Marcel Prousts monumentaler Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«

Die Jugendjahre der bürgerlichen Gesellschaft

Marcel Prousts monumentaler Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« erscheint seit 2013 in neuer Übersetzung. Kürzlich wurde der sechste und vorletzte Band »Die Entflohene« veröffentlicht. Ein zentrales Motiv in Prousts Epos ist die Judenfeindschaft in Frankreich.

Marcel Prousts »À la recherche du temps perdu«, dessen erster Band 1913 erschien, gehört zu den einflussreichsten literarischen Werken des 20. Jahrhunderts. Allerdings ist fraglich, wie viele Menschen die sieben Bände tatsächlich gelesen haben. Umso erstaunlicher, dass Bernd-Jürgen Fischer seit 2013 eine neue Übersetzung von »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« vorlegt. Denn eine deutsche Fassung gibt es seit den fünfziger Jahren, und diese war für die 2002 abgeschlossene Werkaus­gabe noch einmal grundlegend überarbeitet worden.

Entsprechend verhalten reagierte das Feuilleton auf die ersten Bände der Neuübersetzung. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung befand 2014 sogar, Fischers Übersetzung falle hinter die Leistung der Werkausgabe zurück. Der Rezensent nahm die neue deutsche Ausgabe allerdings auch zum Anlass, an »ein zentrales Motiv« in Prousts Werk zu erinnern: die moderne Judenfeindschaft in Frankreich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Das Thema war in früheren Übersetzungen – an denen in den zwanziger Jahren Walter Benjamin mitgewirkt hatte – selbst­redend ebenso wenig zu übersehen wie im Original. Denn nicht nur handelt »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« von der Zeit der Dreyfus-Affäre. Die Hauptfigur des ersten Bandes, Charles Swann, ist ein französischer Jude und die Mitglieder der Adelsfamilie der Guermantes, nach denen der dritte Teil benannt ist, sind Antisemiten und klar gegen Dreyfus.

Im zweiten Band, von Walter Benjamin und Franz Hessel 1927 unter dem Titel »Im Schatten der jungen Mädchen« übersetzt, sagt Albertine, die spätere Geliebte des Erzählers, sie dürfe »mit israelitischen Mädchen« nicht spielen, und der Erzähler ergänzt, dass sie und ihre Freundinnen »unschwer glauben mochten, dass die Juden Christenkinder schlachteten«.

Bekannt ist Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« allerdings für etwas anderes. In dem Werk geht es um die nostalgische Erinnerung an eine vergangene Epoche, um die Aura des Vergangenen und die Bedeutung verflossener Augenblicke. Dabei entpuppt sich der Erinnerungsprozess zugleich als einer der Erkenntnis. Der Ich-Erzähler lotet die Ursprünge der Liebe, der Faszination für bestimmte Personen oder für Musikstücke und Kunstwerke aus. Auch wenn sich die Erinnerung unwillkürlich einstellt, existiere die Wirklichkeit für uns erst, wenn sie »durch unser Denken wiedererschaffen« werde, wie es im vierten Band, »Sodom und Gomorrha«, heißt. Berüchtigt ist »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« für die ­seitenlangen Beschreibungen kleiner Alltagsbegebenheiten, ganz so, als versuchte der Erzähler, die Zeit anzuhalten. Dieses Spiel mit der Zeit haben in Frankreich nach 1945 Autorinnen und Autoren des Nouveau Roman wie Michel Butor und Alain Robbe-Grillet mit ihren akri­bischen, scheinbar sinnlosen Beschreibungen noch weiter getrieben; aber auch Georges Perec mit seinen Erinnerungsprojekten und den unermüdlichen Aufzählungen, um »nichts zu vergessen«, wie er in »Ellis Island« schreibt. Mit Proust einte Robbe-Grillet zudem die Obsession mit den Irrungen und Wirrungen der Erotik, die in Volker Schlöndorffs Proust-Verfilmung aus den achtziger Jahren, »Die Liebe von Swann«, mit Ornella Muti und Jeremy Irons, im Vordergrund steht.

Wie auch später bei Perec dienten die Stilübungen des Nouveau Roman, die das zeitgenössische Publikum zunächst als unpersönlich, objektiv und kalt empfand, letztlich als Vorstudien zu einer neuen Form des autobiographischen Erzählens, wie Robbe-Grillet später ausführte. Er verwies dazu auf Marguerite Duras’ autobiographischen Roman »Der Liebhaber«, Nathalie Sarrautes Erinnerungen »Kindheit« oder auch seine eigene dreibändige Autobiographie, die er 1984 mit »Der wiederkehrende Spiegel« begann. Nathalie Sarraute, die Grande Dame des Nouveau Roman, beschrieb ihren eigenen Stil 1947 im Kontrast zu Proust. Zwar zeichnet sie in ihren Romanen wie »Die goldenen Früchte« das gesellschaftliche Leben durch die genaue Wiedergabe der Konversationen nach, ähnlich wie Proust, der »das wirkliche Leben und Denken der Menschen nur in der direkten Aussage gesucht habe, die sie von sich aus machten«. Doch anders als Proust nahm Sarraute eine poststrukturalistische Wende vor. Das autonome, sich selbst bewusste Subjekt existiert in ihren Romanen nicht mehr. Im Essayband »Zeitalter des Mißtrauens« schrieb Sarraute, Proust habe noch geglaubt, »zu jener tiefsten Schicht vorzudringen, wo die Wahrheit liegt, die wirkliche Welt, unsere authentische Impression«. Die Psychoanalyse habe hingegen »die Unergiebigkeit der klassischen Introspektion gezeigt und Zweifel an dem absoluten Wert jedes Untersuchungsverfahrens geweckt«.

