Angela Nagle, Autorin, im Gespräch über Kulturkriege im Internet

»Die Rettung wird nicht aus obskuren Gegenkulturen kommen«

Interview Von Bernhard Pirkl

Im vergangenen Jahr erschien in den USA Angela Nagles Buch »Kill all Normies. Online culture wars from 4chan and Tumblr to Trump and the alt-right«. Der schmale Band wurde zum Verkaufsschlager, stieß aber bei vielen Linken auf heftige Kritik. Auf der Transmediale 2018 konnte Nagle ihre Argumente in Berlin präsentieren.

»Kill all Normies« wurde in den USA vor allem als ein Buch über die Alt-Right und die Campus-Linke ­rezipiert. Es geht aber auch um die »Normies«, die gewissermaßen das Komplement zum »Hipster« darstellen. Weshalb ist dieser Begriff wichtig?
Der Begriff erschien mir hilfreich, um eine Debatte darüber anzuregen, warum Marginalität und Gegenkultur fetischisiert werden. Es ist heutzutage beinahe so, dass niemand mehr meint, zum Mainstream zu gehören. Es ist ­paradoxerweise geradezu die maßgebliche ästhetische Norm. Ich bin nicht geneigt, einen Wettkampf mit der Rechten um diese gegenkulturelle Pose aufzunehmen. Meine Frage lautet stattdessen: Warum will scheinbar jeder Teil einer Gegenkultur sein? Warum ist der Durchschnittsmensch so übel beleumundet? Außerdem fand ich, dass der Titel einfach witzig klingt. Die Alt-Right benutzt den Begriff oft, um eine Person zu beschreiben, die Mainstream-Medien konsumiert, einen Mainstream-Geschmack hat, Mainstream-Meinungen teilt, die nicht redpilled ist, die also nicht das Licht der Wahrheit gesehen hat.

Man könnte das auch als eine satirische Minimaldefinition von Ideologiekritik lesen. Die Kritik des Mainstream und der Massenkultur ist traditionell die Domäne der Linken und linker Avantgarden.
Mein Buch stellt auf jeden Fall eine Art interner Kritik der Linken dar, und auch meines eigenen Standpunkts, den ich jahrelang einnahm. Bei der Beschäftigung mit der Alt-Right war es mir nicht mehr möglich, das Vorurteil zu reproduzieren, dass Gegenkultur etwas inhärent Emanzipatorisches habe. Wir sind so daran gewöhnt, die Massenkultur und die Massengesellschaft zu kritisieren, dass wir übersehen, dass einige der nihilistischsten, menschenfeindlichsten und gewalttätigsten Impulse in Wirklichkeit von den Rändern kommen. Die Annahme einer notwendigen Verwandtschaft von ästhetisch-politischer Marginalität und progressivem Inhalt ist ein hartnäckiges Fehlurteil.

Warum haben Linke so oft und so lange den reaktionären Gehalt der Gegenkultur im Internet übersehen?
Linke halten oft die größten Scheußlichkeiten für links, wenn sie in einem gegenkulturellen Rahmen oder mit ­einer entsprechenden Ästhetik daherkommen. 4Chan ist dafür ein gutes Beispiel, auf das ich in meinem Buch besonders eingehe. Die Anthropologin Gabriella Coleman war zum Beispiel fähig, 4Chan in einem völlig positiven Licht darzustellen, so wie viele andere auch, die nicht zur politischen Rechten zählen. Wie konnten sie zum Beispiel die Frauenfeindlichkeit übersehen? Linke Intellektuelle schaffen es mühelos, Frauenfeindlichkeit zu übersehen, wenn sie in einer Gegenkultur stattfindet, wohingegen der Durchschnittsmensch gar nicht kritisch genug betrachtet werden kann. Man kann zur Zeit etwa viel über »toxische Maskuli­nität« lesen, womit eine Mainstream-Maskulinität gemeint ist. Aber die schlimmste Frauenfeindlichkeit findet sich in der Gegenkultur. Mein Buch soll auch als Anregung verstanden werden, über diese eingeschliffenen ästhetischen Urteile nachzudenken.

