Blasphemie und Wissenschaft

Es ist kein Gott

Blasphemie und Wissenschaft. Zur Abschaffung des Religionsunterrichts und der Theologie.

Seit die Götter aus dem verzweifelten Wunsch der Menschen nach schützenden und gerecht strafenden Elternfiguren erschaffen wurden, war der von dieser Regression Emanzipationswillige mit dem Tod bedroht. Weil die Gläubigen die phantastischen Geschichten von Schöpfung und Wundern selbst kaum glauben können, hassen sie die Ungläubigen, denen sie im Diesseits mit Giftbechern, Autodafés und Peitschen zu Leibe rückten. Im Jenseits drohen Höllenstrafen, in denen der Islam am stärksten schwelgt, dicht gefolgt von Christentum und Buddhismus.

Heute zwingt kaum noch die Angst vor Todesstrafe oder Hölle Kinder in den christlichen Religionsunterricht, sondern eher die Angst vor der mit Einsamkeit assoziierten Individualität. Als grausam gelten nunmehr die Eltern der Ungläubigen, die ihr Kind für die Dauer des Religionsunterrichts aus dem Klassenkollektiv herausnehmen. Moderne Christen verteidigen auch nicht mehr ernsthaft den graubärtigen »Vater im Himmel«, sondern nur noch das vage Gefühl, »dass da etwas ist«. Solche als Erinnerung an Symbiosen von Kind und Mutter zu deutenden Gefühle gehen einher mit der impliziten Behauptung, mehr Gefühlsfähigkeit zu haben als die Atheisten.

Um die christliche Hybris heute noch gegen die kränkenden Wissenschaften Astronomie, Biologie und Psychologie zu verteidigen, bedient sich das Christentum eines Kategorienfehlers: Es identifiziert einfach ungelöste Naturrätsel mit Gott. Allein, es hat der ehrfurchtgebietende Urknall ebenso wenig die Bibel verfasst, wie schwarze Löcher mit Menschen sprechen.

Das ultimative Naturrätsel ist den Menschen der Tod. Einer populären Erklärung der Religionskunde zufolge tröstet Religion über das Unvermeidliche hinweg. Sie sei daher notwendig und respektabel. Epikur indessen, der die Götter recht vorsichtig zwar nicht für unwirklich, aber unwirksam und unbedeutend erklärte, beraubte mit seiner Widerlegung der Seelenvorstellung den Tod seines Schreckens gründlicher als jede durchschaubar infantile Paradiesvorstellung: »Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.«

Die objektive Überlegenheit des Atheismus kann indes nicht über seine Schwäche hinwegtäuschen. Die falsche Aufhebung der Religion führt, wie es Theodor W. Adorno an Martin Heideg­ger bekämpft, in die Verherrlichung des Seins und letztlich des Todes oder aber in die Bräsigkeit des Positivismus. Aufklärung müsse sich »solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes« zeigen, fordert Adorno in der »Negativen Dialektik«. Sind die Antworten der Religionen auch unwahr und grobschlächtig, so sind ihre Probleme meist recht real.

Das tiefste Problem des Übergangs von Körper in Geist (wie auch von Gesellschaft in Waren) hinterlässt einen schwindenden, aber immer metaphysisch bleibenden Rest: den Sprung vom einen Zustand in einen anderen als qualitativen Wechsel. Am Ende lässt sich moralisches Handeln nicht durch Experimente, Neuronenfeuer oder Vernunft begründen. Es bleibt im Kern Ergebnis einer quasi-metaphysischen, somatischen Empfindung, die nicht zu abstrakter Frömmigkeit, sondern zu empathischer, konkreter Solidarität anhält.

Die Religionen können solche Moral nicht mehr schlüssig simulieren. Mit dem Darwin-Schock wurde gesellschaftliche Gewissheit, was Individuen schon Jahrtausende vorher ahnten: Der Mensch ist allein im weiten All. Er muss sein gesellschaftliches Handeln mit Vernunft legitimieren, kurzum: erwachsen werden. Für die dazu unfähigen autoritären Charaktere begann die Suche nach den faschistischen Führern, deren nihilistisches Recht der Stärkeren aus dem Tod Gottes die Freiheit zur Abschaffung der jüdischen Lebensethik ableitete.

Max Horkheimer beobachtete die Einarbeitung von überkommenen religiösen Ritualen in faschistische Aufmärsche und Riten. Mit Adorno schrieb er seine Theorie über die Wandlungsformen von Magie und Religion, die »Dialektik der Aufklärung«. Ihr Pessimismus schloss an eine Rede Max Webers an, der aus der »Entzauberung der Welt« die Entstehung eines neuen, düsteren Polytheismus auf Grundlage der Wissenschaften prognostizierte und gerade nicht den zielstrebigen Fortschritt in eine rundum aufgeklärte Gesellschaft.

