Haltung bewahren, auch wenn es schmerzt

Haltung bewahren

Sekt und Sozialismus Von Julia Schramm

»Du hast aber auch eine miese Haltung«, sagt meine Freundin halb empört, halb belustigt und ich gucke mit einem verschämten Blick zur Seite. Klar, das weiß ich doch, eigentlich. Aber so richtig hat es mir noch nie ein Mensch gesagt. Bisher war das Thema Haltung für mich auch etwas sehr Bürgerliches: Rücken gerade! Brust raus! Bauch anspannen! Wie so ein Preuße. Aber vor allem wurde der Zusammenhang mit meinen Rückenproblemen bisher nicht hergestellt. »Es ist ganz einfach, Rücken gerade, Schultern nach hinten und unten, kein Hohlkreuz. Das hilft schon einiges.« Meine Freundin weiß, wovon sie redet. »Das sagt dir aber niemand«, führt sie weiter aus. »Es ist eigentlich ganz einfach und lässt sich auch total gut in den Alltag einbauen. An der Ampel bisschen mit den Hüften wackeln, Muskeln aufbauen und wichtig: aufrecht laufen.« Nicht wie so ein Affe, denke ich mir.

Es ist wie mit dem Essen oder dem weiblichen Zyklus: Niemand redet ­darüber, wie das Ganze eigentlich funktioniert. Hunger und Appetit unterscheiden? Mittelschmerzen? Eisprunghormonwahnsinn? Essen, wann und was der Körper fordert? Das sind alles Sachen, die nicht selbstverständlich vermittelt werden, die untergehen in der vermittelten Gesellschaft. Stattdessen finden sich irgendwelche dubiosen Hilfsangebote für Diäten, die eine Monatsmiete kosten, oder Seminare, die einem helfen sollen, zu sich selbst zu finden.

»Marx nennt das Entfremdung, glaube ich«, sage ich zu meiner Freundin. »Und wir sind voll entfremdet von unseren ureigensten körperlichen Bedürfnissen und Instinkten, voll schlimm eigentlich«, sinniere ich weiter. »Deswegen kreuzen Leute auch mit einer vom Brustkrebs zerfressenen Brust das erste Mal bei der Ärztin auf, also wenn schon alles zu spät ist.« Meine Freundin nickt. »Eigentlich müsste das alles in der Schule aufgegriffen werden. Wie der Körper funktioniert und welche Bewegungen gut, welche schlecht sind, was und wie wir essen sollten, wie das mit dem Uterus funktioniert und vor allem die Erkenntnis: Es muss individuell betrachtet werden. Die Funktionen sind die gleichen, aber es zeigt sich bei jeder und jedem anders«, sagt sie. Ich nicke so bedeutungsschwanger wie resigniert.

Wir sitzen im Park und ich mache ein paar Übungen. Für meinen Rücken, die Muskulatur. Und die Haltung. Um uns herum machen Menschen Yoga oder grillen. Als wir aufstehen, ziehe ich meinen Bauch ein, drücke die Schultern nach hinten und unten und die Lendenwirbel so raus, dass ich kein Hohlkreuz habe. »Sehr schön! Das sieht schon gleich besser aus«, jubelt meine Freundin. Alles tut weh. Also nicht so weh wie die Schmerzen, die ich bereits habe, sondern anders weh. Diese Art Schmerz, die kommt, wenn die Muskeln, die lange nicht genutzt wurden, plötzlich angestrengt werden. Wenn man plötzlich eine gerade Haltung hat.