Der vor kurzem erschienene sechste Band von Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« scheint Sarrautes Lesart recht zu geben: Nach dem Tod seiner Geliebten Albertine ist der Erzähler wie besessen davon, zu erfahren, ob sie Liebesbeziehungen zu Frauen gehabt habe. Zugleich inspiziert er unermüdlich sein Gefühlsleben, ob er sie endlich »vergessen« habe.

In einer jüngeren Proust-Interpretation liest Rainer Warning das Werk hingegen als »Schwellentext« von der Moderne zur Postmoderne und zieht deshalb Theorien von Roland Barthes, Gilles Deleuze und Michel Foucault heran. Zwar finde die Suche mit dem siebten Band »Die wiedergefundene Zeit« – der für den Herbst in neuer Übersetzung angekündigt ist – scheinbar zu den Ursprüngen zurück. Doch der Roman dokumentiere das »Scheitern der ursprünglichen Konzeption«. Das »Grundgesetz der Recherche« sei, so Warning, »ein unaufhörliches Wachsen ohne absehbares Ende«. Entsprechend hält Warning den letzten Band nicht für geglückt. Die verlorene Zeit lässt sich nicht wiederfinden, denn erstens formt der deutlich ältere Erzähler mit seinem Wissen, seinen Erfahrungen und Deutungen nicht nur die zurückliegenden Ereignisse, sondern überdeckt den frühen, vermeintlich unmittelbaren Eindruck. Zweitens verweist die Zeit, an die sich der Erzähler erinnert, selbst wiederum auf eine Vergangenheit, die noch weiter zurückliegt. Schon der Nouveau Romancier Michel Butor wies in den fünfziger Jahren darauf hin, dass in »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« zahlreiche Erfahrungen aus einer Zeit beschrieben werden, die »vor ­jener liegt, zu der die Suche zurückführt«.

Drittens aber – und das ist für Warnings Lektüre zentral – behandelt Proust die Zeit nicht nur als erzählte oder erzählende Zeit, sondern auch als verräumlichte Vorstellung. Das lässt sich gleich im ersten Band, »Auf dem Wege zu Swann«, nachlesen. Dort schildert der namenlose Erzähler (der erst später mit »Marcel« angeredet wird) seine Kindheitseindrücke von der Kirche in Combray, einem Bau, wie es heißt, der »sozusagen einen vierdimensionalen Raum einnahm – mit der Zeit als vierter Dimension –, indem er quer durch die Jahrhunderte mit seinem Schiff segelte, das von Joch zu Joch, von Kapelle zu Kapelle nicht nur einige Meter zu bezwingen und zu überwinden schien, sondern ganze aufeinanderfolgende Epochen«. So erscheinen Gebäude als Inkarnation einer früheren Epoche, als verräumlichte Zeit. Auch das Personal in Prousts Klassiker verkörpert vergangene Epochen.

Kurz nach dieser Schilderung räumt der Erzähler ein, dass er sich in seinen Erinnerungen kaum noch zurechtfinde. Er habe jedenfalls die Gewissheit, dass etwas authentisch und kein »Schauspiel« sei, schon »seit langer Zeit verloren«.

Warning liest »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« deshalb nicht als einen Erkenntnisprozess, der zu einer Wahrheit führte, sondern als »serielles« Erzählen, getrieben von einem »durchgehaltene(n) Begehren«, das sich immer neue Imaginationen sucht, »Wiederholungen von Masken, wobei sich hinter einer Maske keine Substanz verbirgt, sondern immer nur wieder eine weitere Maske«.

In »Die Entflohene« drückt der Erzähler Marcel diesen Gedanken selbst aus. In Venedig, wohin er nach Albertines Tod reist, sucht er nach erotischen Abenteuern. Er kann jedoch nicht mehr sagen, was er eigentlich sucht, »was von meiner leidenschaftlichen Suche nach Vene­zianerinnen auf diese selbst, was auf Albertine, was auf meinen alten Wunsch von damals zurückzuführen war, nach Venedig zu reisen«. Warnings Studie mit dem schlichten Titel »Marcel Proust« kann kaum als Einführung in Prousts Romanepos dienen. Sie setzt eine genaue Lektüre des Werks vielmehr voraus.

 

Schatten der Vergangenheit

»Um in uns einzutreten, muss ein Mensch die Gestalt der Zeit annehmen, sich ihrem Rahmen einfügen; da er uns immer nur in einzelnen Minuten nacheinander erscheint, hat er sich uns immer nur unter einem einzigen Aspekt auf einmal zeigen können, uns nur eine einzige Fotografie von sich überlassen«, heißt es in »Die Entflohene«. Im ganzen Romanepos ist das neue Paradigma der Fotografie, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert als Alltagsmedium zu etablieren beginnt, erkennbar.

