Radikale Kritik im digitalen Kapitalismus

Kritik-Update wird durchgeführt

Die Linke und die Digitalisierung: ein schwieriges Verhältnis, oft geprägt von Utopismus, Misstrauen und Unkenntnis. Im Rahmen einer Konferenz in Hamburg diskutieren am kommenden Wochenende linke Theoretiker, Netzphilosophen und -aktivisten über den digitalen Kapitalismus und radikale Kritik.

Ich wurde Ende der achtziger Jahre geboren. Als ich zehn war, hatten wir den ersten Computer im Haushalt. Ein paar Jahre später kam schon die erste 56K-Internetverbindung – der charakteristische Klang des Modems prägte meine Generation. Schon damals stellte ich mir vor, wie es wäre, meiner Lieblingsfussballmannschaft live auf einem kleinen Handbildschirm zu folgen. Mit der Einführung von DSL kam die Hoffnung auf die Erfüllung der Jugendträume. Einige spielen heutzutage Pokémon Go, auch wenn sie Ende der neunziger Jahre schon alle 151 auf ihrem Gameboy gefangen hatten. Wir sind in das Zeitalter der digital natives reingerutscht, andere, die millennials, wurden direkt in dieses Zeitalter hineingeboren. Viele andere, meist Ältere, verbinden mit dem Begriff Digitalisierung statt der Jugendträume und dem Luxus, keinen Schritt der Innovation verpassen zu müssen, die Beschleunigung des Alltags, die Deregulierung der Arbeitswelt, Weiterbildung oder den sozialen Ausschluss. Die Debatte um die Zukunft der Gesellschaft scheint dabei Science-Fiction-Filmen und den ehemaligen Hippies aus Silicon Valley – den tatsächlichen Machern – nur hinterherzuhecheln. Dass Digitialisierung ein wichtiges Thema für Menschen ist, die sich mit Möglichkeiten emanzipatorischer Po­litik beschäftigen, zeigen drei Konferenzen, die bereits stattgefunden haben oder in den nächsten Wochen stattfinden werden: Ende September diskutierten autonome Linke unter dem Motto »Leben ist kein Algorithmus« in Köln über Technik als Herrschafts­instrument und Kybernetik als Regierungsform.

Wir sprechen vom digitalen Kapitalismus, weil wir der Auffassung sind, dass die Digitalisierung die grundlegenden Bedingungen der Kapitalakkumulation auf eine neue technologische Basis stellt.

Die Gruppe »Ums Ganze!« organisiert kommende Woche in Hamburg eine dreitätige Konferenz über Digitalisierung und radikale Kritik der Verhältnisse, Anfang Dezember beschäftigt sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin mit dem Themenkomplex Big Data und den Gefahren und Chancen der Digitalisierung für die Demokratie. Es sind erste Schritte zu einer Verständigung, die längst überfällig ist. Angesagt war die politische Auseinandersetzung mit Technik in der Linken bisher nicht, obwohl die Entwicklung der Technik jede Sphäre unseres Lebens beeinflusst, das Social Web in der Politik seit Jahren eine äußerst wichtige Rolle spielt, und sowohl Euphorie als auch Misstrauen gegenüber der Verselbständigung dieser Entwicklungen bestehen. In diesem Zusammenhang sollte untersucht werden, ob die von Karl Marx entwickelten, ideologiekritischen Ins­trumente zur Kritik der Verhältnisse ein Update brauchen, um die Dynamiken, die hinter bestimmten Technologiediskursen stehen, besser zu verstehen – etwa in Form der »schöpferischen Zers­törung«(Joseph Schumpeter), des Transhumanismus oder des Akzelerationismus. Gleichzeitig ist es notwendig, die bestehenden Konflikte aufzudecken und die Kämpfe zu relokalisieren: Wo findet der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Produktion und Reproduktion mittlerweile statt? Wie verwirklichen wir unter diesen Bedingungen die Abschaffung der Lohnarbeit und des Privateigentums, die Aneignung der Produktionsmittel? Die Akzelerationisten haben Recht mit ihrer Kritik dessen, was sie der folk politics nennen, formuliert etwa von Nick Srnicek und Alex William in »Inventing the Future. Postcapitalism and a World Without Work« (2015): Im Grunde erschöpft sich die westliche Linke in einer Politik, die auf einem in die Irre geleiteten Lokalismus basiert, direktdemokratische Prozesse, die keine sind, hochjubelt – wie etwa die Vollversammlung bei Occupy Wallstreet – und Hoffnungen auf bequeme politische Lösungen pflegt. Ihre Werkzeuge sind dabei veraltet, Appelle zur »Rückkehr der Politik« verpuffen oft in Abwehrkämpfen. Es fehlt tatsächlich an linker Innovation. Die Kritik der Überwachung, bei der Teile der radikalen Linken und das liberale Milieu sich treffen, bleibt unzureichend, solange sie das Begehren nach der Verbreitung der eigenen Daten nicht reflektiert.

