren Bluttests immer mehr Substanzen ermittelt werden können, deren Einnahme gegen die Dopingregeln verstößt, setzen Sportler und Trainer verstärkt auf Nikotin. Die Universität von Lausanne und das Schweizer Labor für Dopinganalyse untersuchten vor fünf Jahren die Urinproben von mehr als 2000 Athletinnen und Athleten. Das überraschende Resultat: 19 Prozent der Proben enthielten hohe Rückstände von Nikotin. Nun könnte man zwar anmerken, das sei angesichts der rund 25 Prozent Raucher an der Gesamtbevölkerung ein geringer Schnitt. Aber die Forscher schlüsselten die Ergebnisse auch nach einzelnen Sportarten auf, und da zeigte sich ein ganz anderes Bild: Zwischen 50 und 60 Prozent der Athleten aus den Sportarten Fußball, Eishockey, American Football, Baseball, Basketball, Curling und Wasserball wiesen einen hohen Nikotinpegel auf. Bei Skisportlerinnen lag der Prozentsatz immerhin noch bei 36 Prozent. Tendenziell, so der Rückschluss, kommt Nikotin in jenen Sportarten häufiger zum Einsatz, die eine hohe Konzentration und ein schnelles Reaktionsvermögen erfordern. Kraft- und Ausdauersportler greifen seltener zum Nikotin.

Zwar gibt es mehr Berufssportler, die auch zum Privatvergnügen rauchen, als Gesundheitspolitikern lieb sein dürfte, doch nehmen die meisten Athleten das Nikotin in Form von Snus, Schnupftabak oder Kaugummi zu sich. Snus wurde in Skandinavien entwickelt und ist eine Mischung aus getrocknetem Tabak, Wasser, Salz und Aromen, die meist, in kleine Stoffbeutelchen verpackt, zwischen Zahnfleisch und Oberlippe geklemmt wird und für eine rasche Aufnahme des Nikotins in den Blutkreislauf sorgt. Obwohl eine WHO-Studie im Jahr 2003 darauf verwies, dass die Verbreitung von Snus in Skandinavien wohl zum relativ niedrigen Raucheranteil an der Gesamtbevölkerung beiträgt, wurde der Verkauf des Produkts in der gesamten EU ver­boten – nur in Schweden nicht.

Die Welt-Antidoping-Agentur hat Nikotin bislang noch nicht auf ihre Liste der verbotenen Dopingmittel gesetzt. Das liegt ironischerweise nicht nur an der widersprüchlichen Studienlage, sondern auch am Kampf der westlichen Industrienationen, allen voran der USA, gegen den Tabak. In den Vereinigten Staaten findet sich keine Publikation mehr, die Nikotin auch nur einen einzigen guten Nebenaspekt zugestehen würde. Dem Stoff soll auch keine leistungsfördernde Wirkung mehr zugesprochen werden. Seriöse Sportmediziner weisen darauf hin, dass Nikotin erstens süchtig mache und zweitens nur in geringer Do­sierung eine aufputschende Wirkung habe. Wer nach dem Motto »viel hilft viel« immer höhere Dosen Nikotin einnimmt, mag zwar seine Konzentrationsfähigkeit erhöhen, doch statt einer antreibenden Wirkung tritt eine beruhigende ein – und sei es nur, weil das Suchtbedürfnis gestillt wird.