Zumindest in den gehobenen Kreisen, in denen sich der Erzähler bewegt, tragen Menschen Fotografien von geliebten Personen oder Familienangehörigen mit sich. Fotografien dienen als Fetischobjekte, als Erinnerung an verflossene Lieben und als Zeugnisse für vergangene Zeiten. Im Selfie-Zeitalter mag es kaum noch vorstellbar sein, welche Faszination von Fotos ausging, die die Wirklichkeit scheinbar objektiv zeigen. Im dritten Band, »Der Weg nach Guermantes«, gerät der Erzähler Marcel in helle Aufregung, als er bei einem Freund die Fotografie der von ihm verehrten Madame de Guermantes entdeckt: Der Gedanke, dass »Saint-Loup diese Fotografie besaß, sie mir vielleicht geben könnte, machte ihn mir noch teurer (…). Denn diese Fotografie war wie eine weitere Begegnung, die zu denen hinzukam, die ich mit Madame de Guermantes schon gehabt hatte (…).«

Zugleich ist das Leitthema von »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« dem Medium Fotografie, wie Roland Barthes es in »Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie« begreift, eingeschrieben. Die eigentümliche »Melancholie« der Fotografie bestehe, so Barthes, in dem Wissen, dass das auf dem Bild Festgehaltene einen Moment zeige, der vergangen sei. Barthes hat sich zeit seines Lebens mit Proust beschäftigt und bezieht sich auch in »Die helle Kammer« mehrmals auf ihn. In Band 3 von »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« heißt es bereits: »Die Fotografie gewinnt ein wenig an Würde, die ihr sonst fehlt, wenn sie aufhört, eine Reproduktion der Wirklichkeit zu sein, und uns Dinge zeigt, die nicht mehr vorhanden sind.«

In »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« spielt sich der Vorgang des Fotografierens gewissermaßen im Inneren des Erzählers ab. Was man in »der Gegenwart« eines geliebten Menschen aufnehme, sei »nur ein Negativ, man entwickelt es später, wenn man zu Hause angekommen ist und einem jene innere Dunkelkammer wieder zur Verfügung steht«. Das gilt auch für den Autor: Marcel Proust hat sich, um sein Romanepos verfassen zu können, für Jahre in eine gegen Straßengeräusche wie Sonneneinstrahlung abgedichtete Wohnung zurückgezogen, um dort, wie in einer Dunkelkammer, sein Werk zu entwickeln.

In »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« kommt den Fotografien noch ein weiterer bedeutsamer Zweck zu. Sie bürgen für Verwandtschaftsverhältnisse und damit für eine Herkunft – ­und verweisen insofern wieder auf eine fernere Vergangenheit. Bei Proust erlebt man die französische Gesellschaft während der Dritten Republik, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, wie sie aus der feudalen Gesellschaft herauswächst. Der Ich-Erzähler, fasziniert von alten Adelsgeschlechtern und unablässig bemüht, die Aura einzelner Personen zu ergründen, ist bereits als junger Mann überzeugt, er könne »das Flair von Rasse und aristokratischer Vornehmheit« »mühelos« erkennen. In seinem Text über die Fotografie definiert Walter Benjamin den Begriff »Aura« als »einma­lige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«. Bei Proust verleiht die »imaginäre Ferne der Vergangenheit« sowohl künstlerischen Werken als auch den alten adligen Familien einen ganz besonderen Glanz. Dabei geht es in der Tat um eine »imaginäre« Ferne, denn der Erzähler Marcel sieht bereits eine Zeit kommen, in der dieser altehrwürdige Glanz verblassen wird. Die besondere Ehrerbietung gegenüber gehobenen Persönlichkeiten würde »in einer auf Gleichheit gegründeten Welt unverzüglich zu nichts verfallen (…), wie alles, dessen Wert ausschließlich auf Treu und Glauben beruht«. Für Marcel allerdings behält die alte Welt ihren Glanz. Er zieht die Geschmacksurteile von Adligen dem »Urteil des größten Kritikers der Welt« vor. Denn dessen Urteilsvermögen sei dem eigenen zwar deutlich überlegen, aber letztlich handle es sich um eine Intelligenz vom »selben Typus«. Was aber die Herzogin oder die Prinzessin von Guermantes denken, sei von einem »unschätzbarem Wert«.

 

Das Kaleidoskop der bürgerlichen Gesellschaft

Die gehobene Gesellschaft, die Proust in »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« beschreibt, ist mit dem Fall Dreyfus beschäftigt. Im Dezember 1894 wurde der Hauptmann Alfred Dreyfus vor einem Militär­gericht wegen Spionage für das Deutsche Reich verurteilt und verbannt. Als Beweis diente ein Brief, den Dreyfus angeblich an die deutsche Botschaft geschrieben hatte. Da Dreyfus aus einer jüdischen Familie stammte, entsprach der Vorwurf dem alten antisemitischen Stereotyp des gegenüber dem Vaterland »illoyalen Juden«. Zwei Jahre später entdeckte der neue Chef des militärischen Spionagedienstes, Oberst Marie-Georges Picquart, dass es sich bei dem angeblichen Beweis um eine Fälschung handelte. Trotzdem dauerte es noch weitere zwölf Jahre, bis Dreyfus voll rehabilitiert wurde. Bekannt wurde die Affäre auch durch die Intervention von Emile Zola und anderen Intellektuellen, die sich – unter ihnen Marcel Proust – für eine Revision des Gerichtsverfahrens einsetzten.