Aufklärung verwandelt sich gerade dort in metaphysisches Grauen, wo sie mitsamt den Göttern auch die aufklärerischen Werte als Mythos zerstört und das bewusstlose, aus unfreien Stücken gemachte Fortschreiten von Gesellschaft selbst vergottete. Und gerade aus der Position des auf Handgreiflichkeit und Halbbildung abzielenden »wertfreien« Positivismus erwuchs der industrialisierte Rassismus ebenso wie der sekundäre Okkultismus. Die Voraussetzungslosigkeit des Positivismus führt dazu, dass er heute auch seine historischen Konkurrenten, die Religionen, beobachtet wie ein ungefährliches Insekt im Kescher. Trance, rituelle Ekstase und neuplatonischer Mystizismus faszinieren im grauen Alltag der Wissenschaften mehr als jene, die an Ritualen und Strafen zugrunde gehen.

So gilt in der Zeitschrift für Kulturwissenschaften zum Thema »Begeisterung und Blasphemie« noch jedes falsche Bewusstsein als Ritual »der Rebellion und des Widerstandes«, solange es sich in beobachtbaren »Praktiken« manifestiert. Lediglich 30 der 295 Seiten handeln von Blasphemie. Die Anschläge auf die blasphemische Redaktion von Charlie Hebdo klassifiziert die Forschung aus der Vogelperspektive als »Überreaktion« innerhalb einer »feindseligen Symbiose«, der »Diskurs über Blasphemie« gilt als »Positionenspiel«.

Wie die totalitäre Aufklärung hat die positivistische Ethnologie jeden Mythos der Aufklärung über Bord geworfen und gerade darin schlägt ihre Faszination am Authentischen in Kulturalismus um, der Teilnahme verweigert, wo soziale Kämpfe sich auftun und Felder sich in Individuen aufteilen. Eigentlich wäre Ethnologie der probateste Ersatz für den Religionsunterricht. Sie könnte die universale Elternsehnsucht in ihren schillerndsten Farben durch die Kontinente und Zeitalter hindurch begreifbar machen, gerade um Kindern die Indoktrination durch eine bestimmte Religion zu ersparen. Und doch wird man in der Ethnologie schwerlich Zustimmung für ein solches säkulares Projekt finden: Religionen für falsches Bewusstsein zu erklären, hieße etwas »besser wissen« als die Beforschten.

Urteilen über falsches Bewusstsein setzt eine Entwicklung der Ideengeschichte voraus, und eine solche zu denken, führt in einer zur »Dialektik der Aufklärung« nicht gereiften Ethnologie vor die neurotische Wahl zwischen angeblich rassistischem Überlegenheitsdünkel und eben Kulturalismus. Eine dezidiert »nichtsäkulare Medizinethnologie« tritt an, die Medizin ihres kritischen Gehaltes zu berauben, in der Religionsethnologie spricht man heute grundsätzlich bei jeder Geisterbeschwörung von »Heilung« und »Therapie«, und in der Forschung über Hexereivorstellungen scheint das größte Rätsel zu sein, wie man die Beforschten denn »respektieren« könne, wenn man nicht selbst an Hexerei glaubt. Ethnologie, die von der teilnehmenden Beobachtung nur die Beobachtung behielt, produziert mitunter brauchbare Traktate über Regionalgeschichten der Blasphemie, aber es fällt ihr weiterhin schwer, Menschen zu einem freieren Leben ohne ihre Götter zu verhelfen oder gar im eigenen Land der Säkularisierung beizuspringen.

Anstelle einer kulturalistischen, schmerzfreien und ungefährlichen »Ethnologie der Blasphemie«, wie sie Jeanne Favret-Saada mit ihrer strukturalistischen Auflösung von Terrorismus gegen Atheisten in Sprechorte und Schemata vorschlägt, wäre angesichts des von Ethnologie erfassten Wiedererstarkens des Religiösen eine Rückkehr zur »blasphemischen Ethnologie« angebracht. James G. Frazer wusste noch das Christentum dadurch zu beleidigen, dass er die Eucharistie mit Gottverspeisungsritualen bei Indianern verglich. Gleichzeitig hielt er dem Kulturalismus die heute blasphemisch geltende Behauptung eines ideengeschichtlich vollzogenen, wenngleich prekären und von Rückfällen verwüsteten Fortschritts zur Wissenschaft und darüber hinausgehenden künftigen Denkformen entgegen.

Solange aber ein gewaltiger Teil der Menschheit – und dazu wären manische fortschrittsoptimistische Atheisten zu rechnen – intellektuell nicht in der Lage ist, ohne Gottesvorstellungen zu leben, solange diese real empfundenen, aber unwahren Vorstellungen seriell in Gewalt und Dogmatismus gegen Zweifler umschlagen, wird Denken nicht aus seiner Vorgeschichte heraustreten.