Mannheim ist das neue Zentrum des Hardcore Punk

Mannheimer Manieren

In Mannheim erlebt der uramerikanische Sound des Hardcore Punk eine Wiederbelebung, an der mehrere lokale Bands arbeiten.

Mannheim muss man nicht gesehen haben. Ausländische Touristen treibt es eher ins nah gelegene Heidelberg, der Deutsche ist vielleicht mal mit dem Zug durchgefahren. An kaum einem anderen Bahnhof in Deutschland kreuzen sich so viele ICE-Züge mit Fernzügen nach Paris und Mailand, Tirol und in die Schweiz. In ­diesem Sommer darf man sich auf die Neueröffnung der Kunsthalle in unmittelbarer Nachbarschaft zum Wasserturm freuen, dem 60 Meter hohen Stadtwahrzeichen. Im Café Fontanella kann man Spaghettieis genießen, das in Mannheim erfunden und mit Hilfe einer Spätzlepresse erstmals hergestellt wurde. Die von Gastarbeitern geprägte Stadt bietet eine Dönermeile und zahlreiche italienische Spezialitätengeschäfte.

Noch immer dominiert Industrie das Stadtbild. Das riesige BASF-Werk in Ludwigshafen mit 40 000 Mitarbeitern ist von fast jedem Punkt der Stadt aus zu sehen. Mehrere amerikanische Weltmarken wie John Deere oder General Electric haben hier Produktionsstätten. Auch wenn die US-Army längst abgezogen ist, ist die Stadt immer noch Militärstandort: Hier sind weiterhin Panzer und anderes Material für einen möglichen Bodeneinsatz gegen Russland gelagert.

Musik in Mannheim? Hat eine Geschichte: Mozart ließ sich von den Klangkünstlern der Stadt inspirieren. Ja, und dann gibt es die Söhne Mannheims, aber deren verschwörungsraunende Texte lassen selbst den Oberbürgermeister ein Krisentreffen einberufen. Aber das ist nicht alles, was man zum Thema Musik und Mannheim wissen sollte: Um Yannick Grönlund (29) und Fabian Rösel (27) hat sich in den vergangenen zwei Jahren ein loser Kreis gebildet, dessen musische Elaborate Maßstäbe setzt für einen Sound, der sich – obwohl bereits seit den achtziger Jahren totgesagt – in kleinen Zirkeln stets weiterentwickelt: Straight Edge Hardcore Punk.

Ende der siebziger Jahre gründeten sich an der US-amerikanischen West- und Ostküste fast gleichzeitig Bands, deren adoleszente Mitglieder eine Vorliebe für die Rohheit des britischen Punkrock hatten, mit dessen No-Future-Nihilismus sie aber ebenso wenig anfangen konnten wie mit bunten Haaren und Sicherheitsnadeln. Die Protagonisten waren zu jung und ihre Musik zu hart, um in der Musikbranche ernst genommen zu werden. Es galt: selber machen. Im Juni 1981 schleuderten Minor ­Threat aus Washington / DC ihren Song »Straight Edge« in die Welt: »I’m a person just like you / But I’ve got better things to do / Than sit around and fuck my head / Hang out with the living dead / I’ve got the Straight Edge«.

War die Schnittmenge von Straight-Edge-Hardcore und konventionellem Punk zunächst recht groß, bildete sich bald eine eigene Szene heraus, der – abgesehen von der glücklichen Ausnahme der Bad Brains – zumeist weiße Mittelstandssprössline angehörten und der schnell der Ruf eines elitären Jungsclub anhaftete. Dafür ist besonders der Boston-Sound bekannt, der den Straight-Edge-Gedanken mit einer aggressiven Jock-Attitüde garnierte. In Boston wurde Hardcore zum »Blues of white suburbia«: primitiv, repetitiv, zutiefst amerikanisch und in der nüchternen Wut sich selbst mehr als genug.

Die prägenden Musiker der Zeit wandten sich schnell anderen musikalischen Feldern zu. Richtungsweisende Bands lösten sich auf oder änderten ihren Stil – für viele Fans bis zur Unerträglichkeit. Doch seit nunmehr 40 Jahren spielen immer neue Gruppen den »alten Sound«, den authentischen old school-Hardcore. Dieser scheint sich seit Mitte der achtziger Jahre in einer Endlosschleife zu befinden, was diejenigen, die ihn spielen oder hören, keinesfalls stört.

Fabian Rösel: »Etwa 2012, 2013 habe ich in die Hardcore-for-Hardcore-Gruppe auf Facebook geschrieben, dass ich in Mannheim wohne und gerne eine Band machen würde, die nach dem alten Boston-Sound klingt.« »Wir waren vor ein paar Jahren einfach gelangweilt von den deutschen Bands«, erinnert sich Yannick Grönlund, »also haben wir welche gegründet, die wir mögen.«

Ihre erste gemeinsamen Band waren die Skaggs. Nach zwei Demos war die Band schon wieder nach alter Sitte so schnell aufgelöst, wie sie entstanden war. Doch der Funke glomm. Die Auflösung war der eigentliche Beginn einer Blüte. »Als ich gegen Ende der Skaggs mit Night Force anfing war ich Single, geringfügig beschäftigt und wollte etwas machen, von dem ich nicht wusste, ob es so klingt wie eine Punkband aus der Neuromancer-Romanserie. Das war zumindest der Plan.« Yannick Grönlund nahm sechs Songs in Eigenregie auf, spielte alle Instrumente selbst ein.