In »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« ist die Dreyfus-Affäre ein historischer Wendepunkt: Wie in einem Kaleidoskop ändern sich in regelmäßigen Abständen die gesellschaftlichen Koordinaten. Der Erzähler erinnert an die Errungenschaften der bürgerlichen Emanzipation, als »konformistische Damen den Schock hinnehmen mussten, bei Besuchen einer kultivierten Jüdin zu begegnen«. Die Dreyfus-Affäre stelle diesen Prozess wieder infrage: »Alle, die jüdisch waren, fielen nach unten, selbst die kultivierte Dame, und obskure Nationalisten stiegen auf, um deren Platz einzunehmen.« Diskussionen über die Dreyfus-Affäre und den Antisemitismus durchziehen alle sieben Bände. Man begegnet Vertreterinnen und Ver­tretern jeglicher Partei und Strömung: Personen, die für oder gegen Dreyfus sind, Opportunistinnen und Opportunisten, Antidreyfusards, die sich plötzlich von den Fakten überzeugen lassen. Kaum jemand scheint um eine Meinung zu dem Fall herumzukommen. Wie die Historikerin Shulamit Volkov in ihrem berühmten Aufsatz »Antisemitismus als kultureller Code« in Hinblick auf das Deutsche Reich schrieb, war die moderne Judenfeindschaft am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem »Bestandteil einer ganzen Kultur« geworden, die so wirkmächtig war, dass sich auch Jüdinnen und Juden ihr nicht entziehen konnten. So lässt sich in »Im Schatten junger Mädchenblüte« ein Jude darüber aus, dass man in dem Urlaubsort Balbec »keine zwei Schritte« machen könne, ohne einer jüdischen Familie zu begegnen. Er sei »ja im Prinzip gar nicht unbedingt feindlich gegen das jüdische Volk eingestellt«, so Bloch weiter, »aber hier gibt es davon im Übermaß«.

An anderer Stelle sagt Bloch von sich selbst, dass es ihm Vergnügen bereite, in seinem Charakter »den im übrigen recht geringen Anteil fest­zustellen, der meiner jüdischen Herkunft zugeschrieben werden könnte«. Sein teilweise ironisches Spiel mit antisemitischen Vorstellungen schützt Bloch jedoch nicht vor Verletzungen: Zu einem anderen Zeitpunkt weigert sich ein Gesprächspartner, mit ihm über die Dreyfus-Affäre zu diskutieren, denn darüber könne man »ausschließlich mit Japhetiten« sprechen. »Japhetiten« fungierte in diesem Zusammenhang als Synonym für Europäerinnen und Europäer; der jüdische Franzose galt also nicht als Europäer. »Alle ­lächelten, mit Ausnahme Blochs – nicht dass dieser etwa nicht die Gewohnheit hätte, ironische Anspielungen auf seine jüdische Herkunft, seine etwas zum Sinai neigende Seite zu machen.«

Die offensten Antisemiten sind die Herzogin und der Herzog von Guermantes. Bei einem der zahlreichen Salons beschwert sich die Herzogin Guermantes darüber, dass man nicht mehr unter sich bleiben könne. Mitglieder anderer Schichten versuchten, aus dem Antisemitismus der gehobenen Klassen Kapital zu schlagen, und so treffe sie nun bei Gesellschaften auf Personen, die »man sei Leben lang sorgsam gemieden« habe und die »unter dem Vorwand, sie seien gegen Dreyfus«, dazukämen.

Trotz ihres klaren Bekenntnisses pflegen die Guermantes mit Charles Swann einen freundschaftlichen Umgang. Das gute Verhältnis ist, wie sich in »Der Weg nach Guermantes« herausstellt, jedoch von Anbeginn mit einer schweren Hypothek belastet. Als sich Swann öffentlich für Dreyfus ausspricht, ist der Herzog von Guermantes entsetzt. Swanns Verhalten sei »unerhört« und undankbar: »Er, der einst in der Gesellschaft von uns und sogar dem Herzog von Chartres gefördert wurde, ist jetzt, wie man mir berichtet, ein offener Dreyfusard.« An einen Gast gewandt, führt der Herzog aus, bislang sei er »einfältig genug« gewesen, zu glauben, »ein Jude könne Franzose sein, ein anständiger Jude, ein Mann von Welt, wohlgemerkt«. Da sich Swann nun offen zu Dreyfus bekenne, sei allerdings bewiesen, dass die jüdischen Familien in Frankreich doch »alle heimlich zusammenhängen und auf irgendeine Art gezwungen sind, jedem ihrer Rasse zu Hilfe zu ­eilen, selbst wenn sie ihn gar nicht kennen«. Es ist bemerkenswert, wie der Erzähler den Herzog bei seiner Hetztirade beschreibt: »Der Ton, in dem Monsieur de Guermantes dies sagte, war im übrigen ganz und gar sympathisch, ohne eine Spur jener Vulgarität, die er nur zu häufig bewies.« Im ausgehenden 19. Jahrhundert konnten die Antisemiten noch ein reines Gewissen haben. Im weiteren Verlauf der Handlung wird der Herzog von Guermantes seine Haltung zu Dreyfus ändern, nachdem ihn andere Adlige darüber aufgeklärt haben, dass gegen den verbannten ehemaligen Hauptmann objek­tiv »nichts vorliegt« – ein Stimmungsumschwung, den sich wiederum ­andere nur damit erklären können, dass die Guermantes eben keine »richtigen« Franzosen wären.

