In Bolivien macht Gewalt gegen Frauen und Mädchen sogar den Schulweg gefährlich

Lernen gegen den Machismo

In Bolivien können Mädchen aus armen ländlichen Familien oft keine weiterführende Schule besuchen. Selbst der Schulweg ist häufig gefährlich, Gewalt gegen Mädchen und Frauen ist weit verbreitet. Mit Gesetzesinitiativen versucht der Staat, der Gewalt entgegenzuwirken.

Das Metalltor mit der abgeblätterten weißen Farbe schimmert im diffusen Licht der Straßenlaterne. Aus dem Rohbau darüber sind Stimmen zu hören. Es erklingt ein Choral, dann öffnet sich die Metalltür einen Spalt breit. »Alle Mädchen sind oben in der Kirche, aber wir können kurz in meinem Büro sprechen, bevor wir dazustoßen«, sagt Corina Ninachoque. Die Erzieherin leitet das Mädcheninternat Centro de Apoyo Pedagógico Verena Wells in der bolivianischen Kleinstadt Caranavi, über 160 Kilometer von La Paz entfernt im tropischen Tiefland. Vor ungefähr sieben Jahren hat die lutherische Kirche hier das Internat für Mädchen und junge Frauen aufgebaut.

»30 Plätze haben wir hier, um Mädchen den Besuch der weiterführenden Schule zu ermöglichen«, erklärt die 30jährige Ninachoque. »In den Dörfern der Region, wie Sapecho, Poroma oder Palos Blancos, gibt es nur Grundschulen, so dass die Mädchen in größere Städte umziehen müssen, um ihr Abitur zu machen. Doch anders als bei den Jungen werden die Mädchen nicht ohne weiteres nach Caranavi geschickt – sie sind klar benachteiligt«, schildert die Erzieherin die Verhältnisse in der die Provinz.
Die von Tälern und Bergen umgebene Kleinstadt Caranavi lebt vom Anbau von Kaffee, Früchten und Koka. Auf den von tropischem Regenwald bedeckten Hängen zwischen 900 und 1 800 Metern über dem Meeresspiegel schuften viele der Familien, deren Kinder im Mädcheninternat untergebracht sind. Für sie ist die Landwirtschaft die einzige Geldquelle. Doch die Kaffeeproduktion ist wegen Befalls mit dem Kaffeerostpilz stark eingebrochen. Viele Familien könnten es sich nicht leisten, ihre Kinder zum weiterführenden Schulbesuch nach Caranavi zu schicken, so die Pädagogin. »Kaum eine der Familien ist in der Lage, etwas zur Versorgung ihrer Kinder beizutragen«, sagt sie, schließt ihr Büro ab und geht die Treppe hoch zum Gottesdienst.

Gefährlicher Schulweg
Morgens und abends wird in dem Rohbau, dem noch Fenster und Türen fehlen, die Messe gelesen. Manchmal von Pfarrer Emilio Aslla, dem Oberhaupt der Evangelisch-Lutherischen Kirche Boliviens, meistens aber von einem Mitglied der Kirchengemeinde. Aslla reist regelmäßig in die kleine Stadt im Regenwald, die etwa vier Stunden Fahrt von La Paz entfernt liegt. »Trotz aller Fortschritte in Bolivien ist der Bedarf an Hilfe auf dem Land nach wie vor groß. Daher arbeiten wir als lutherische Kirche Boliviens in kleinen Provinzstädten wie Caranavi«, sagt der 52jährige. Besonders benachteiligt dort seien Mädchen und junge Frauen. »Sie müssen kämpfen, um zur weiterführenden Schule zu gelangen, und sich auch immer wieder gegen sexuelle Gewalt wehren.«

»Mir gefallen klare Regeln, und in Bolivien wird vieles nicht umgesetzt, was eigentlich fix ist. Das muss sich ändern.« Jhenny Chino Flores, Internatsschülerin in Caranavi

Damit spricht der Pfarrer ein Thema an, das in Bolivien noch zu oft tabuisiert wird. Bolivien hat in Lateinmaerika die höchste Geburtenquote in der Altersgruppe der 15- bis 19jährigen und Experten monieren, dass es an Sexual­erziehung und Prävention mangele. Viele Eltern lassen in der Region von Caranavi ihre Töchter aus Angst vor sexuellen Übergriffen und frühen Schwangerschaften nicht zur weiterführenden Schule gehen. Das Internat der lutherischen Kirche bietet hier eine Alternative und ist derzeit mit 26 Mädchen ausgelastet. »Unsere Mädchen gehen an zwei verschiedene Schulen im Ort, erhalten bei uns, wenn nötig, Nachhilfe und wir überlegen, wie wir ihnen nach dem Abitur noch weiterhelfen können«, sagt Ninachoque.