 

Bei dieser Kritik sollte es nicht um die Übernahme neoliberaler Techniken gehen, etwa der Erlangung der gesellschaftlichen Hegemonie durch die Schaffung von Think Tanks, wie die Theorie des Akzelarationismus suggeriert. Der Aufbau von linken Think Tanks und einer Allianz der Wissensschaffenden, wie einige Postoperaistinnen fordern, können keine Bewegungen herbeizaubern. Man darf sich nicht von der falschen Dichotomie »gute Technik« vs. »böse Technik« beirren lassen. Ein Zurückfallen in ein vortechnologisches Zeitalter erscheint uns nicht als erstrebenswerte Alternative. Wir sprechen vom digitalen Kapitalismus, weil wir der Auffassung sind, dass die Digitalisierung die grundlegenden Bedingungen der Kapitalakkumulation auf eine neue technologische Basis stellt. Digitalisierung lässt sich nicht bloß als die Diskretisierung von Information mittels mikroelektronischer Technik und deren standardisierter binärer Struktur verstehen, sondern als Aktualisierung einer allgemeinen Logik, die dem Kapitalismus innewohnt. Historisch setzten die Vorbedingungen der Digitalisierung bereits mit der Geburt des Kapitalismus ein, mit der Ausbreitung der Warenform, dem Geld und der mathematisierten Naturwissenschaft. Die Digi­talisierung lässt sich dann als spezifische Nutzbarmachung dieser vorangeschrittenen Quantifizierung der Welt definieren. Technik als gesellschaftliches Verhältnis bestand schon vor der technologischen Ära. Algorithmen, Big Data und bald die künstliche Intelligenz erweitern das konstante Kapital, ihre Funktion erschöpft sich aber nicht darin: Es entsteht ein Überschuss, also eine Wissens­produktion, die die Möglichkeit der Erweiterung der Produktivität des Kapitals darstellt. Es ist also nicht so, dass der Kapitalismus nur parasitär auf den menschlichen Fähigkeiten aufsitzt, sondern dass sich beide wechselseitig hervorbringen – schließlich wäre die Sammlung des Wissens ohne die neuen Technologien gar nicht erfolgt. Die Digitalisierung betrifft fortdauernd jede Sphäre des kapitalistischen Akkumulationsmodells. Es ist ein Effekt der kapitalistischen Vergesellschaftung, dass Gesellschaft und Natur unvereinbar gegenüberstehen.

Einer der großen Mythen, die es anzugreifen gilt, ist, dass die Gestaltung der Zukunft dazu verurteilt ist, in den Labs des Silicon Valley stattzufinden.