Andere Personen haben zum herrschenden kulturellen Verhaltens­kodex ein eher taktisches Verhältnis. Manchmal ist der Grund ihres Handelns eindeutig, manchmal nicht. So wird Bloch auf einem Fest nicht mit Namen vorgestellt; der Erzähler kann allerdings nicht mit Gewissheit sagen, ob es aus Zerstreutheit geschah, oder weil die Gastgeberin »über die Ansichten ihrer Freunde Bescheid wusste und über die Woge des Antisemitismus, die im Ansteigen begriffen war«. Selbst die nichtjüdische Ehefrau von Swann, Odette, ist besorgt, dass »die Abstammung ihres Gatten« ihr schaden könne, wenn er sich weiterhin offen für Dreyfus einsetze und der antisemitischen Gesellschaft damit als Jude erkennbar werde. »Wenn er nicht dabei war, ging sie sogar so weit, sich zum glühenden Nationalismus zu bekennen; sie folgte darin übrigens nur Madame Verdurin, bei der ein kleinbürgerlicher, latenter Antisemitismus zu Ausbruch gekommen und zu einer regelrechten Erbitterung gediehen war«.

Proust schrieb also bereits während des Erstens Weltkriegs von »un antisémitisme bourgeois et latent«. In den zwanziger Jahren gebrauchte der Philosoph Constantin Brunner, der mehrere Bücher über den deutschen Judenhass veröffentlichte, den Begriff »latenter Antisemitismus« zur Beschreibung der Weimarer Republik. Bei Proust passte die Beschreibung latent vorhandener Einstellungen zu der Darstellung des Erinnerungsvorgangs, bei dem ebenfalls langsam etwas an die Oberfläche kommt. Diese Beschreibung korrespondiert zudem, worauf Brassaï in seinem Buch »Proust und die Liebe zur Photographie« hinweist, mit der Metapher der Fotografie, die sich auch erst entwickeln muss und von der man früher mitunter als dem »latenten Bild« sprach.

In der französischen Gesellschaft der Dritten Republik fand sich Judenfeindschaft nicht nur beim Adel und im Bürgertum. Auch die Hausangestellten diskutieren über die Dreyfus-Affäre. Ein Butler erklärt einem anderen, Bloch wäre zwar der Meinung, »auf logischem Wege« von der Unschuld des Hauptmanns Dreyfus überzeugt worden zu sein. In Wirklichkeit, so der Butler, stehe Bloch nur auf Seiten Dreyfus’, weil Bloch Jude ist; die »Rasse« sei der Grund für seine Haltung. In der gehobenen Gesellschaft drückt sich der Antisemitismus jedoch anders aus, als eine Frage des Geschmacks und der Manieren. Eine Person fürchtet, dass sie bei einem Salon Swann »die Hand würde geben müssen«. Für eine andere ist es ausgeschlossen, Alphonse de Rothschild zu sich einzuladen. Und eine dritte demonstriert ihre Judenfeindschaft in einem Gespräch über Blumen: »Ich bin sehr empfindlich gegen Namen; und wenn man von einer etwas schöneren Rose erfährt, dass sie Baronin von Rothschild heißt oder Marschallin Niel, dann ist das wie eine kalte Dusche.«

Robert de Saint-Loup ist in dieser Welt zunächst ein Gegenbeispiel. Er ist der Neffe der Guermantes, und er dient beim Militär; trotzdem ist er von Anfang an von Dreyfus’ Unschuld überzeugt – weswegen er in seinen Kreisen als »Fanatiker« gilt. Auch hier wird die Parteinahme wieder mit der Herkunft und dem Geschmack erklärt. Der Herzog von Guermantes sagt bei einer der vielen Gesellschaften, er habe »keine Rassenvorurteile, ich finde, das gehört nicht in unsere Zeit«. Doch »wenn man Marquis von Saint-Loup heißt, dann, zum Teufel, ist man kein Dreyfusard, was soll ich noch sagen!«

Auch Saint-Loup wird seine Meinung ändern. Seine Erklärung, dass er nicht mehr zu den Dreyfusards gehöre, ist schlicht: »Ich bin Soldat und vor allem für die Armee.« Er bleibt allerdings ein unabhängiger Denker und stellt seine Emanzipa­tion von gesellschaftlichen Zwängen erneut unter Beweis, als er Swanns Tochter Gilberte heiratet. Das ist nicht die einzige Veränderung, die mit ihm geschieht und die den Erzähler Marcel überraschen wird.