Einige Rezensionen Ihres Buchs ­bemängelten, dass das Thema »Klasse« zu kurz kommt. Gibt es einen Klassenaspekt, der für die Alt-Right charakteristisch ist? Oder ist Geschlecht der dominante Faktor?
Es gibt eine ökonomische Dimension, und sie betrifft die Arbeitslosigkeit. Der Schlüsselbegriff der Alt-Right ist hier »NEETS« (Not in Education, Employment, or Training). Es gibt diese Vorstellung einer Expertenklasse im Wartestand.

Wir haben es mit einer Schicht junger Männer zu tun, die viel Zeit haben, obskures Wissen anzuhäufen, im Wesentlichen handelt es sich dabei um Verschwörungstheorien. Sie betrachten sich quasi als eine neue Art von Intelligenzia, aber im Grunde sind sie nur ein Haufen arbeitsloser Typen. Es ist fast witzig, sie halten sich für eine Elite, und manche von ihnen sind tatsächlich recht belesen, auch wenn man ihre Quellen in Frage stellen kann. Ein interessantes Beispiel ist Sam Hyde, der »Alt-right-comedian«, ein sehr talentierter Mensch. Seine Show für den US-amerikanischen Fernsehsender Adult Swim kann man guten Gewissens als avantgardistisch bezeichnen. Er ist Absolvent einer Kunstakademie und sehr verbittert darüber, verschuldet zu sein (das Studium in den USA ist meist kreditfinanziert, Absolventen haben im Durchschnitt 37 000 Dollar Schulden, Anm. d. Red.), weswegen er den Hochschulen den Krieg erklärt hat. Seinen Fans predigt er, nicht zur Uni zu gehen. Millennial Woes, eine anderer Prominenter der Alt-Right, ist ebenfalls ein ehemaliger Kunststudent, und auch seine politische Haltung hat ihren Ursprung in dieser Bildungsbiographie. Ich halte das für signifikant. Es mag sich nicht um eine Klasse im ­traditionellen Sinne handeln, aber es gibt diese verbitterten, jungen, arbeitslosen, formal gebildeten Leute ohne Zukunft, welche die Trägerschicht der Alt-Right darstellen. Es ist dennoch nicht mein Ziel, Dinge sofort unter der Vorgabe einer linken Antwort zu ana­lysieren. Sollte der Aspekt »Klasse« sich als das beste Analysekriterium erweisen – gut. Aber in anderen Fällen bietet es sich eben nicht an. Meine Methode ist es nicht, eine dogmatische Klassenanalyse auf einen Gegenstand zu stülpen, wenn sie nicht richtig passt und keine Erkenntnis bietet.

 

»Linke Intellektuelle schaffen es mühelos, Frauenfeindlichkeit zu übersehen, wenn sie in einer Gegenkultur stattfindet.«

 

In der Debatte um Ihr Buch spielten einige Aussagen eine zentrale Rolle, wie etwa ihre These von den »sauertöpfischen identitären Linken, die in diesem heftigen Kulturkampf zweifellos viele junge Leute in die Hände der Rechten getrieben haben«. Ist das nicht eine zu einfache Erklärung?
Es ist eine Frage intellektueller Redlichkeit. Für diese These gibt es eine überwältigende Menge an Beweismaterial. Ich sehe ein sehr konstantes Muster bei privaten Unterhaltungen unter Anhängern der Alt-Right, wenn es darum geht, wie sie dorthin gelangt sind. Vor allem die Jüngeren, nicht die ­Generation von Richard Spencer, sondern die Teenager, die 4Chan-User, begründen ihre Anhängerschaft ähnlich. Sie werden von der Linken abgestoßen, und wenden sich der Rechten zu. Das bedeutet nicht, dass ich der Linken die Schuld daran gebe, letztlich sind die Rechten selbst verantwortlich. Doch wenn eine sehr große Zahl junger Leute, von denen viele intelligent und interessiert an Ideen sind, sich von der Linken abwendet – sollte uns das nicht zu denken geben und Anlass für Selbstkritik sein? Ich halte es nicht für hilfreich, so zu tun, als ob all das gar keine andere Ursache habe als schlicht eine moralisch verwerfliche Haltung. Man kennt diese Art der moralischen Erpressung: Wer die Linke kritisiert, betreibt victim blaming. Diese Denkart ist nichts weiter als der Versuch, wertvolle und produktive Selbstkritik zu unterbinden.