Jhenny Chino Flores würde das gefallen, denn die 16jährige macht bald das bachillerato, das Abitur, hat Spaß am Lernen und will entweder Erziehungswissenschaft studieren oder zur Polizei gehen. »Mir gefallen klare Regeln, und in Bolivien wird vieles nicht umgesetzt, was eigentlich fix ist. Das muss sich ändern«, sagt sie forsch. Dazu will sie ihren Beitrag leisten. Wichtig sei es, dass Mädchen und Frauen respektiert werden. Ninachoque nickt zustimmend. Sie erzieht die zwischen neun und 16 Jahren alten Mädchen zu Solidarität untereinander. Für einige ist sie eine Art Ersatzmutter; zu ihr kommen die Schülerinnen, wenn sie Heimweh haben, vertrauen ihr aber auch traumatisierende Erlebnisse an.

Manchmal geht es wie bei der Schülerin Britnay Goméz Huanca auch um ihre Zukunftspläne. Sie will Anwältin werden, um Mädchen und Frauen zu ihrem Recht zu verhelfen. »Das wird in Bolivien kaum respektiert«, kritisiert die Heranwachsende. Darunter haben auch die Schülerinnen des Mädcheninternats zu leiden – sexuelle Angriffe auf dem Schulweg sind dafür nur ein Beispiel. »Wir haben zwei Mädchen mit Gewalterfahrung hier. Sie haben sich mir anvertraut. Einer wurde auf dem Schulweg mehrfach aufgelauert – sie wurde vergewaltigt«, sagt Ninachoque mit leiser Stimme. Das Mädchen sei traumatisiert und brauche professionelle Hilfe. Doch psychologisches Personal kann sich das Internat nicht leisten. Zwar hätten die staatlichen Stellen die Anzeige aufgenommen, aber ob sie Folgen haben wird, ist ungewiss.

Gesetz und Praxis
Boliviens Polizei hat nicht den besten Ruf, gerade bei Vergewaltigungsfällen ist die Aufklärungsquote gering. Ihre Zahl nimmt aber stetig zu. Jeden Tag wird nach Angaben der Defensoria, der Ombudsstelle für Menschenrechte, eine Minderjährige vergewaltigt; oft sind Verwandte, manchmal Nachbarn die Täter. »Wir stehen einem alarmierenden Werteverfall gegenüber«, meint Ninachoque zu dieser Entwicklung.

Julieta Montaño Salvatierra

Julieta Montaño Salvatierra setzt sich für Frauenrechte ein

Bild:
Krnut Henkel

Feministische Gruppen wie »Mujeres Creando« kritisieren den allgegenwärtigen Machismo als Ursache, gegen den kaum etwas unternommen werde. Gewalt gegen Frauen sei ein strukturelles Problem. Das bestätigen die Zahlen: Die Fälle sexueller Angriffe werden häufiger, obwohl die Regierung mit schärferen Gesetzen und Kampagnen versucht, dem gegenzusteuern. In Städten wie La Paz, El Alto und Cochabamba haben die Behörden in den vergangenen Jahren damit begonnen. In El Alto wurden die Brücken an den wichtigsten Straßen von den Behörden mit Parolen gegen Gewalt an Frauen versehen – etwas, das autonome Gruppen wie »Mujeres Creando« seit Jahren mit Graffiti in den Straßen tun – und der Forderung, solche Fälle anzuzeigen. Soziale Bewegungen kritisieren allerdings immer wieder, dass es zum Beispiel in den armen Stadtteilen El Altos, wie Villa Paulina, gar keine Polizeidienststellen gibt.

Das wichtigste Instrument der Regierung ist das Gesetz 348, das im März 2013 erlassen wurde. »Es soll den Frauen in Bolivien ein Leben ohne Gewalt garantieren und ist ein großer Fortschritt. Allerdings geht die Implementierung nur langsam vonstatten. Es fehlt am nötigen Etat für die Umsetzung«, sagt Julieta Montaño Salvatierra. Die Direktorin der Oficina Jurídica para la Mujer (OJM) ist Anwältin und Frauenrechtlerin und verweist auf die 104 Frauenmorde, die in Bolivien im vergangenen Jahr registriert wurden – 27 davon in ihrer Herkunftsstadt Cochabamba. Der sieben Stunden Fahrt von La Paz entfernte Ort gibt sich Mühe, ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen. An der Fassade der Stadtverwaltung an der Plaza 14 de Septiembre, dem zentralen Platz von Cochabamba, hängt ein Transparent in leuchtendem Rosa mit dem Konterfei einer prominenten Schauspielerin und dem Schriftzug: »Wir sind frei, idealistisch, Anführerinnen, kreativ, Arbeiterinnen, gerecht. Weil wir Frauen sind«.
»Man hat erkannt, dass man mehr tun muss, um die Gewalt gegen Frauen einzudämmen. Meine Einstellung ist eine Konsequenz davon«, sagt Marlen Heredia. Die Psychologin arbeitet für die Verwaltung von Cochabamba. »Derzeit habe ich meinen Platz in der Polizeiwache von Quillacollo und betreue mit einem Kollegen mehrere Klienten – Opfer von Gewalt genauso wie Täter.«