 

Die Haltung des Erzählers

Die verschiedenen Positionen zur Dreyfus-Affäre werden durch einzelne Figuren repräsentiert. In »Judaism in Marcel Proust. Anti-Semitism, Philo-Semitism, and Judaic Perspectives in Art« interpretiert Bette H. Lustig die ersten drei Bände mit Rückgriff auf Jean-Paul Sartres Ausführungen über den »Antisemiten« und den »authentischen Juden«. Bloch, der sich selbst antisemitisch äußert, steht für den unauthentischen Juden, der alte Swann für den authentischen.

Eine besondere Rolle kommt bei der Frage des Antisemitismus dem Erzähler zu. Lustig erinnert daran, dass man zwischen Erzähler und Autor unterscheiden muss, auch wenn der Erzähler mit »Marcel« angeredet wird. Der Erzähler Marcel sei gegenüber dem herrschenden Antisemitismus viel ambivalenter als der Autor Proust, der sich für Dreyfus einsetzte. Gleichwohl mache es für die Lektüre einen bedeutsamen Unterschied, ob sich in einem Roman einzelne Figuren antisemitisch äußern oder der Erzähler dies tue. In dem Sammelband »Literarischer Antisemitismus nach 1945« verdeutlicht die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger den Unterschied anhand von Wilhelm Raabes Novelle »Der Hungerpastor«. Darin distanziert sich der Erzähler zunächst von der Judenfeindschaft seiner Zeit – und dann zeichnet er selbst seine jüdischen Figuren in negativer Weise. Gerade weil er sich zuvor »als toleranter Mensch legitimiert« habe, würde das seine spätere negative Darstellung von Jüdinnen und Juden »beglaubigen«, schreibt Klüger.

Der junge Marcel hat zunächst anscheinend keine Meinung über Jüdinnen und Juden. Als er Albertine und ihre Freundinnen kennenlernt, sind sie es, die nicht mit Jüdinnen spielen dürfen. Sein Vater allerdings ist »von der Schuld Dreyfus’ überzeugt«, und sein Großvater ist ein Antisemit, der jedes Mal, wenn Marcel Besuch von einem jüdischen Spielfreund bekommt, eine Melodie aus der Oper »Die Jüdin« summt. Ein Jude wie Bloch, der sich selbst abfällig über Jüdinnen und Juden äußert, ist für Marcel kein moralischer Kompass.

Im Laufe seiner Entwicklung bildet sich Marcel allerdings ein eigenes Urteil. Was er nicht hinterfragt, ist die fixe Idee, Jüdinnen und Jude wären eine »Rasse«. Er meint es zwar positiv: So gibt er in »Der Weg nach Guermantes« Blochs Sorgen wieder, dass ein anderer Partygast sich »aus antisemitischer Gehässigkeit erkundigt« habe, ob Bloch einen »jüdischen Vornamen« trage, und schildert bekümmert, dass während der Dreyfus-Affäre »die Juden auf die unterste Stufe der gesellschaftlichen Rangordnung« gefallen seien. Doch zugleich schildert er den gesellschaftlichen Aufstieg von Jüdinnen und Juden auf folgende Weise: »Bewundernswerte Kraft einer Rasse, die aus der Tiefe des Jahrhunderts bis ins moderne Paris, in die Wandelhallen unserer Theater, hinter die Schalter unserer Ämter, zu einer Beerdigung, auf die Straßen eine unversehrte Phalanx vorantreibt (…).«

Bereits in »Im Schatten junger Mädchenblüte« übernimmt der junge Erzähler von seinen Eltern die Ansicht, Charles Swann habe, »wie so manche Israeliten«, die verschiedenen Entwicklungsstufen durchlaufen, »durch die die Angehörigen seiner Rasse hindurchgegangen waren, von einfältigstem Snobismus und gröbster Unmanier zu geschliffenster Höflichkeit«.

 

Die »Rasse der Tunten«

Die Differenz zwischen dem Autor Marcel Proust und dem Erzähler Marcel zeigt sich außerdem am Leitthema des vierten Bands, »Sodom und Gomorrha«, in dem Marcel mit großer Verblüffung entdeckt, dass es zwischen zwei Männern Liebesbeziehungen geben kann. Diese Entdeckung stellt Marcels Welt auf den Kopf, sodass ursprünglich alle weiteren Bände im Untertitel »Sodom und Gomorrha« heißen sollten. Das Begriffspaar hat bei Proust eine eigenwillige Bedeutung: Es soll nicht wie in der Bibelmetapher den Sittenverfall bezeichnen, sondern »Sodom« steht für die männliche, »Gomorrha« für die weibliche Homoerotik. Der Autor Marcel Proust war nicht so dezidiert heterosexuell wie der Ich-Erzähler Marcel, hatte er doch als 17jähriger in einem Gedicht geschrieben, er möchte »mit einem warmen Jungen schlafen (…), ich möchte seinen Geruch einatmen«. Um sich das queere Leben im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert auszumalen, greift Marcel auf seine Vorstellungen von »den ­Juden« und den »Rassen« zurück.