Der Kapitalismus bleibt darauf angewiesen, die produktive Trennung von Natur und Gesellschaft immer wieder zu erneuern und neue Aneignungsregime zu etablieren. Im Bereich der Arbeit wird der Prozess der Automatisierung weiter zugespitzt, die Produktion wird umgelagert, die Trennung von Reproduktion und Produktion immer wieder aufs Neue nutzbar gemacht. Die Innovationsoffensive entfesselt die Entwicklung von Produktivkräften und forciert die Deregulierung der Arbeit. Neue Gesellschaftsentwürfe sollen mittels Big Data und Share Economy auf der Basis eines universellen Grundeinkommens Realität werden: Die Zukunft wird gerade dort errichtet, wo man für sein Geld nicht ein Auto bekommt, sondern nur Fahrten bei Uber. Digitalisierung ist dennoch keine Revolution, die neuen Arbeitsverhältnisse sind lediglich eine Rekombination aus Taylorismus, Fordismus und Postfordismus. Die Auswirkungen dieser Transformationen für die reale Arbeitswelt sind gravierend, und Gewerkschaften finde kaum angemessene Antworte auf die vielen Fragen, die diese Veränderungen aufwerfen. Wenn Logistik und Infrastruktur, Extraktion und Reproduktion der Ware Arbeitskraft ins Zentrum der kapitalistischen Produktion rucken, werden sie zu optimalen Angriffszielen, die, wie Basisgewerkschaften immer betonen, sich bereits mit dem Einsatz weniger Mittel effektiv stören lassen. Indem wir die Klassenkomposition des digitalen Kapitalismus untersuchen und darin agieren, lassen sich neue Verbindungen herstellen. Das Verschwinden der fordistisch organisierten Lohnarbeit in ihrer bisherigen Form bringt Verteilungskämpfe mit sich, wie in den vergangenen Jahren etwa die Auseinandersetzungen der Taxifahrerinnen mit Uber zeigten, ebenso wie die Angestellten des Lieferservice Deliveroo, die ihre prekären Arbeitsverhältnisse hinterfragen, und Careworkerinnen, die gegen den Umbau des Gesundheitssystems streiken.

Es gilt außerdem, den Fokus auf den Westen zu hinterfragen – Kämpfe gegen die Ausbeutung von Ressourcen oder inhumane Produktionsbedingungen finden auf dem ganzen Globus bereits seit langem statt. Auch die Kritik der Disziplinierung und Messung des Körpers – Stichwort Selbstoptimierung – sowie neuer Formen von Kontrolle und Spaltung könnten eine größere Rolle einnehmen. Vielleicht ist es an der Zeit, Phantasie einzusetzen. Dass die Katastrophe in Form der Permanenz von Krisen (Maurizio Lazzarato) bereits eingetreten ist, ist, bei aller Notwendigkeit im Hier und Jetzt zu handeln, auch ein Grund, sich ihrer Entscheidungslogik zu entziehen und auf eine andere Zukunft zu setzen. Das Unvorstellbare, die nichtkapitalistische Vergesellschaftung, geht über die Negation der Verhältnisse hinaus und ist damit doch notwendige Ideologiekritik. Diese andere Vergesellschaftung könnte etwa von den Diskussionen über Commons und Selbstorganisierung zehren. Konkret: Wie sähe etwa ein soziales Zentrum auf der Höhe der Zeit aus, abgelöst von den starren Konzepten autonomer Sozialisierung der achtziger Jahre? Wie wäre Selbstorganisierung abseits der Nischenökonomie zu denken? Es geht dabei nicht darum, einen Flachbildschirm beim Vokü-Abend einzuführen, sondern das Potential der Soziabilität des Internet auf die Straße zu holen und die Diskussion über die öffentliche Verwaltung von Ressourcen zu befeuern. Einer der großen Mythen, die es anzugreifen gilt, ist, dass die Gestaltung der Zukunft dazu verurteilt ist, in den Labs des Silicon Valley stattzufinden. Es liegt an uns, ob wir uns lediglich am Feindbild der »bösen« Apple-Google-Facebook-Connection abarbeiten oder den individualisierten Konsum digitaler Waren hin zu einer lebensfreundlichen und kollektiven Techniknutzung verändern wollen.

 

Unter dem Titel »reprodu­ce(future). Digitaler Kapitalismus und kommunistische Wette« lädt das »Ums Ganze!«-Bündnis vom 24. bis zum 26. November nach Hamburg, um über die Bedeutung der Technik im Kapitalismus und ihre Funktion für eine befreite Gesellschaft zu diskutieren. Unter den Referenten sind Geert Lovink, Sandro Mezzadra, Kendra Briken und die türkische Gruppe Capulcu. Informationen und Programm unter: techno.umsganze.org. Die Konferenz findet an der Universität Hamburg statt, die Teilnahme ist kostenlos.