Inzwischen ist Rösel an der Gitarre und um einige Ecken hat man Kontakt zu Ola Herbich geknüpft. Die 33jährige betreibt in London das Label Quality Control und hat die Debüt-EP von Night Force veröffentlicht. Ihre Platten werden im Mutterland des Hardcore Punk, den USA, genauso gekauft wie in Europa. Das ist eine Seltenheit. »Es ist ja leider weiterhin so, dass zwar alle amerikanischen und englischen Bands gerne zu uns kommen, um zu spielen, aber unsere Bands dann den Support machen. Die Engländer schauen, was in den USA passiert, die Deutschen, was in England und den USA passiert, aber die Blickrichtung nach Osten gibt es irgendwie nie. Polnische und ukrainische, ja selbst einheimische Bands werden viel zu wenig wahrgenommen«, meint Andy Villhauer, der Gitarrist der Band Spirit Crusher.

Betrachtet man Night Force als die Mannheimer Beatles dieser Generation, sind Spirit Crusher die Rolling Stones: einer mehr, noch härter. Spirit Crusher besteht aus älteren Musikern, die nur zum Teil in Mannheim leben. Die Karriereambitionen sind moderat. Shows spielen sie, wenn alle Zeit haben. »Wir haben im vergangenen Jahr in Belgien, der Schweiz und London gespielt und eine kleinere Tour durch Deutschland und Polen gemacht. Dieses Jahr waren wir in Barcelona«, erzählt Bassist Peter Bastian. Wie Night Force erfreuen sich Spirit Crusher einiger Aufmerksamkeit aus England, wo ihre erste Platte erschien.
Ausgehend von Night Force und Spirit Crusher wurden in den vergangenen zwei Jahren in hoher Geschwindigkeit eine Reihe Bands gegründet, die alle Varianten des für ungeübte Hörer immer gleichklingenden Stils spielen und in denen Yannick Grönlund, Fabian Rösel sowie Andy Villhauer verschiedene Parts übernehmen: Domain (Grönlund: Bass, Rösel: Gesang), Total Reality (Grönlund: Gitarre), Declaration (Rösel: Gitarre, Grönlund: Schlagzeug), Exposure (Grönlund: Gitarre) und Spark (Villauer: Gesang, Rösel: Bass).

Inzwischen kursieren bereits Songs einer Persiflage-Band namens Monkeyfellow; ein Mitglied gibt sich in einem fingierten Interview ebenfalls als Grönlund aus. Das Original winkt ab: »Die Songs sind ziemlich durchschnittlich, was sicherlich auch so gedacht war. Ich persönlich fand witzige Hardcorebands schon immer scheiße, auch wenn ich weder mich selbst, noch meine Bands todernst nehme.«

Und wie so oft blüht Subkultur dort, wo der offizielle Blick gerade nicht hinfällt, meist jenseits von internationalen Hotspots oder Szenevierteln, was in Mannheim der Jungbusch wäre, dessen gerade mal fünf Straßen den Begriff Viertel etwas überdehnen. Am Rhein-Neckar-Kanal gelegen, waren die wenigen Straßenzüge westlich der Innenstadtquadrate lange Zeit ein berüchtigtes Rotlichtviertel. Als die Stadt 2004 den Neubau der University Of Popular Music And Music Business, kurz Pop-Akademie, direkt am Ufer des Kanals eröffnete, folgten eine Aufwertung der Nachbarschaft und neue Gastronomie. Bars eröffneten, Investoren kauften Häuser.

Mit den Aufwertungsbemühungen im Dunstkreis der Pop-Akademie hat die Mannheimer Hardcore-Szene wenig zu tun. Sie spielt sich auf der anderen Seite des Neckars ab. Ihr gefährdeter Wirkungsraum im Norden der Stadt ist das Jugendzentrum Friedrich Dürr, wo Proberäume und Auftrittsmöglichkeiten bestehen. Noch im Dezember drohte die CDU-Fraktion im Rathaus eine Kürzung der staatlichen Unterstützung für das seit 1973 in seiner jetzigen Form betriebene Autonome Kulturzentrum an – die Finanzierung linksradikaler Gruppen sei nicht mehr tragbar. Es gab Proteste. Der Gemeinderat lehnte den CDU-Vorschlag ab. Die Bands können weiter proben und Konzerte geben.

Mannheim ist das neue London ist das neue Boston? Es ist in der Tat eine Erfrischung, dass es in der Stadt einige Leute gibt, deren sprudelnde Kreativität und internationale Vernetzung weltweite Spuren hinterlassen und vielleicht sogar dazu beitragen, den Blick einer Jugendbewegung, die seit nunmehr fast 40 Jahren gen Westen schaut, umzulenken. Oder um das, was in Mannheim passiert, mit Worten der Labelchefin Ola Herbichs zu beschreiben: »It’s good Hardcore, and that is that.«
Am 23 März erschien eine Nachpressung des Demo von Spark auf Vinyl bei Blacktop Records. Domain veröffentlichen ihre EP Retreat im April auf Refuse Records. Die EP von Total Reality wird im Frühsommer bei Erste Theke Records erscheinen.