Diese Analogie war bei Proust nicht neu. Bereits 1908 hatte er ein Kapitel für den Essay »Gegen Saint-Beuve« mit »Die Rasse der Tunten« betitelt. In »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« beschreibt Marcel Lesben und Schwule in Analogie zur jüdischen Minderheit in Europa als eine »Rasse, auf der ein Fluch liegt«, weil sie »ihren Gott verleugnen« müssen. Die Verfolgung von Homosexuellen »gleicht« der der jüdischen Minderheit; wie die euro­päischen Jüdinnen und Juden würden sie – von Ausnahmen abgesehen – einander meiden, »bemüht um jene, die ihnen am gegensätzlichsten sind«. Während sie »zugleich leugnen, eine Rasse zu sein«, würden sie diejenigen, denen es »gelungen ist zu verbergen, dass sie dazugehören, aus eigenem Antrieb demas­kieren«.

In der Antisemitismusforschung wird seit einigen Jahren regelmäßig der Anspruch erhoben, »die Verschränkung von Antisemitismus und Sexismus zu denken«, wie es Karin Stögner in »Antisemitismus und Sexismus« fordert. In der Wissenschaft setzt sich diese Forderung allerdings kaum durch. Meike Günther weist in ihrer lesenswerten Studie »Der Feind hat viele Geschlechter« darauf hin, dass der Zusammenhang nicht nur darin besteht, dass in judenfeindlichen Darstellungen »die Jüdin« und »der Jude« ein Geschlecht haben. Seit dem 19. Jahrhundert wurde Jüdinnen und Juden nachgesagt, die »natürliche« Geschlechterordnung zu unterwandern. Die Jüdinnen sind auf antisemitischen Bildern keine »richtigen« Frauen, die Juden keine »richtigen« Männer. Wenn aber das Geschlecht bei ihnen nicht eindeutig sein soll, wie kann das Begehren eindeutig sein? Vor diesem Hintergrund, so Günther, überrasche es nicht, dass sich die moderne Judenfeindschaft zeitgleich mit der Homophobie in Europa ausbreitete. Außerdem galt zur gleichen Zeit, als Jüdinnen und Juden zu einer Rasse erklärt wurden, auch »die Homo­sexualität als rassifiziert«. Das lässt sich bei Proust nachlesen.

Die Gedanken, die sich der stockheterosexuelle Marcel macht, sind zwar zunächst von einer aufrichtigen Empathie getragen. So beschreibt Marcel schwule Männer als »Söhne ohne Mutter«, weil sie ihre eigene Mutter noch in der Stunde des Todes über ihre wahre Identität »belügen müssen«, als »Freunde ohne Freundschaften«, und er weist darauf hin, dass »manche Richter« bei ihnen »eine Mordtat leichter unterstellen«, so wie man den »Verrat bei Juden« eher glaubt. Doch sein Mitgefühl bleibt letztlich ohne Verständnis, weil ihm schwule Männer und lesbische Frauen fremd bleiben, wie von einer »anderen Rasse«.

In »Die Entflohene« kehren diese Gedanken noch einmal wieder. Albertine hat Marcel verlassen, kurz darauf erfährt er von ihrem tödlichen Unfall, und in seinen Schmerz um den unwiederbringlichen Verlust schleicht sich das Misstrauen, von ihr hintergangen worden zu sein. War sie wie eine »Spionin aus einem feindlichen Land«? Für Marcel wäre Albertine, wenn sie tatsächlich Liebesbeziehungen zu Frauen gehabt hatte, »noch heimtückischer als eine Spionin«. Denn eine Agentin täuscht die anderen »nur über ihre Nationalität (…), während es bei Albertine um ihr zutiefst menschliches Wesen ging, darum, dass sie nicht zur gewöhnlichen Menschheit gehörte, sondern zu einer fremden Rasse, die sich unter sie mischt, in ihr versteckt und niemals mit ihr verschmilzt«. So landen Marcels intimste Gedanken bei der vorherrschenden Homophobie und unterschwellig wieder bei der Dreyfus-Affäre.

 

Die »Rasse« und der Adel

Aus Marcels kursorischen Reflexionen lässt sich zwar viel herauslesen. Sie selbst als theoretische Überlegungen zu bezeichnen, wäre jedoch übertrieben. Was sich allerdings an der Figur des Erzählers zeigen lässt, ist, wie tiefgreifend der antisemitische Diskurs das Leben und Denken der Subjekte beeinflusst. Während er sich mit vollem Bewusstsein mit den verschiedenen Formen homoerotischen Begehrens beschäftigt, erfolgt die Auseinandersetzung mit der Judenfeindschaft eher beiläufig, fast unbewusst. Sie bildet auch die Blaupause für seine wiederkehrenden Gedanken über den Adel.

Marcels Faszination für »die Rasse gebildeter Fürstlichkeiten« ist von der Vorstellung getragen, dass die Herkunft, die Abstammung, das »Blut« ein Individuum definiert. Als adelig gilt in dieser Welt nicht nur eine Familienzugehörigkeit, sondern auch der feine Unterschied im Kunstgeschmack. Als Marcel das erste Mal die Oper »Phèdre« sieht, zweifelt er, ob er überhaupt in der Lage sei, den »›Adel der Interpretation‹, von ›Originalität‹« zu erleben. Der noch ungeschulte Geschmack müsse sich fragen: »Ist das schön? Ist das, was ich hier empfinde, Bewunderung? Ist dies hier Fülle des Kolorits, des Adels, der Kraft?« Marcel ist zugleich überzeugt, dass Vertreterinnen und Vertreter des Adels den erforderlichen Geschmack bereits besitzen oder jedenfalls eine besondere Veranlagung dazu in sich tragen. Mit der Bewunderung für die besonderen Menschen, die von Geburt an zu Höherem erkoren sind, ist der Erzähler nicht allein. Später, so schreibt Marcel in »Der Weg nach Guermantes«, habe er erkannt, dass »die Guermantes tatsächlich meinten, ich gehöre einer anderen Rasse an, doch einer, die ihren Neid erregte (…)«.