Es gibt einen Freud’schen Tenor in Ihrem Buch, ein Unbehagen mit dem »Unbehagen in der Kultur«. Stellen sie sich dezidiert auf die ­Seite der Kultur?
»Das Unbehagen in der Kultur« war und ist enorm wichtig für mich, vor allem der Gedanke der Ambivalenz von Tabus. Einerseits führen Tabus zu Neurosen, andererseits erlauben sie es uns, einigermaßen friedlich zusammen­zuleben. Was quasi jeder will, ist, frei von Hemmungen zu leben – alle anderen sollen sich aber zurückhalten. Es gibt also diesen konstanten Konflikt. Ich schätze an Freud sehr, dass er diesen Konflikt so stehen lässt. Er vermeidet, etwas in der Art von » … und deswegen sollten wir dies oder jenes machen« zu schreiben, wie politischere Menschen das tun würden. Er schreibt, dass dies ein Konflikt sei, mit dem wir es immer zu tun haben werden, mitsamt seiner negativen Erscheinungen, aber letztlich seien Tabus notwendig. Sieht man sich vor diesem Hintergrund den guten Ruf der Enthemmung in der Kunstwelt, bei Linken und bei zahlreichen Theoretikern an, ist das Phänomen der Alt-Right instruktiv. Hier sieht man, wozu es eben auch führen kann, wenn Tabus keine Rolle spielen. Wir sollten sehr kritisch mit dieser Sechziger-Jahre-Idee der unbedingten Fortschrittlichkeit von Tabubrüchen und Impulsivität umgehen.

Gibt es für Sie heute noch etwas, dass an dieser Ästhetik, diesem Stil zu retten ist?
Es gibt diese Bewegung hin zu immer kleineren Organisationsformen. Soziale Bewegungen haben Klassenpolitik ersetzt. Ich denke viel über den Wert echter Massenpolitik nach, die Art von Politik also, die wirklich einen Effekt hat, aber auch über Dinge wie das soziale Umfeld, etwa seine Nachbarn gut zu kennen, also Bereiche, welche die permanente Kritik der Massenkultur nicht erreicht. Weit bin ich damit ­allerdings noch nicht. Ich mag etwa an Leuten wie Bernie Sanders, dass sie eine Sprache der Solidarität gefunden haben, mit der sie Alltagsprobleme ­artikulieren können. Ich fordere freilich nicht, dass dies die einzige Orga­nisationsform der Linken werden soll, dazu schätze ich selbst Avantgarden und ihre Geschichte viel zu sehr. Aber man muss sich schon eingestehen, die Prioritäten falsch gesetzt zu haben, wenn dieser Avantgardismus das alleinige Zentrum des Interesses ist. Wenn wir nicht in der Lage sind, Alltagsprobleme zu artikulieren, gibt es keine politische Hoffnung. Deswegen warne ich vor dem Glauben, dass die Rettung aus obskuren Sub- und Gegenkulturen kommen wird.

Der Titel des ihres letzten Kapitels zitiert einen Smiths-Song: »That Joke Isn’t Funny Anymore«. Ist das ein Hinweis auf eine Ästhetik, die Ihnen als Alternative vorschwebt?
Die Band heißt ja schon The Smiths. Ein völlig alltäglicher Name. Morrissey war immer zerrissen zwischen seiner Empfindsamkeit für das Gewöhnliche, ganz in Stile des Kitchen-Sink-Realismus, und seinem Outsidertum. Manchmal, wenn ich die vernichtenden Rezensionen lese, die er als Teenager geschrieben hat, denke ich, dass er einen guten Troll abgegeben hätte. Aber es gibt auch etwas Erlösendes an den Smiths, weil sie die Noblesse gewöhnlicher Menschen besingen. Morrissey war oft in Männer verliebt, die eine, nun, recht übliche Form von Maskulinität verkörperten. Er wollte quasi das Schöne aus dem Gewöhnlichen hervorholen. Diesen Teil der Ästhetik der Smiths finde ich sympathisch. Es ist schon bemerkenswert, dass er nun offenbar zur Rechten übergewechselt ist. Er war schon immer eine Art reaktionärer Romantiker. Aber auch ein ­Genie.