Gewalt therapieren
Quillacollo ist eine mittelgroße Stadt, die mit Cochabamba immer mehr zusammenwächst und in der besonders viele Gewalttaten gegen Frauen verübt werden. »Meist handelt es sich um intra­familiäre Gewalt«, so Heredia. Mit ihrem Kollegen Marco Ballesteros bietet sie kostenlose Therapien an; für die Täter sei eine solche obligatorisch, wenn sie nicht in Haft wollten. Dieses Angebot werde meist wahrgenommen. Ziel des therapeutischen Ansatzes sei es, für mehr Respekt und einen anderen Umgang mit der Partnerin zu sorgen, sagt die Psychologin. Bei William S. hat das funktioniert. Der 32jährige Maurer verprügelte seine Frau, weil sie ihn zur Rede stellte, als er betrunken von der Arbeit kam. »Ich hatte ein Kleidungsstück von einer anderen Frau dabei, konnte mich aber an nichts erinnern«, sagt William S. Seit Januar 2017 ist er in therapeutischer Behandlung und hat sich für einen Neuanfang entschieden. »Ich will meine Familie nicht verlieren, werde dafür weitere Sitzungen machen und sie, wenn nötig, auch bezahlen«, sagt er.

»Das hat viel mit Erziehung zu tun. Wir müssen an den Strukturen hinter der Gewalt etwas ändern, müssen bei den Kindern ansetzen.« Marlen Heredia, Psychologin in Quillacollo

Ähnlich liegt der Fall bei Serafin Quispe Pama, einem Angestellten im Krankenhaus von Quillacollo. Auch er ist handgreiflich geworden und hat wie so viele Männer Schwierigkeiten, sich gegenüber der Psychologin zu öffnen. »Das hat viel mit der Erziehung zu tun. Wir müssen an den Strukturen hinter der Gewalt etwas ändern, müssen bei den Kindern ansetzen«, meint Marlen Heredia. Dem stimmen Casimira Rodríguez, die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Cochabamba, und ihr Kollege Nelson Cox von der Ombudsstelle für Menschenrechte zu. »Wir erstellen gerade einen Plan, um an den Schulen präventiv tätig zu werden. Wir brauchen mehr Respekt, mehr Toleranz und mehr Solidarität«, sagt Cox. Dafür hofft er auf Mittel von der Zentralregierung. Die hat immerhin schon zusätzliche Gelder für die Polizei und die Psychologen bewilligt.

Marcelo Via Roldán

Marcelo Via Roldán leitet die Sondereinheit gegen Gewalt

Bild:
Knut Henkel

Doch bei der Ausstattung gebe es nach wie vor Defizite, so Marcelo Via Roldán. Er leitet die Polizeisondereinheit gegen Gewalt (FELCV) im Zentrum der Stadt. Diese wurde gegründet, um gegen die Gewalt an Frauen vorzugehen. »Das ist unser zentraler Auftrag, der mit der Verabschiedung des Gesetzes 348 Realität wurde«, sagt der Polizeioffizier. Sein Büro ist in einem altersschwachen Gründerzeithaus untergebracht. Hinter ihm hängt das Plakat eines Frauenhauses, neben ihm auf dem Schreibtisch liegt ein Exemplar des etwa 100 Seiten umfassenden Gesetzes 348. Seit dessen Verabschiedung steht die Polizei vor vollkommen neuen Aufgaben. Einfühlungsvermögen, psychologische Hilfe und schnelle Ermittlungen sind gefragt, doch auf neue Dienstwagen musste die Dienststelle ungefähr zwei Jahre warten. Immerhin wurde der psychologische Dienst schnell bewilligt. Mit dessen Arbeit ist Roldán zufrieden, nun wird in der Dienststelle an Kampagnen gefeilt, um an Schulen und in Jugendtreffs aufzuklären, zu informieren und Präventionsmaßnahmen zu ergreifen.

Mit dem Gesetz 348 ist in Cochabamba einiges in Bewegung geraten und auch im übrigen Bolivien ist Gewalt gegen Frauen ein Thema geworden. Aber von dem im Gesetz formulierten Ziel, Frauen ein Leben ohne Gewalt zu garantieren, ist Bolivien noch weit entfernt. Dafür ist die Situation im Mädcheninternat von Caranavi ein gutes Beispiel. In der dortigen Polizeiwache hat die Anzeige wegen sexueller Belästigung einer Minderjährigen durch einen erwachsenen Mann am Rande des Fußballplatzes nur ein hilfloses Schulterzucken ausgelöst. Corina Ninachoque hat dagegen Beschwerde bei der Polizeiverwaltung in La Paz eingelegt.