In den siebziger Jahren stellte Michel Foucault die These auf, dass das Bild vom Adel die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts grundlegend bestimmt habe. Dieser Vorstellung zufolge existieren innerhalb eines Staats verschiedene Familien, die um die Macht kämpfen und deren Herrschaftsanspruch jeweils durch die Geburt legitimiert sein soll. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts, so Foucault, sah sich der französische Adel nicht mehr in einer ungebrochenen Kontinuität, sondern kämpfte um die Privilegien, über die »er früher verfügt habe, die er dann verloren habe und die es wiederzuerlangen gelte«.

Dieses Bild stand Pate für den modernen Nationalismus, den Rassismus und die Biopolitik. Auf den modernen Antisemitismus ging Foucault in der Vorlesung am Collège de France nur am Rande ein, doch sei es offensichtlich, dass Juden als die »Rasse« galten, die in allen Staaten zu finden sei. In »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« klingt gelegentlich an, dass »die Juden« auf eine noch längere Abstammung pochen könnten als der französische Adel. Als sich Marcel über die Spitznamen unter Adligen empört, die »ein Zeichen des Unverständnisses der Aristokratie für ihre eigene Poesie« seien, merkt er an: Das »Judentum ist da übrigens nicht anders, so wurde etwa ein Neffe von Lady Rufus Israëls, der Moses hieß, von allen fortwährend ›Momo‹ genannt«. Es ist leicht denkbar, wie die Faszination für eine Bevölkerungsgruppe, deren Mitglieder – anders als die der Adelsfamilien – durch Geburt keinen Herrschaftsanspruch stellen, aber einen »Bund mit Gott« pflegen, jederzeit umschlagen kann in einen tiefsitzenden Neid und Hass.

 

Never-ending story

Marcel Proust starb 1922 im Alter von 51 Jahren. Zu Lebzeiten hatte er nur die ersten vier Bände von »À la recherche du temps perdu« veröffentlicht. Die drei verbliebenen Bände lagen als überarbeitete Manuskripte vor; doch es war schwer, aus Prousts Korrekturen und Ergänzungen die letztgültige Fassung zu ermitteln. Von »Die Entflohene« wurde die endgültige Fassung erst in den achtziger Jahren rekonstruiert – ­womit auch erklärt ist, warum Walter Benjamin sie in den zwanziger Jahren noch nicht übersetzen konnte.

Mit dem sechsten und vorletzten Band beginnt der abschließende Reflexionsprozess des Erzählers, der in »Die wiedergefundene Zeit« sein Ende findet. Viele Gewissheiten werden in dieser letzten Phase noch einmal erschüttert. Saint-Loup hat Gilberte Swann geheiratet, doch sein libidinöses Begehren gilt mittlerweile Männern. Für die gehobene Gesellschaft ist bereits die offizielle Verbindung ein Skandal. Die Prinzessin von Silistria verkündet, wenn Saint-Loup »die Tochter Odettes und eines Juden heirate, so sei es aus mit dem Faubourg Saint-Germain«.

Alles wandelt sich, aber der Antisemitismus verschwindet nicht. In der Tat ist »Die Suche nach der verlorenen Zeit«, wie Rainer Warning schreibt, ein Schwellentext. Einerseits liest sich der Roman wie aus einer anderen Zeit. Andererseits erlebt man bei Proust die heutige bürgerliche Gesellschaft gewissermaßen in ihren unreifen Jugendjahren, als man sich noch ungehemmter judenfeindlich äußerte, zugleich aber ein latenter Antisemitismus schon verbreitet war. Man sollte Proust lesen, wieder lesen, in der Fassung der alten Werkausgabe oder der neuen Übersetzung. Auch wenn man einige Zeit dafür braucht.

 

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: Auf dem Weg zu Swann. Aus dem Französischen und kommentiert von Bernd-Jürgen Fischer. Reclam-Verlag, Stuttgart 2013, 694 Seiten, 29,95 Euro

Ders.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 5: Die Gefangene. Aus dem Französischen und kommentiert von Bernd-Jürgen Fischer, Reclam-Verlag, Stuttgart 2015, 728 Seiten, 34,95 Euro

Ders.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 6: Die Entflohene. Aus dem Französischen und kommentiert von Bernd-Jürgen Fischer, Reclam-Verlag, Stuttgart 2016, 500 Seiten, 32,95 Euro

Georges Perec: Ellis Island. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé, Diaphanes-Verlag, Zürich/Berlin 2016, 64 Seiten, 9,95 Euro

Rainer Warning: Marcel Proust. Fink-Verlag, Paderborn 2016, 182 Seiten, 26,90 Euro